Kitabı oku: «Der letzte Tag»

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Walther Nithack-Stahn

Der letzte Tag

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Impressum

I

Um den runden Tisch die ernste Gemeinde in tiefem Schweigen. Jedes Mannesantlitz blaß, überwacht, die Stirnen gefaltet. Müde erstirbt das gelbliche Deckenlicht gegen den seltsamen Glanz vor den Fenstern. Die Uhr an der Wand streckt ihre Zeiger wie mahnende Finger nach oben.

Nun regt sich der mit dem weißfließenden Barte: »Stellen Sie, bitte, fest, daß niemand lauscht.«

Archibald, der junge, erhebt sich in seiner ganzen Höhe, öffnet die Tür, verneint und setzt sich wieder.

»Ich brauche, meine Herren, Ihnen kaum noch einmal zu sagen, welche schlechthin beispiellose Verantwortung auf uns gelegt ist. Ich weiß, daß Sie mit Anspannung aller Sinne und aller Vernunft geprüft haben. Was zu wissen in Menschenkraft steht, ist eingesetzt worden. Die Zeit drängt, das Ergebnis herauszustellen. Wollen Sie zusammenfassen.«

Die Hände über den beschriebenen Blättern gefaltet, sagt Archibald kurz: »Der neue Stern nähert sich noch immer der Sonne mit einer Geschwindigkeit von wenigstens hundert Kilometern in der Sekunde. Da seine Richtung der Sonnenbahn entgegengesetzt ist, beschleunigt sich die Annäherung um ein Drittel. Dazu kommt, daß die Anziehungskraft der Sonne sich immer stärker geltend machen muß, so daß der Zusammenstoß in kurzem droht. Man darf mit etwa sieben Tagen rechnen. Abgesehen von hochgradig gesteigerter Sonnentemperatur, die das Leben der Erde vernichten muß, ist anzunehmen, daß der Umlauf unseres Planeten zerstört und auch er in die Sonne gezogen wird.«

Man hört das leise Ticken der Uhr, sonst nichts.

»Wie lauten die letzten Meldungen der ausländischen Sternwarten?«

»Im wesentlichen gleich. Kalifornien berechnet die Frist auf sechs Tage, Peru auf siebeneinhalb, die übrigen innerhalb dieser Grenzen.«

Wiederum lautloses Schweigen.

»Meine Herren, wir müssen zum Schlusse kommen. Der Kanzler drängt darauf. Sie wissen, daß die Regierungen aller Erdteile sich geeinigt haben, sofort nach Empfang des wissenschaftlichen Urteils eine gemeinsame Kundgebung an die Völker zu erlassen, entweder sie zu beruhigen oder auf das Unabänderliche vorzubereiten.«

»Warum nicht in jedem Falle das erstere tun?« Der Sprecher streicht sich das dunkle Haar aus der Stirn, und über die Adlernase blicken kühle Augen. »Liegt denn das Menschengeschlecht im Sterben, was nützt es, ihm das zu sagen? Sein Dasein ist Kampf und Not gewesen von Anfang her – mache man ihm das Ende leicht. Nach aller Wissenden Vermutung wird es schnell und vernichtend kommen. Vorbereiten heißt nur, das Leiden verlängern.«

Der gegenüber, der wie ein feinsinniger Priester aussieht, lehnt sich in den Sessel zurück. »Könnte nicht eine Bedenkzeit angesichts des Gesamttodes edleren Zwecken dienen? Gäbe es nicht manche letzte Folgerung zu ziehen?«

»Mir graut vor diesen Folgerungen«, klingt es zurück. »Denken Sie an Feuersbrünste und scheiternde Schiffe, stellen Sie sich das im Riesenmaß vor!«

»Dieser Vergleich trifft nicht zu. Hier ist keine Aussicht auf Rettung, nichts als allgemeiner, restloser Untergang.«

»So spricht ein Denker von der Höhe herab. Sie kennen das Gewimmel der Tiefe nicht, das sich Menschheit nennt.«

»Ich rühme mich dessen, daß ich unser Geschlecht höher einschätze. Es hat in seinem kurzen Dasein Großes erreicht, Größeres gewollt. Es ist seiner würdig, in sein letztes Schicksal nicht hineinzutaumeln, vielmehr es bewußt im Sinne seiner erhabensten Geister auf sich zu nehmen.«

Der Weißbärtige unterbricht das Zwiegespräch: »Mir scheint, daß die Herren unsere Aufgabe mißverstehen. Was der Völkergemeinschaft mitgeteilt werden soll, ist der Regierenden Sache. Die unsere ist, ihnen zu sagen, wovon wir nach bestem Wissen überzeugt sind – nicht mehr, nicht weniger.«

»Nun denn, so ist die Würde der Wissenschaft uns anvertraut«, sagt scharf die Stimme des mit der goldenen Brille. »Ihr letztes Wort darf nur das des unbedingten Mutes zur Wahrheit sein. Wir haben nicht zu fragen, was darauf folgen mag – schlechterdings nur, was ist.«

Kopfnicken und halblaute Zustimmung im Kreis.

Archibald, der mit verschränkten Armen zur Decke geblickt hatte, sagt plötzlich, ohne seine Haltung zu verändern: »Obwohl der Jüngste in dieser Runde, kann ich nicht anders, als die Grundlage dieser ganzen Erörterung anzweifeln. Sie haben mich beauftragt, die Summe Ihrer Feststellungen über den neuen Stern zu ziehen. Ich habe das getan, aber ich muß ein Fragezeichen dahinter setzen. Ein geringfügiger Beobachtungsfehler kann das ganze Gebäude dieser verwickelten Berechnung über den Haufen werfen.«

Die starre Linie der Rundumsitzenden gerät ins Schwanken.

»Seit sieben Monaten ...«, »unausgesetzt ...«, »durch hundert Fernrohre aller Erdteile ...«, »so viele zuverlässige Forscher ...«, »fast völlige Übereinstimmung ...«, »in der Hauptsache klar ...«, schwirrt es durcheinander.

Archibald faßt noch immer die leuchtende Schale ins Auge, die wie ein Dankopfer an das ewige Licht an Ketten hoch über dem Tische schwebt. »Es wäre nicht das erstemal, daß ein gemeinsamer Gedanke aller besten Köpfe – Irrtum wäre. Könnte nicht auch ein Wunder geschehen?«

Steigende Wogen der Unruhe.

»Wunder? Was heißt das? Sagen Sie das im Ernst?«

Der Bebrillte streicht sich über den spitzen Kinnbart. »Nehmen Sie an: zwei Dampfwagenzüge fahren sich mit voller Kraft auf demselben Gleise entgegen, die Führer sind abgesprungen, die Entfernung beträgt noch 20 Meter. Halten Sie es für möglich, daß sie einander nicht treffen?«

»Nicht für unmöglich. Es sei denn, daß ich alle Möglichkeiten des Weltalls wüßte.«

»So nennen Sie Wunder alles, was wir noch nicht wissen?«

Über dieses »noch nicht« entsteht ein erstes Lächeln auf den tiefernsten Gesichtern. Archibald wirft dazwischen: »Ich meine das schlechthin Unzugängliche.«

Worauf der greise Wortführer neben ihm: »Es ist selbstverständlich, daß unser Gutachten, wie jedes Urteil der Wissenschaft, nur mit hoher und höchster Wahrscheinlichkeit rechnet. Wir sagen nicht, daß etwas geschehen muß, wir sagen: es wird geschehen. Um dem eben erhobenen Einwand zu begegnen, schlage ich vor, daß wir unsrer Erklärung hinzufügen: ›Menschlicher Voraussicht nach‹ ...«

»Überflüssig!« ruft die hohe Stimme des Spitzbärtigen. Der Priesterliche nickt ihm zu. Einer sagt: »Es wäre gewissenhafter.« Und die Gebärden der übrigen deutend, schließt der Vorsitzende Alte: »Ich werde also den Fernspruch in dieser Form nach London ergehen lassen, wo die Weltabstimmung erfolgt. Von dort wird er noch heute an die Regierungen gelangen. Diese beschließen während der Nacht, morgen früh ist die Kundgebung.«

Alle haben sich mit ihm erhoben.

»Noch einmal bitte ich, meine Herren, das Stillschweigen bis dahin zu wahren. Ich rechne es zu den leuchtendsten Beispielen menschlicher Pflichterfüllung, daß – nach der Presse aller Länder zu schließen – bisher aus den geheimen Beratungen der Sternkundigen nicht das geringste nach außen gedrungen ist. Auch in dieser Hinsicht darf die Wissenschaft mit ruhigem Stolz ihre Arbeit einstellen. Was uns an Zeit noch bleibt, gehört dem Einzelnen und seiner Menschlichkeit. Sollte ich wider Erwarten noch einmal Ihres Beirates bedürfen, so weiß ich, daß ich Sie rufen darf. Wir sind am Ende ...«

Es scheint, als wollte er noch etwas hinzusetzen, aber er atmet nur tief auf und drückt den Umstehenden die Hand, Auge in Auge senkend.

Archibald, halb in Gedanken, will eben zu seinem Nachbar sagen: Leben Sie wohl ..., plötzlich hält ihm das Gefühl der Sonderbarkeit die Zunge fest, er grübelt dem Unausgesprochenen nach ... Er tritt durch die seitliche Glastür auf den Umgang hinaus und lehnt sich auf das Geländer. Drüben glüht aus Morgennebeln die rötliche Sonne, schräg über ihr gleißt seltsam der fremde Stern, schon ein Zehntel ihrer Größe erreichend: der Feind, der drohend herannaht, von Millionen Augen Tag und Nacht verfolgt, ausgesandt von dunklen Gewalten, eine Welt des Lebens zu zertrümmern, die ihn ohnmächtig erwartet. Noch bemerkt man auf Erden nichts Absonderliches. Da liegt in der Ferne die große Stadt im Frühdunste, eben erwacht. Rauchfahnen quellen aus dem Säulenwald der Fabriken, auf allen Seiten kriechen die Bahnzüge heran, mit Arbeitskräften gefüllt. Dort zieht ein Pflüger bedächtig seine Furchen für die Saat der Zukunft, irgendwo zwitschert eine Lerche ihr Liebeslied, und hier tanzt ein buntscheckiger Falter lustig den Garten hinunter, sein Eintagsleben zu genießen.

Aber den Waldweg hinab, der von dieser Hochburg der Forschung zu Tal führt, schreiten die dunklen Gestalten all der berühmten Männer, der Wissenden, die soeben dieser sonnigen Welt das Todesurteil gesprochen haben, das furchtbare, sie selbst vernichtende, gegen das es keine Anrufung gibt auf Erden noch im Himmel. Langsam bewegen sie sich, wie gedrückt von der Last unerbittlicher Wahrheit; hier und da bleiben zwei im Gespräch stehen, als besännen sie sich noch einmal, wollten umkehren, ihr Wort zurücknehmen – und gehen weiter ...

»Gehen Sie nicht auch?« sagt eine freundliche Stimme hinter ihm.

»Nein, Herr Professor.«

»Ich bleibe gern allein hier oben, bis zuletzt – ein alter Mann, der nichts zu verlieren hat als einen armseligen Lebensrest. Dagegen Sie ... Ihre Braut hat ein Anrecht –«

Archibald reckt sich und dehnt die Brust. »Was sind von nun an Rechte? Zudem: wir haben vielleicht unser wichtigstes Amt noch vor uns. Wir sind dem Matrosen im Mastkorb gleich, der zuerst die tödliche Klippe sieht – oder das rettende Land.«

»Sie glauben noch immer?«

»Ich glaube weder, noch weiß ich. Lassen Sie uns der Sterne warten.« Er steigt in die mächtige Kuppel hinauf und bohrt das Auge angestrengt in das winzige Glas am Riesenrohr. – Dann sitzt er und rechnet – rechnet.

»Die Entfernung nimmt weiter ab. Es scheint doch ...«

*

Nächster Tag. Unsichtbar fluten die Ätherwellen, da und dort aufstrudelnd zu weiten und immer weiteren Ringen, rund um den Erdball, durchschneiden, verschlingen sich, wecken heimliche Töne. Noch immer wenigen Ohren vernehmbar. Hin und her fliegt Wort und Antwort.

Auf der einen Erdhälfte nächtliches Dunkel, über der anderen trübes Licht. Wolkenheere jagen über den Himmel, hier und da flammen Feuer auf, rollt es drohend, wallen die Wasser herab. Nur selten, in blauen Lücken tauchen die beiden Sonnen auf zu kurzer Beobachtung.

Schon zeigen die Uhren fast auf Mittag, und noch ist nichts verlautbart, was die Gemüter schrecken oder trösten könnte. Zwar geht es wie verstohlenes Summen durch die Lande, seit Monaten, als zuerst von dem Irrstern die Rede war, über den die Gelehrten sich stritten, den das Auge des Laien kaum bemerkt haben würde, so unscheinbar war er noch. Zeitungen hatten ruhige Erörterungen gebracht, wie man über eine Naturmerkwürdigkeit spricht, Witzblätter einen Zusammenstoß des himmlischen Herumtreibers mit der Mutter Sonne ausgemalt. Dann, vor einigen Wochen war alle öffentliche Besprechung der Sache plötzlich verstummt: die Forscher in aller Welt seien beschäftigt, das Rätsel aufzuklären, man werde hören ...

Manch Neugieriger sah wohl morgens, wenn er das Fenster öffnete, einmal nach oben, ob sich da etwas verändert habe; auf freien Plätzen standen Gruppen, die durch berußte Gläser hinaufstarrten, es gab Klugschwätzer ... am Ende, was nützt das? Man hat mehr zu tun und geht seiner Arbeit nach.

*

An seinem Schreibtisch unruhig der Kanzler. In kurzen Pausen knurrt vor ihm der Fernsprecher wie ein lauernder Dämon, öffnet sich die Tür zu dem Saale, wo die Minister und Räte mit gedämpften Stimmen verhandeln. Boten kommen und gehen. – Endlich erhebt sich der Kanzler und tritt in die Versammlung ein: »Meine Herren, die beiden kriegführenden Seemächte weigern sich noch immer, irgendeinen Entschluß zu fassen, Eine jede erklärt: solange eine zweifellose Gewißheit über das angeblich bevorstehende kosmische Ereignis nicht bestehe, sei sie nicht gesonnen, die Möglichkeit ihres Sieges aufs Spiel zu setzen, indem sie die Kampfstimmung ihres Volkes gefährde. Sie könne das nur, sofern der Gegner ein Gleiches tue. Beide Mächte ersuchen dringend, die Bekanntgebung des Gelehrtenspruchs noch um einige Tage hinauszuschieben.«

Aufsteigender Unwille in der Versammlung. »Welche Zeit ist jetzt noch zu verlieren? Was sind jetzt Tage?« murrt es.

Der jung-feurige Minister für Volkserziehung bittet ums Wort. Er hat das Augenglas fallen lassen, wie immer, wenn er in Eifer spricht.

»Meine Herren, die Völkergemeinschaft war noch nie in einer so günstigen Lage, einen Krieg ohne gewaltsamen Eingriff mit einem Schlag zu beenden. Die Kriegführenden sind in unsrer Hand. Auf rein geistigem Wege können wir Frieden schaffen. Ein Wort von uns, und die Waffen sinken. Wir brauchen es nicht einmal an die Regierenden zu richten. Die Empfangsstationen ihrer Länder werden es aufnehmen. Trotz aller Verbote werden Menschen es fortpflanzen, mit unmeßbarer Geschwindigkeit wird es die streitenden Völker durcheilen. Angenommen – womit wir als mit einer noch so entfernten Möglichkeit rechnen müssen –, die Forscher hätten sich geirrt, so stände die Tatsache, daß ein starkes Menschheitsgefühl eine Völkerfehde zum Schweigen gebracht, für alle Zeiten fest.«

Der graubärtige Minister des Innern hat die Hand erhoben.

»Ich bitte, Herr Amtsgenosse.«

Die leicht bebenden Hände auf den Tisch gestützt, steht jener, vornüber geneigt. Langsam, grüblerisch spricht er: »In diesen Nächten, die wir wohl alle schlaflos verbrachten, habe ich immer wieder mit einer Frage gerungen. Nicht mit der, die auch dem Herrn Vorredner noch Frage ist: ob wir wirklich am Ende sind. Die furchtbare Last der Antwort habe ich nicht zu tragen, ich wälze sie den Sachverständigen zu. Wie ich selbst mich auf ein solches Schicksal rüste, ist meine Sache. Aber dies ist heute meines Amtes, mitzuentscheiden, ob mein Volk, ob die Völker diese Botschaft empfangen sollen. Ich sprach soeben mit einem unserer Astronomen – er war glücklich, diese letzte Frage nicht lösen zu müssen. Sie ist in der Tat die schwerste, die seit Bestehen der Menschheit einer Gemeinschaft obgelegen hat. Der Erfolg, den der Minister für Volkserziehung von der Kundbarmachung erhofft, die Beilegung eines Krieges, versinkt vor den möglichen anderen Folgen. Meine Phantasie erlahmt, sooft ich versuche, sie mir auszumalen. Soweit ich Menschenkenner bin, scheint mir: wir sind nicht reif für solche Botschaft. Mögen viele einzelne sie ertragen, das Ganze erträgt sie nicht. Man mag bedauern, daß uns nicht hunderttausend Jahre Frist gegeben sind – vielleicht, wir wären so weit. Heute gleichen wir dem schwachmütigen Sterbenden, dem der Arzt sein Los verschweigen muß. Darum mein Antrag: Bekennen wir, der Wahrheit gemäß, daß wir nichts wissen, auch die Weisesten nicht. Warten wir der Dinge, die wir nicht ändern können.«

Einer hebt ein Schriftstück: »Hier steht ja, daß wir nicht wissen. Menschlicher Voraussicht nach ...«

Der Minister für Volkserziehung, erregt: »Ich male mir allerdings andere Folgen unseres Verhaltens aus. Schweigen können wir nicht. Seit Wochen erwarten die Völker von denen, die sie zu ihren geistigen Führern bestellt haben, Aufklärung über das Weltereignis. Wir haben der Presse verboten, darüber zu schreiben. Um so mehr wächst die Spannung, das Raten und Fragen. Jetzt gilt es ein offenes Wort. Feige, wenn wir es verhehlen, unweise dazu. Denn nur eines ist unerträglich: die Unsicherheit. Wahrheit ist immer befreiend. Sie lautet nicht so, daß wir nichts wissen. Sie besagt mit höchster Wahrscheinlichkeit, daß das Ende bevorsteht. Und diese Botschaft wird uns reif machen. Was Religion, Wissenschaft, Sittenlehre in Jahrtausenden nicht vermochten: die Völker im großen zu erziehen, zur seelischen Einkehr, zum echten Mitgefühl, zur Eintracht, das werden diese wenigen Tage vollbringen. Und so wird wenigstens unser Ausgang nicht unrühmlich sein.«

Stumme Bewegung des Beifalls da und dort. Der Minister des Innern hebt die Schultern und seufzt.

Darauf der Kanzler: »Meine Herren, die Sache liegt einfacher, als Sie denken. Wir haben kaum eine Wahl. Nach den letzten Nachrichten sind außer den erwähnten Staaten alle Mitglieder der Völkergemeinschaft entschlossen, den Gelehrtenspruch zu veröffentlichen. Sie sind es in der Erwägung, daß es kein Mittel gibt, ihn länger vorzuenthalten. In einigen Ländern hat man bereits die Regierungsgebäude gegen gewalttätige Wißbegier schützen müssen, einzelne Sternwarten sind im eigentlichen Sinne bestürmt worden. Jede Kundgebung, die man als Ausflucht empfände, würde erbitternd wirken. Der Beschluß der Regierungen erfolgt nach der Mehrheit. Stimmen wir mit Nein, so können wir doch nicht hindern, daß binnen wenigen Stunden Gerüchte des Auslandes unsere Grenzen überfluten. Wir wären vor unserem Volke bloßgestellt. Je früher wir reden, desto besser.«

Wortloses Summen der Zustimmung. Der Kanzler fragt: »Sie beschließen demnach, daß trotz des Einspruches der zwei Mächte das Gutachten der Sternwarten laut werde? ... Es erfolgt kein Widerspruch. Ich schließe die Sitzung.«

*

In langer grauer Linie ziehen die eisernen Schiffe dahin. Tief wirbeln die Rauchwolken über die grünlichen Wasserberge, die schräg heranrollen, sich dumpf klatschend gegen den Panzer werfen und bis hoch über die Verdecke ihren stiebenden Schaum ergießen. Aber mit der glühenden Kraft ihrer Eingeweide drängen die Riesen voran, schneiden ihre Büge messerscharf Welle auf Welle. Und gierig strecken sich aus ihren Leibern die starren Rohre nach ferner Beute.

Auf der Brücke des Führerschiffes der Admiral mit den Herren des Stabes. Breitbeinig steht er, das mächtige Fernglas an die Augen gepreßt, und späht nach Westen, wo aus dem lichtflimmernden Wasserkreis die Schattenrisse rauchender Schornsteine, schwimmender Burgen tauchen. Er setzt das Glas ab und kehrt das wettergebräunte Gesicht den hinter ihm Stehenden zu. »Es klappt vorzüglich. Diesmal stellen wir sie. Wir sind in jeder Hinsicht überlegen. Dazu kommt, daß sie die Sonne« – es zuckt ihm lustig in den Augenwinkeln – »sogar zwei Sonnen gegen sich haben. Also Volldampf voraus!«

Ein Offizier kommt eilig die Treppe herauf, ein Blatt in der Hand, und bleibt in dienstlicher Haltung stehen.

»Nun? Was gibt's?«

»Aufgefangener Funkspruch ...« Er nennt einen fernliegenden Ort neutralen Festlandes.

Der Admiral überfliegt die Zeilen und runzelt die Stirn. »Unsinn! Was geht uns das an? Sagen Sie dem Funker, er soll uns ein für allemal mit solchem Geschreibsel verschonen.« Er ballt das Papier zusammen und wirft es mit dem Winde in die Luft, daß es hoch über Bord fliegt. Einen Augenblick tanzt es auf einem schäumenden Wellenkamm und ist verschwunden.

»Wissen Sie das Neueste, meine Herren?« Der Admiral lacht ein kurzes, stoßweises Lachen. »Die Welt geht unter! Spätestens in einer Woche. Beschluß sämtlicher Sternwarten!« Er lacht noch einmal, daß er sich schüttelt.

Starres Schweigen der anderen. Nur über diese und jene dienstbeflissene Miene irrt ein verlegenes Lächeln und erstirbt. Man hört nichts als den sausenden Wind im Ohr und die anstürzenden Wasser.

»Sie haben doch dem Funker eingeschärft, daß dergleichen Blödsinn nicht unter die Mannschaften kommt?«

»Zu Befehl!«

»Ich sage es noch einmal, meine Herren: Strengster Befehl der Regierung, daß die albernen Gerüchte über den sogenannten Wunderstern innerhalb der gesamten Wehrmacht nicht besprochen werden dürfen. Zuwiderhandlungen, auch im Zwiegespräch, sind zu bestrafen. Wo es not tut, sind die Unvernünftigen aufzuklären. Was wollen Sie sagen, Kommandant?«

»Herr Admiral, mir scheint, daß dieses Verbot das Gegenteil seines Zweckes erreicht hat. Es hat die bewußte Himmelserscheinung in einen Nebel des Geheimnisses gehüllt, hinter dem man um so mehr Schlimmes vermutet. Der Seemann ist ohnehin abergläubisch. Kein Vorgesetzter kann verhindern, daß eine gewisse Besorgnis, die unsere Leute von ihrem letzten Landurlaub mitgebracht haben, sich in der Abgeschlossenheit auf See im geheimen weiterfrißt. Ich kann es nicht greifen, aber ich spüre es, in den Mienen der Leute, in ihrem Verhalten. Man munkelt von etwas Unheimlichem, das da kommen soll – in den Messen und in den Kombüsen, vom Deck bis hinunter in die Kohlenbunker, vor den Lafetten der Geschütze bis tief in die Heizräume. Und ich behaupte: auch diese neueste Nachricht ist im ganzen Schiffe bekannt – niemand weiß, woher, niemand wird es gestehen – aber sie wissen es alle. Und so durch alle Schiffe des Geschwaders.«

»Da soll doch der Deubel –! Rufen Sie die abkömmlichen Offiziere und Mannschaften an Deck. Sofort, die Zeit drängt!« –

Binnen fünf Minuten stehen die Befohlenen ausgerichtet im offenen Viereck auf dem von Schaumspritzern durchnäßten, leise schlingernden Boden ...

»Leute! Ihr wißt, es steht ein entscheidender Kampf bevor. Endlich hat sich der hinterlistige Feind dazu bequemen müssen. Wir werden ihn vernichtend schlagen, denn wir sind stärker, tüchtiger, und das Recht ist auf unsrer Seite. Das Vaterland blickt auf euch und erwartet Einsatz der höchsten Kraft, Hingebung bis aufs letzte. Wie mir gemeldet worden, ist unter euch ein dummes Geschwätz entstanden, als wenn da irgendein Stern vom Himmel herunterfallen und uns Unannehmlichkeiten verursachen würde. Die Herren Offiziere, die natürlich solche Märchen nicht glauben, haben euch bereits eines Besseren belehrt. Ich wiederhole das und erkläre jeden, der so etwas glaubt und weiterträgt, für einen Hochverräter. Merkt ihr denn nicht, daß dieser Unsinn von dem Feinde ausgestreut wird, um eure Kampflust zu brechen und leichten Sieg zu haben? Da drüben lachen sie sich ins Fäustchen, wenn ihr wie Kinder und alte Weiber euch graulich machen läßt. Leute! Der alte Gott lebt noch und regiert die Sterne! Er läßt uns nicht verderben! Vorwärts mit ihm zum Siege! Ein Hurra dem Vaterland!«

Dreimal bricht der Schrei durch das dumpfe Gebrause.

»Jeder an seinen Posten! – Kommandant, lassen Sie meine Worte dem ganzen Geschwader funken!« –

Auf die Brücke gelehnt, steht der Admiral mit seiner Umgebung. Der Fußboden schüttert unter dem tiefen Summen der überheizten Maschinen. Immer deutlicher heben sich die Umrisse der feindlichen Schiffe über den Gesichtskreis. Die Offiziere stehen ernst und stumm. Ein seltsames Zwielicht gleißt auf den Schaumkämmen der anstürmenden Wasserhügel. Der Admiral scherzt: »Es gibt da eine niedliche Kasernenhofblüte. Am Tage einer Sonnenfinsternis ist Appell. Und der Feldwebel hebt an: ›Auf Befehl des Herrn Hauptmanns findet heute eine Sonnenfinsternis statt ... ‹ Hahaha, sehen Sie, meine Herren, das nenne ich soldatischen Standpunkt. Wir machen die ganze Geschichte, im Himmel und auf Erden.«

Niemand lacht. Wie gefroren sind alle Gesichter.

»Nein, im Ernst. Der Schiller sagt einmal: Wenn damals, als Kolumbus nach Westen steuerte, die Neue Welt noch nicht dagewesen wäre, sie hätte emportauchen müssen. Mit dem Mutigen steht die Natur in ewigem Bunde ... Was, Kuckuck! Wollen uns diese Sternfexe gruseln machen? Früher taten sie es mit den Kometen, und fielen allemal hinein.«

Er hat das Fernglas wieder gehoben; dann wendet er sich. »Es ist Zeit. Lassen Sie feuern! Breitseite! Das ganze Geschwader!« –

Der Diensthabende eilt hinunter. –

Tiefe Stille. Minuten vergehen.

Der Admiral wird ungeduldig. »Was wird denn?«

Endlich dröhnt es – einmal, drei-, viermal.

Durchs Fernglas sieht man in weiter Ferne die Wassersäulen der Aufschläge.

»Viel zu kurz. Besser abschätzen ... Zum Donnerwetter, warum schießen die Kerls nicht? Kommandant!«

»Herr Admiral –«

»Ich frage Sie, warum die Leute nicht schießen?«

»Ich weiß nicht, Herr Admiral. Ich werde sofort feststellen ...«

Offiziere eilen davon. Fernsprecher rufen nach allen Teilen des Schiffes.

»Wie war denn das? Wo bleiben die Geschütze der anderen da hinten?«

»Sie haben keinen Schuß gelöst, Herr Admiral.«

»Ja, haben die nicht gehört ...?«

»Der Befehl ist erteilt.«

Ein Offizier atemlos von unten: »Herr Admiral, die Leute weigern sich zu schießen.«

»Wa–s?!« Mit beiden Fäusten umklammert der Admiral die Eisenstangen der Brücke. »Sind die Leute verrückt geworden?!«

»Sie sagen, sie wollten nach Hause. Die Welt ginge unter.«

Ein heiseres Auflachen, der Admiral nestelt an dem Lederverschluß seiner Gürtelpistole. »Das werden wir sehen!« Er ist im Begriff, die Treppe hinunterzuspringen ... Plötzlich wird es auf Deck lebendig. Von allen Seiten stürmt ein dunkles Gewimmel heran: Matrosen, Kanoniere, schwarzrußige Kohlenschipper, Heizer, halbnackt mit triefenden Stirnen – durcheinander schreiend: »Herr Admiral! Nach Hause! Frieden! Die Sonne! Die Erde! Nach Hause!«

Wachsgelben Gesichts steht der Admiral, er hat die Pistole frei: »Meuterer! Ich schieße euch nieder! Offiziere!«

Die stehen regungslos. Eine Riesenwelle schlägt an Bord, prasselnde Sturzsee, niemand achtet darauf.

»Herr Admiral – sehen Sie dort! Der Feind hißt die weiße Flagge!«

Unglaubliches geschieht. Aus der feindlichen Linie hat sich ein Schiff gelöst und strebt mit hoher Fahrt heran. Am Großmast flattert es weiß, einer Taube ähnlich. Wie ein gespenstisches Traumbild am hellen Tage wächst es mit unheimlicher Schnelle vor den sprachlos Zuschauenden in den Himmel hinauf. Jetzt scheint es zu stoppen, am Bug Flaggensignale. Langsam entziffert man: »Angesichts naher Weltkatastrophe stellen wir unsrerseits Feindseligkeiten ein.«

Einige Augenblicke wortlose Stille. Dann auf der Brücke die schneidende Stimme des Admirals: »Was? Sind hier lauter schwimmende Tollhäuser?! Gut, also nehmen wir die ganze Bande gefangen. Winkt das hinüber!«

Der Kommandant, die Hand an der Mütze: »Das wird nicht gehen, Herr Admiral.«

»Nicht gehen – wieso?«

»Wollen Herr Admiral rückwärts blicken.«

Neues sprachloses Erstaunen. Ein Schiff des Geschwaders nach dem anderen schert aus der Linie und wendet die Fahrt.

»Kommandant ...! Was ist das?«

Der Diensthabende drängt sich durch das Getümmel und ruft hinauf:

»Funksprüche von Linienschiffen und Kreuzern des Inhalts: Befehlshaber abgesetzt, unter neuem Kommando Heimfahrt beschlossen!«

Brausender Jubel auf Deck, Mützenschwenken.

Der Admiral umklammert die Pistole, sein Blick irrt von einem Offizier zum anderen: »Was sagen Sie?«

Nach kurzer Pause der Kommandant: »Herr Admiral, weichen wir der höheren Gewalt.«

»Welcher Gewalt?«

Der Kapitän deutet stumm nach oben. Aller Blicke wenden sich zur Mittagssonne hinauf, die blendend im reinen Blau steht, dicht neben ihr, weißlich grell, der Doppelgänger.

»Wahnsinn!«

Die Offiziere springen von allen Seiten auf den Admiral zu, der die Pistole an die Schläfe gesetzt hat, man biegt dem keuchend Ringenden den Arm herunter. Da stürmt schon jemand, einen neuen Meldezettel schwenkend, herauf. Weil niemand ihn entgegennimmt, liest er laut: »Befehl der Regierung: Da Küstenverteidigung den Dienst versagt, Seeschlacht abbrechen. Sofortige Heimkehr.«

Die Pistole klirrt zu Boden.

»Kommandant, übernehmen Sie den Befehl – ich gebe keinen mehr.« –

Kaum eine Minute, so ist das Deck leer.

In rasender Fahrt entfernen sich die beiden Flotten voneinander. So fieberhaft haben Maschinisten und Heizer noch nie gearbeitet. Das Führerschiff jagt mit dumpfklopfenden Pulsen hinter den flüchtigen andern. Im übrigen gibt es keinen Dienst mehr. In Gruppen stehen die Mannschaften in Gängen und Winkeln umher, ratlos, die Hirne von einem Gedanken zerhämmert: Nach Hause! Reicht noch die Zeit? Die Welt geht unter!

* * *

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