Kitabı oku: «Die Zeit berühren», sayfa 3
Bahnwärterhaus
Rheinland 1938
Die Eltern wollten, daß ich von Duisburg nach Köln eine Fahrkarte löse und mein Fahrrad per Zug befördere, und als ich dann die Brodski Brüder, David und Schlomo, am Zielbahnhof traf, waren sie erschöpft von der langen Strecke, die sie ohne mich geradelt waren. Auf dem gemeinsamen Weg rheinaufwärts legten sie schon nach kurzer Zeit eine Rast ein, entfachten hinter der Uferböschung ein Feuer, und während sie sich dort ausruhten, sollte ich auf Quartiersuche gehen.
Eine Bäuerin, die ich ansprach, wollte uns ihre Scheune nicht lassen, sollten wir doch sonstwo schlafen, und ich hatte das Gefühl, sie witterte etwas. Als sich ähnliches mehrfach wiederholte, ich wieder geringschätzig abgewiesen wurde, kam ich mir gebrandmarkt vor. Mir war, als läge Bedrohung in der Luft. Mißmutig kehrte ich zu David und Schlomo zurück, löffelte schweigend die Suppe, die sie gekocht hatten, und brauchte nichts zu erklären. »Werden wir müssen schlafen im Wald«, sagte Schlomo, und das machte mich nicht gesprächiger. Sein jiddischer Tonfall und wie er und sein Bruder die Worte verdrehten, störte mich plötzlich. Immer noch schwieg ich, und dann spülten sie das Kochgeschirr, packten es weg und löschten das Feuer. Wir radelten weiter. Gegen Abend wurde es kalt und wir froren. Der Wind pfiff, die Dynamos surrten, und das Licht der Scheinwerfer irrte über dem schmalen Flußweg. Wir bogen rechts ab auf ein Wäldchen zu, und ich hoffte sehr, dort nicht übernachten zu müssen. Aber wo sonst? Die beiden, David und Schlomo, das war gewiß, würden schon ihrer Sprache wegen nicht mehr ausrichten als ich.
»Redet nicht so verquer«, bat ich sie, »sonst landen wir nirgends und erfrieren im Wald.«
Schlomo zog die Schultern ein und betrachtete mich über die Achsel. »Wer wird reden«, fragte er. »Du wirst reden.«
Der Eisenbahner, der im Fenster des Bahnwärterhauses lehnte, sah mich lange an. »Keine Bleibe, was«, meinte er. »Drei obdachlose Judenjungen.«
Dabei hatten die Brodskis noch kein Wort gesagt. Ich spürte, daß sie mir etwas vorwarfen, fand sie im Recht und trat einen Schritt zurück.
»Wird keinen Sinn haben, hier um Quartier zu bitten«, meinte ich zu dem Eisenbahner.
Statt einer Antwort sagte er das von den drei Affen, von denen einer nichts hört, der zweite nichts sieht, der dritte nichts sagt.
»Könnt ihr es so halten?« fragte er.
Es war warm im Bahnwärterhaus, im Kanonenofen brannte knackend das Holz, und wir schliefen fest auf dem harten Boden, hörten weder den Streckenmelder noch das Rattern der Züge. Es war schon hell, als uns der Eisenbahner mit dampfendem Muckefuck weckte.
Wir tranken die Becher leer und dankten ihm.
»Drei Affen«, warnte er uns. »Ihr wißt Bescheid.«
»Werden wir es nicht wissen«, sagte Schlomo achselzuckend und stieß uns dabei an.
Der Mann stutzte. »Was soll das heißen?«
»Von uns erfährt keiner was«, versprach ich schnell.
»Besser auch«, sagte der Mann, »und nun ab mit euch.«
Er sammelte die Becher ein. Und dann radelten wir nach Köln zurück.
Wallstraße
Berlin 1979
Es war behaglich in der Wohnküche, Gespräche flossen dort leichter, dieses aber kam nur zustande, weil wir unter vier Augen waren – und es hat mich erschüttert.
War ich auch Deutschen meiner Generation stets mit Vorsicht begegnet, Johannes R. nicht. Seiner Offenheit, seines freundlichen Wesens wegen hatten sich die Grenzen zwischen uns schnell aufgehoben. Ich mochte ihn, war ihm zugetan, auch vom Äußeren war er mir angenehm – ein mittelgroßer Mann mit dichtem grauen Haar, hoher Stirn und buschigen Brauen über tiefliegenden blauen Augen, die aufmerksam, dabei nicht ohne Schalk, in die Welt blickten. Er galt als ein Graphiker, der mit sparsamsten Strichen zum Wesentlichsten vorzudringen verstand und allen Büchern, die er ausstattete, einen besonderen Glanz verlieh. Zu einem Zusammenwirken zwischen uns aber war es nie gekommen. In seinen Zeichnungen lag meist etwas Humoriges, oft auch Komisches, das zu meinen Arbeiten nicht passen wollte. Im Leben aber paßten wir gut zusammen, waren gleichermaßen gesellig und den Künsten aufgeschlossen. Auch liebten wir beide das Meer und verbrachten manch gemeinsame Woche dort.
Natürlich war er, wie fast alle Männer seines Jahrgangs, im Krieg gewesen. Nie aber hatte ich ihn mir im Einsatz vorstellen können, und seine Erinnerungen an Franzosenmädchen und norwegische Bauernfamilien, die ihn, den jungen Soldaten, wie einen Sohn aufgenommen hatten, waren mir glaubhaft erschienen – er wird auch damals schon gesellig gewesen und mochte sehr wohl in die Haut eines Franzosen geschlüpft sein, der Zivilkleider und eine Baskenmütze trug, oder in die eines rustikalen Norwegers in Kordhosen und kariertem Hemd.
An jenem Abend aber, Angesicht zu Angesicht in der Wohnküche, sah ich ihn plötzlich breitbeinig in Stiefeln vor mir, Johannes R. in Wehrmachtsuniform, neunzehn Jahre jung und mit der Maschinenpistole im Anschlag – und zwanzig Meter vor ihm stürzen Männer, Frauen und Kinder in die Gräben von Babi Jar.
Warum beichtet er, preßt er sich, aschfahl im Gesicht, jene grauenvollen Erinnerungen von der Seele, und warum hat er in all den Jahren geschwiegen?
Die Fragen stehen mir in den Augen und er erkennt sie.
»Weil ich nicht länger schweigen kann«, beteuert er. »Und du sollst wissen, ich war nicht freiwillig dort, es war Befehl. Aber keiner konnte mir befehlen, daß ich irgendwen töte. Glaub mir das! Meine Kugeln gingen über die Köpfe.«
Wenige Wochen später verstarb Johannes R. an Krebs im Krankenhaus – und hat meine Zweifel an seinen Worten mit in den Tod genommen.
Herz Jesu Fehrbelliner
Berlin 1989
Freitagabend war es, dunkel längst im November, als ich vor einem plötzlichen Regenguß Zuflucht suchte. Ich sah mich um, im matten Licht glänzten milchig die Fenster der Herz Jesu Kirche, schwach hörte ich Orgelklänge und Gesang, und als ich eintrat, mich leise dem Altar näherte, war ich einbezogen in die Messe. Der Pfarrer bemerkte mich gleich und seine Blicke blieben wohlwollend, auch als ich mich nicht bekreuzigte, nicht betend niederkniete, und es mochte sein, daß er meinetwegen Worte von der Güte und Gerechtigkeit des Herrn gegen jedermann in seine Predigt fügte. Was er noch sagte, drang nicht in mich ein. Zu beziehungslos schien es mir zu den Ereignissen, die das Land erschütterten. Als die Gebete gebetet, die Lieder gesungen waren und ich den Pfarrer den goldenen Kelch hoch emporheben sah und wie er den alten Frauen und Männern, die zur Heiligen Kommunion gekommen waren, vom Leibe Jesu gab, war er mir fremd und fern. Längst hatte er mir seine Anteilnahme entzogen und wie von weither nur berührte mich jetzt die Messe. Bald schon verebbten die Orgelklänge unter dem hohen, steinernen Gewölbe, und ehe noch der Kirchendiener die Kerzen gelöscht und den Kelch fortgetragen hatte, war die kleine Schar der Gläubigen gegangen.
Ich aber blieb. Gebannt vom Anblick einer jungen Frau, die noch immer inbrünstig betete, blieb ich halb verborgen von einem Pfeiler in der Kirche zurück. Sie war eine schöne Frau mit blondem, hochgestecktem Haar über wohlgeformter Stirn, ihr Mund war wohlgeformt, und ihre Augen, die jetzt sehr dunkel wirkten, blickten nach innen. Lange hielt sie die Augen mit den Händen verdeckt und senkte dabei den Kopf. Jetzt aber kniete sie aufrecht und mit erhobenem Kopf, die gefalteten Hände vor die Brust gepreßt. Und weil die Zeiten waren, wie sie waren, sah ich unter den Tausenden, die seit dem Sommer außer Landes geflohen waren, einen ihr nahestehenden Menschen, die Tochter, den Sohn, den Mann, glaubte zu ahnen, daß sie sich selbst mit dem Aufbruch ins Ungewisse trug.
Weit hinter uns waren die Schritte des Kirchendieners zu hören und daß eine Tür ins Schloß fiel, und weil ich fürchtete, sie würde aufblicken und mich sehen, ging ich schnell davon. Sie abzupassen und zu befragen, verbot sich, und doch ist mir, als wüßte ich, was sie so insbrünstig beten ließ.
Knokke
Belgien 1929
Die Anrede »kleiner Mann« war mir schon vor meinem fünften Jahr geläufig, und spätestens seit jenem Sommer, als ich in Madonnas Obhut war, hielt ich ihn für treffend. Sie war achtzehn, zierlich, mit großen braunen Augen und braunem Haar, war mein Kindermädchen und ich nannte sie Donna. Ich wollte nicht, daß man sie für mein Kindermädchen hielt – hätte aber nicht sagen können, für was sonst. Ich fand sie schön und es paßte mir, daß ich erkrankte und sie mich, während die Eltern sich am Strand oder auf der Promenade des Seebads ergingen, im Hotelzimmer betreuen mußte.
Draußen strahlte die Sommersonne. Ich lag im Bett bei der offenen Verandatür und sonnte mich. Das Fieber plagte mich weniger als daß da ein Gitter war zwischen mir und Donna, ein Dutzend weiße Holzlatten, und ich wünschte sehr, sie möge das Gitter herunterklappen. Sie tat es nicht und sicher entging ihr, daß ich deswegen schmollte.
Bald hörte ich nicht mehr hin, mochte sie auch noch so anheimelnd aus dem Märchenbuch lesen, mir ihr französischer Tonfall noch so melodisch in den Ohren klingen. Ich wollte das Gitter entfernt haben. Wie aber sollte ich das begründen? Verstohlen probierte ich, ob sich ein Fuß zwischen die Latten zwingen ließ. Es schmerzte, doch es gelang. Und mit dem Fuß berührte ich Madonnas Knie. Weil sie es duldete, hörte ich bald gar nichts mehr, gingen mir die Märchen völlig verloren. Wonniglich ließ ich meinen Fuß, wohin ich ihn geschoben hatte, und spürte ihre samtweiche Haut überm Strumpf. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich wünschte, Donna würde ewig auf dem Stuhl bei meinem Bett bleiben.
Als zur Mittagszeit die Zimmertür sich öffnete und die Mutter eintrat, klappte Madonna das Märchenbuch zu, als wäre sie bei etwas ertappt worden. Ich wollte meinen Fuß retten und fand mich im Gitter gefangen. Madonna war errötet, das aber hatte nur ich bemerkt. Sie wirkte sehr kühl, als sie der Mutter half, mich aus dem Gitter zu befreien – erst die Ferse, dann den ganzen Fuß.
»Was du bloß anstellst«, sagte die Mutter.
Ich aber antwortete nicht und war dankbar, daß auch Madonna schwieg.
Gorkistraße
Moskau 1955
Moskau, Hotel Moskwa am Roten Platz, mit der Stalinbüste im Foyer, viel Marmor und Plüsch, geräumig und wohnlich aber das Zimmer mit der Aussicht auf den Kreml und die Kathedrale – und rührend besorgt die Dolmetscherin Mariam, ein zierliches Wesen mit schwarzem Kraushaar und dunklen Augen. War ihr nach zwei Wochen eifrigster Bemühungen abzuschlagen, daß sie sich diesen Montag freinahm? Ihr Mann verreise für lange Zeit ins Ausland und sie wolle ihn zum Zug bringen. »Tun Sie das getrost«, sagte ich ihr, ohnehin hätte ich eigene Pläne für den Tag und käme zurecht.
An Rubel mangelte es nicht, ich hatte im Rundfunk gesprochen, in Zeitungen veröffentlicht, der Taxifahrer aber war weder mit Geld noch guten Worten zu bewegen, mich zu der Adresse zu befördern, die laut Auskunft in der Rezeption weit außerhalb der Stadt lag. Er gab mir meinen mit kyrillischen Buchstaben beschriebenen Zettel wieder und zeigte in die Gorkistraße. Für die kurze Strecke lohne es sich nicht, den Motor anzulassen. Verwundert machte ich mich auf den Weg und noch verwunderter nahm ich wahr, daß ich mich jetzt in Begleitung eines jungen Mannes befand, schmächtig, mit schütterem Haar und flinken Augen, der sich als Tolja vorstellte und mir seine Hilfe anbot. Gleichzeitig sei auch ihm geholfen, denn er wolle sich in Englisch üben.
Warum nicht, dachte ich, und zusammen hielten wir in der Gorkistraße nach dem Mietshaus Ausschau, in dem die Tochter eines russischen Musikers leben sollte, der vor Jahren in Australien Asyl gesucht hatte. Wortreich wies uns ein altes Mütterchen den Weg durch ein Labyrinth von Gängen bis hin zu einer Tür, an die wir klopften. Ein blasses Mädchen im Trauerkleid öffnete vorsichtig die Tür und ja, sie sei Sonja Rabinowa, die Tochter Maxim Rabinows. Sichtlich verunsichert ließ sie uns ein und führte uns zu dem Eckchen in einem Zimmer, das für sie abgetrennt war. Kleidungsstücke hingen an Haken, eine Liege und ein Stuhl füllten den Raum. Sie bot mir den Stuhl an, nahm selbst auf der Liege Platz, während Tolja mit dem Rücken zur Trennwand wartete. Nur allmählich begann sie mich über ihren Vater zu befragen, erst in Russisch, was Tolja übersetzte, dann in stockend aus dem Gedächtnis geholtem Englisch, und immer richtete sie sich an uns beide – wie dankbar sie sei, daß wir ihr die Grüße brachten, wir uns die Zeit dafür genommen hätten. Natürlich habe sie den Vater nie vergessen können, sei froh, daß es ihm gut ging und wenn doch nur die Mutter das alles vor ihrem Tod noch hätte erfahren können. »Sie hat ihm nie verziehen«, sagte sie, noch immer ihre Worte an uns beide richtend, und dann entschuldigte sie sich, daß sie nichts anzubieten habe, uns nicht bewirten könne, aber leider – wir sähen ja. Als ich ihr vorschlug, mich zurück zum Hotel zu begleiten, dort lägen noch Fotos und auch ein Brief ihres Vaters, willigte sie mit einem Blick auf Tolja ein, und es schien ihr unumgänglich, daß er mitkam.
Mich störte er inzwischen. Mir war, als verängstige er sie, schüchtere er sie ein, wußte aber nicht, wie wir uns ihm entziehen sollten, und es wunderte mich nicht wenig, als er sich erbot, im Hotel-Foyer zu warten, während ich Sonja die Fotos und den Brief gab. Wieder warf sie ihm diesen Blick zu und ich spürte, daß sie mich nur unwillig nach oben begleitete. Während ich nach dem Brief und den Fotos suchte, läutete das Zimmertelefon und Tolja meldete, daß im Speisesaal das Essen bereit stünde. Ich lud Sonja dazu ein, sie aber lehnte verstört ab. Nein, nein, das ginge nicht. Schnell noch dankte sie mir für meine Mühe – und floh.
Mir wollte das Essen nicht schmecken, nicht im Beisein von Tolja, der sich dazu eingeladen hatte. Wie kam er dazu, fragte ich mich, und als er wieder seine Sprachübungen anführte und die günstige Gelegenheit dafür, schnitt ich ihm das Wort ab.
Er atmete tief und blickte bekümmert. Womit er mich verstimmt hätte, er habe doch nur sein Bestes getan, und dann beklagte er die Kluft zwischen unseren Welten, die so tief sei, daß sich selbst Gleichgesinnte nicht mehr verstünden – und Gleichgesinnte, das seien wir doch wohl.
Was sollte ich dazu sagen? Als Gast im Lande meinte ich, mich den Gepflogenheiten fügen zu müssen. Als aber am folgenden Tag Mariam fehlte und ich herausbekam, daß sie wegen Pflichtverletzung entlassen worden war, wuchs sich mein Unmut gegen Tolja zu Zorn aus, und der legte sich selbst dann nicht, als mir Boris Polewoi in die Hand versprach, daß Mariam wieder eingestellt werden würde.
Er hat Wort gehalten. Aber Tolja und alle Toljas blieben mir seitdem ein Greuel.
Maramures
Rumänien 1969
Unten im Hof wurden Stimmen laut und vom Fenster aus sahen wir den Mann seine Frau hart ins Gesicht schlagen. Er war Bauer wie alle im Dorf, Parteisekretär, und wie alle im Dorf schmuck in weißer Tracht und schwarzem Hut, jetzt, in den Feiertagen des späten Oktober. Er schlug zu mit schwieliger Hand und die Frau schrie, und als er zum Fenster hochblickte, ahnten wir, daß er sie bestrafte, weil sie uns über seinen Kopf das Zimmer überlassen hatte. Wir sahen ihn im Haus verschwinden, hörten ihn die Treppe hochpoltern, er brach ins Zimmer ein, griff sich unsere Koffer und trug sie nach unten. Wir fanden sie vor der Haustür wieder und mußten sehen, wo wir blieben. Bert fiel die Kirche ein, mir nichts Besseres, und es zeigte sich, der Pfarrer sprach deutsch, und weil es ihm in deutschen Landen wohl ergangen war, ließ er uns in der Sakristei ein Lager aufschlagen, zwei Matten unterm Kruzifix. Es dunkelte schon, als wir hinausgingen, um uns umzusehen, und das Dorf schlief. Die Häuser schimmerten weiß in der Nacht und nur fernab, hinterm Dorf, brannte einsam ein Licht. Es war kalt und wir schritten schnell aus auf der Landstraße, und bald schon war zu erkennen, daß das Licht aus einem kleinen Holzhaus drang. Drinnen ging es laut zu, grölender Gesang war zu hören, und als wir eintraten, packten uns die Bauern und luden uns ein zu süßlichem Schnaps, der schnell zu Kopf stieg. Der Wirt goß die Becher randvoll und eine Weile hielten wir mit. »Deutsche Soldaten, gute Soldaten«, brüllten die Bauern, und obwohl Bert in der Wehrmacht gewesen war, paßte ihm das so wenig wie mir. Bald schon kippten wir jede neue Lage heimlich auf den Lehmboden – von denen hier wollten wir uns nicht unter die Theke saufen lassen. Ihr Lob der deutschen Soldaten hatte uns wortkarg gemacht.
Und dann, in all dem Krach, sagte plötzlich Bert: »Dreh dich um, da steht ein Mensch.« Im Türrahmen sah ich einen Mann, hochgewachsen, verhärmt und mit gebeugten Schultern. Die Kleider schlotterten ihm am Leib. Unter der tief in die Stirn gezogenen Schirmmütze blickten dunkle Augen. Die gebogene Nase wirkte groß in dem zerfurchten Gesicht. In der Hand trug er eine Laterne, die unruhige Schatten warf. »Versuch es«, sagte Bert. »Sprich mit ihm«, und ich bat ihn zu uns in dürftigem Jiddisch. Das ließ ihn aufhorchen, doch es dauerte, bis er antwortete: »Wenn Sie können Jiddisch, werden Sie da müssen fragen?« Er bestätigte, daß er im Lager gewesen war, von den Nazis verschleppt wie alle Juden im Dorf. Fünfundzwanzig Jahre schon mache er seitdem den Nachtwächter hier.
Die Bauern hatten sich abgewandt, sie verstanden ihn nicht, und überhaupt, warum zum Teufel gaben sich die zwei Deutschen mit diesem Juden ab.
»Heiß ich Nathan«, sagte der Mann. »Bin ich alt, siebzig Jahre, was bleibt mir noch vom Leben. Hab ich gewartet all die Jahr, und ist sie gekommen die Frau, sind sie zurückgekommen die Söhne? Keiner ist gekommen, allein bin ich im Dorf. Muß ich sterben, will ich sterben in Israel.«
Sein gutes Recht, dachte ich, und daß es von Maramures nach Bukarest nicht weiter war als von dort nach Tel Aviv.
»Ist nicht weit«, sagte er, als habe er meine Gedanken erraten. »Hab ich gespart und werd ich haben das Geld. Aber werden sie mich lassen fahren?«
Er sah uns an, erkannte, daß wir nicht helfen konnten, und dann nahm er wortlos die Laterne und ging hinaus auf die Straße. Wir blickten ihm nach, bis das Licht nur noch ein ferner Punkt im Dunkel war, und dann gingen auch wir.
Tortola
Karibik 1987
Für die paar Whiskys und gute Worte über meine Jahre zur See hatte mich am Hafen von St. John der Kapitän gegen alle Regeln auf dem Küstenfrachter versteckt, und nur eine Stunde nach dem regulären Fährschiff legten wir bei der Insel von Tortola an. Bis dahin hatte ich wenig gesehen, die Bullaugen des Laderaums, den ich nicht verlassen durfte, lagen nur knapp über der Wasserlinie, jetzt aber, an Land, sah ich viel – Strand und Palmen und grüne Berge im goldenen Licht der Mittagssonne. Es war heiß und außer der Mannschaft regte sich niemand am Pier, der kleine Hafen lag verlassen, und vor mir der einsame Schwarze an der Sperre, ein schmächtiges Kerlchen ganz in Weiß, mußte mit dem Fährschiff gekommen und seitdem hier aufgehalten worden sein. Es sah aus, als würde auch ich aufgehalten werden, denn noch immer beschäftigte sich der Grenzbeamte mit ihm. Der Schwarze plädierte und plädierte, allmählich aber wurde er leiser, seine Gestik verhaltener. Er schien sich zu fügen und bereit, ein Schiff abzupassen, das ihn zurückbefördern würde, wo er hergekommen war. Doch dann besann sich der Beamte. Er machte einen Eintragung in den Paß des Mannes und belehrte ihn. Der nahm das mit gebeugtem Kopf hin. »Und lassen Sie sich sagen«, schloß der Beamte, »Tortola ist nicht für Leute wie Sie, und sollten wir Sie noch mal erwischen, werden Sie grau sein, ehe Sie die Sonne wiedersehen.«
»Yes Sir!« sagte der Schwarze.
Der Beamte setzte seinen Stempel unter den Vermerk im Paß. Der Mann ging und ich rückte vor. Bald fand auch ich mich auf dem sandgelben, öden Platz vor den Güterschuppen am Hafen. Der Weg in die Berge führte am Polizeirevier vorbei zu einer Reihe von Läden und dem Postamt. Die Sonne stand steil im wolkenlosen Himmel und es war, als tauchte ich in eine Glut. Der Schwarze irrte auf dem Platz umher wie ein Insekt unter einer Glocke. Im Schatten einer Palme parkte ein Taxi und ich verhandelte mit dem Fahrer über den Preis zu Raymonds Gasthaus, und als der Schwarze erklärte, er wolle auch dorthin, halbierte der Fahrer die Summe. Ich war schon eingestiegen, da pfiff es plötzlich schrill über den Platz. Jäh wandte sich der Schwarze um, und dann sahen wir zwei Uniformierte vom Polizeirevier auf uns zukommen. Der Schwarze erstarrte, blickte flehentlich zum Fahrer, der schüttelte den Kopf und ließ den Motor nicht an. Schon waren die Uniformierten am Taxi. Einer packte den Schwarzen, und noch ehe er seinen Paß zeigen konnte, war er festgenommen. Die Handschellen blinkten in der Sonne, als sie ihn abführten. Der Fahrer schwieg, ich schwieg, und beide sahen wir den Mann zwischen den Polizisten im Revier verschwinden. Von hinten sah er noch schmächtiger aus, irgendwie geschrumpft, und es war, als schleiften sie eine Stoffpuppe durch die Tür.
»Pech«, sagte der Fahrer und setzte den Preis neu fest.
»Eine freundliche Insel«, ließ ich ihn wissen.
»Mag sein, oder auch nicht«, sagte er. »Kommt immer drauf an, was einer hier einschleppt.«
»Zum Beispiel?«
»Mann«, sagte der Fahrer, »fragen Sie das nicht. Ist nie gut, wenn einer zuviel fragt.«
Und in zehn Tagen auf Tortola in der Sonne erfuhr ich nicht, warum sie den Schwarzen eingesperrt hatten – ging es um Rauschgift oder was sonst?