Kitabı oku: «In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang»
Werner Hetzschold
IN DEN MEYERSCHEN NAHM ALLES SEINEN ANFANG
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2021
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Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Coverbild: Die Meyerschen Häuser in Leipzig
nach einer Postkarte um 1915
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Die Blaue Blume
Irgendwann, irgendwer, irgendwo
Hannah
Montmartre
Beute-Germane
Das Blaue Halstuch
Mysteriöse Stadt
Dichter und andere Lebenskünstler
Der schöne Biber
DIE BLAUE BLUME
Als Jan ein kleiner Junge war, durfte er seine Mutter oft auf ihren Spaziergängen begleiten. Gewöhnlich führte sie ihr Weg am Bahndamm entlang, der die Grenze bildete zwischen dem Areal der Deutschen Reichsbahn und den Meyerschen Häusern. Ein breiter, asphaltierter Fußweg, auf dem auch Lastkraftwagen im Schritt-Tempo fahren durften, trennte den Bahndamm von den Häusern. Zwischen Bahndamm und Fußweg befanden sich winzige Gärten, wie auf einer Perlenschnur an einander gereiht. In jedem Garten stand eine solide Holzlaube und ein alter Apfelbaum. Zu dem Zeitpunkt war diese Siedlung bereits älter als sechzig Jahre.
Seine Mutter ergriff seine Hand. Gemeinsam folgten sie dem Weg bis zum Ende der Siedlung. Immer wieder blieb seine Mutter stehen, machte ihn auf die wenigen bunten Blumen aufmerksam, auf das viele unterschiedliche Gemüse und die Beerensträucher. Manche der Gartenbesitzer waren Eisenbahner. Sie hatten von der Deutschen Reichsbahn die Erlaubnis bekommen, einen schmalen Streifen des unmittelbar auf ihren Garten sich anschließenden Bahn-Geländes nutzen und einzäunen zu dürfen. Auf diesem eingefriedeten Reichsbahngelände tummelten sich Hühner, Tauben, mitunter auch Enten. Die Holzlauben waren mit Kaninchenställen vollgestopft. Besonders in der warmen Jahreszeit bot dieses Areal ein friedliches, harmonisches und abwechslungsreiches Bild, das ein Bisschen an Ferien auf dem Bauernhof erinnerte. Vielleicht förderten die vorbei fahrenden Personenzüge diesen Eindruck von dieser heilen Welt. Mutter blieb in regelmäßigen Abständen stehen, klatschte verzückt in die Hände und rief laut und euphorisch aus: „Jan, mein Junge, das ist das Paradies auf Erden! Schau dir diesen blauen Himmel an! Kein Wölkchen ist zu sehen. Die Sonne strahlt. Das ist das Paradies! Alles grünt und blüht! Schau dir einmal diese blauen Blumen an. Ich kenne ihren Namen nicht, aber sie sind wunderhübsch. Dieses Blau könnte nicht schöner sein! Warum in die weite Welt reisen, wenn die Schönheit der Natur sich unmittelbar vor der eigenen Haustür entfaltet!“
Jan warf einen flüchtigen Blick auf die blauen Blumen, die in seinen Augen Unkraut waren, weil sie nicht die Bedeutung und den Bekanntheitsgrad von Tulpen und Rosen hatten. Sie waren einfach nur da. Waren nutzlos wie Unkraut! Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.
Hatten Mutter und Sohn das Meyersche Viertel hinter sich gelassen, folgten sie dem Weg bis zur Bus-Endstation. Dort, wo früher Wohnhäuser gestanden hatten, die während des Krieges dem Erdboden gleichgemacht worden waren, breiteten sich jetzt Gärten aus. Jede noch so kleine Fläche wurde als Grabe-Land genutzt. Kein Land blieb brach liegen. Jedes Stückchen Erde wurde um und um gewendet, kultiviert, verwandelte sich in ein grünes Paradies. Damals gab es noch viele Pferdegespanne. Die Brauerei und die Müll-Abfuhr besaßen einen Fuhrpark, bestehend nur aus Pferdegespannen. Lastkraftwagen konnte sich noch nicht jeder Unternehmer leisten. Die anfallenden Pferdeäpfel waren äußerst begehrt. Dünger war knapp. Nichts wurde weggeworfen. Alles wurde verwendet, verwertet, fand einen Abnehmer.
Mutter wählte den Weg zum Ost-Friedhof. Wie der Südfriedhof erinnerte auch der Ostfriedhof Jan an einen weiträumigen Park mit vielen bunten Blumen, Wiesen und Hecken, in denen ungestört viele Vögel brüteten. Die Gräber fielen zwischen dem vielen Grün gar nicht auf, weil sie meist auch grün waren. Auf dem Weg zum Ost-Friedhof pflückte Mutter Blumen von den Wiesen rechts und links der Straße, die dort wild wuchsen, ursprünglich aber einmal Gartenblumen gewesen waren. Der Gartenbesitzer wollte sie nicht länger auf seinem Grundstück dulden, hatten die Zwiebeln ausgegraben, fand keinen Käufer für sie, entsorgte sie heimlich auf den Wiesen. Jetzt blühten viele unterschiedliche bunte Blumen dort im Frühling, im Sommer und im Herbst. Die Winter waren kalt und blumenlos. Mutters Blumensträuße erregten immer wieder die Aufmerksamkeit, weil sie so schön bunt waren. Auch dufteten sie angenehm. Sie waren eine richtige Augenweide, ein Vergnügen, ein Genuss für die Sinne. Mit diesem Blumenschmuck verschwanden Mutter und Sohn hinter dem Friedhofstor. Mutter kannte den Weg. Jan folgte ihr. Auch er kannte den Weg, war ihn schon viele Male gegangen. Mutter wählte jedes Mal andere Weg. Der Weg zum Friedhof sollte ein Spaziergang sein, kein Pflichtprogramm, kein Gang auf dem schnellsten Wege.
Wiederholt sagte sie: „Jan, hier sind wir inmitten der Natur. Alles grünt und blüht. Kein Lärm! Ungestört kannst du dem Gesang der Vögel lauschen. Hier kannst du abschalten! Der Friedhof ist eine Oase der Ruhe, der Besinnung, des zu-sich-Findens, des sich selbst Findens.“ Bei diesen Worten drückte sie ihn fest an sich.
Sie standen vor einem Grab mit einem kleinen Holzkreuz, auf dem zwei Namen vermerkt waren. Noch konnte Jan nicht lesen, kannte aber die Namen der Verstorbenen vom Hören-Sagen. Die Angehörigen der Toten hatten die Gegend verlassen, waren nach Kriegsende nach Hause zurück gekehrt. Seine Mutter wollte nicht über diese Leute sprechen, Jan keine Auskunft über sie geben. Deshalb hatte er sich an seinen Vater gewandt, ihn über die Leute befragt. Sein Vater erzählte. Viel hatte er zu erzählen. Wie ein altes Waschweib, sagte gewöhnlich seine Mutter, wenn sie auf die Bericht-Erstattung ihres Mannes zu sprechen kam.
Über die Leute in dem Grab hatte Jan seinen Vater befragt, als er allein mit ihm zu Hause war. Er setzte sich neben ihn auf das Sofa, um keine Unruhe zu verbreiten. Erst als Jan saß, begann der Vater: „Sicher hast du es schon längst bemerkt, dass für deine Mutter fremde Tote wichtiger sind als die eigenen. Bestimmt ist dir auf dem Ost-Friedhof die kleine Blautanne am Grab der Österreicher aufgefallen. Die hat deine Mutter von unserem Gelde gekauft und neben das uns fremde Grab gepflanzt. Den Friedhof, den Nordfriedhof, sucht deine Mutter nie auf. Oder bist du schon dort mit ihr einmal gewesen?“
Jan verneinte, fügte aber rasch hinzu: „Dorthin müssen wir mit der Straßenbahn fahren. Das kostet Geld. Den Ost- und den Südfriedhof können wir zu Fuß erreichen. Sie sehen auch aus wie ein Park. Da sind nicht nur Grabsteine …“
„Jan, du hast mich nach den Leuten in dem Grab befragt. Ich will dir sagen, wer sie sind! Oder was ich über sie weiß! Ich finde, das ist korrekter, denn eigentlich kenne ich sie nicht, nur so flüchtig, von Zufallsbegegnungen im Treppenhaus. Deine Mutter kennt sie viel besser. Sie wohnten damals neben uns. Sie hatten eine größere Wohnung als wir, die sie sich mit der Eigentümerin, deren Tochter und Schwiegersohn teilen mussten. Unsere Wohnung war nicht so groß, deshalb hatten wir sie allein. Nebenan gab es oft Streit. Die Deutschen waren die Hauptmieter. Die Österreicher die Untermieter. Woher die Österreicher kamen, wusste niemand. Es wurde gemunkelt, dass sie aus Galizien kämen, aus Lemberg. Heute gehört Lemberg zur Sowjetunion, bis zum Ersten Weltkrieg zur Donau-Monarchie, zu Österreich-Ungarn. Österreich-Ungarn, diese Doppelmonarchie, war ein Vielvölker-Staat. Wie sie als Familie während des Zweiten Weltkrieges hierher kamen, weiß auch niemand. Deine Mutter verstand sich ausgezeichnet mit ihnen, besonders mit der Frau, die in ihrem Alter war. Die alten Leute starben hier, erst die Frau, dann der Mann. In fremder Erde wurden sie begraben. Der Rest der Familie wollte nicht in Deutschland bleiben. Nach Lemberg wollten sie, konnten aber nicht zurück. Ich glaube, sie sind nach Linz gegangen. Deine Mutter kann es dir bestimmt genau sagen. Als diese Familie Ost-Deutschland verließ, versprach deine Mutter, die Pflege des Grabes zu übernehmen. Und sie pflegt es noch heute, obwohl diese Leute nicht mit uns verwandt sind. An den Gräbern unserer Leute lässt sich deine Mutter nicht sehen …“
Jan war mit dieser Auskunft zufrieden.
Mit den zwei Einweckgläsern, die Mutter zwischen dem Efeu aufbewahrte, goss sie das Grab, entfernte den Strauß mit den verwelkten Blumen, setzte den mitgebrachten, bunten Strauß in die Vase mit dem frischen Wasser, zupfte Unkraut, brachte alles zum Abfallkorb. Nach getaner Arbeit ergriff sie Jans Hand, suchte gemeinsam mit ihm die nächst gelegene Bank in unmittelbarer Nähe des Grabes auf. Sie setzten sich. Mutter sagte: „Ist es hier nicht wunderschön. Diese Stille. Diese Ruhe. Kein lautes, kein böses Wort. Um uns herum Frieden. Nach dem wir uns so lange gesehnt haben. Jan, sind dir diese blauen Blumen aufgefallen? Die Kleinen da sind Veilchen, die anderen heißen Vergissmeinnicht, dann kenne ich noch die Kornblume und die blaue Schwertlilie. Die Schwertlilien gedeihen in der Nähe von Teichen, Seen, Flüssen; die Veilchen und Vergissmeinnicht auf Wiesen. Und die Kornblumen, das verrät bereits der Name, entfalten ihre Schönheit dort, wo die Getreidefelder gelb in der Sommersonne leuchten.“ Mutter erwartete keine Antwort. Nach einer kurzen Pause fuhr sie nachdenklich fort: „In der Schule habe ich damals ein Gedicht gelernt. Es hieß „Die blaue Blume“, geschrieben hatte es der Dichter Joseph von Eichendorff. Es ist ein wunderschönes, romantisches Gedicht. Wir mussten es lernen und auswendig aufsagen. Ich liebte Gedichte, besonders dieses Gedicht. Drei Strophen hat das Gedicht. Die erste Strophe … Einen Augenblick bitte. Mir fällt der Text gleich wieder ein. Jetzt ist er mir wieder gegenwärtig.“
Mutter sagte ihn auf. Richtig mit Betonung und Herz.
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.
„Das Gedicht hast du ganz toll aufgesagt“, meldete sich Jan zu Wort. „So richtig schön hast du es betont. So wie es sein muss. Bestimmt hast du dafür eine Eins bekommen.“
Seine Mutter lächelte nachdenklich, sah sich in Gedanken vor der Klasse stehen, sagte das Gedicht „Die blaue Blume“ auf. Ihre Mitschülerinnen applaudierten. Der Lehrer lobte sie, trug ihr zwei Mal die Note Eins ins Klassenbuch ein. Deutsch war das Lieblingsfach seiner Mutter, sie die Musterschülerin. Sie konnte keine höhere Schule besuchen. Der Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Nach der achten Klasse musste sie die Schule verlassen, arbeitete künftig an einer Textilmaschine in der Wollspinnerei. Diesen Teil aus dem Leben seiner Mutter kannte bereits Jan aus früheren Erzählungen.
„In vielen Gedichten begegnest du der blauen Blume“, setzte seine Mutter ihre Rede fort. „Diese Zeit, in der die Blaue Blume ihren großen Auftritt hat, heißt Romantik. Und die Dichter, die sich mit der Blauen Blume beschäftigen, nennen sich Romantiker. Später in der Schule wirst du sie alle kennen lernen. Ich habe mir noch die Namen von Joseph von Eichendorff gemerkt, von Heinrich Heine und von Clemens Brentano. Es gibt auch viele Bilder mit der Blauen Blume und auch viele Geschichten. Eine meiner Lieblingsfarben ist das Blau. Und was ist deine Lieblingsfarbe, Jan?“
„Ich finde alle Farben schön“, sagte er. „Wir müssen jetzt gehen“, sprach die Mutter mehr zu sich selbst als zu ihm. Gemeinsam verließen sie den Friedhof.
In seinen Erinnerungen sieht Jan das Wäldchen vor sich. Es liegt am Rande des Vorortes der großen Stadt. Noch vor dem Krieg war dieser Ort eine selbständige Gemeinde, ein Dorf gewesen mit Gehöften, umgeben von Wiesen und Feldern. Nach dem Krieg wurde der Ort eingemeindet, verlor seine Selbstständigkeit als Dorf. Jetzt endete die Straßenbahn dort. Die Stadt wurde zusehends größer. Nicht nur einst selbstständige Dörfer verschmolzen mit ihr, es entstanden neue Stadtteile mit Bus-Anschluss, es verschwanden Wälder, Felder, Dörfer. Und mit ihnen verschwanden viele Tiere, denen Jan in seinen frühen Kindertagen begegnet war. Die Rauch- und die Mehlschwalbe mit der weißen Brust, die Rebhühner und der Jagdfasan. Und die vielen Hasen! Einmal entdeckte er eine Rebhuhn-Henne mit Küken in der wärmenden Sonne am Feldrain. Jetzt ist er keinen Rebhühnern mehr begegnet. Und der Jagdfasan ist untergetaucht. Wahrscheinlich für alle Ewigkeit. Haussperlinge fühlten sich in der Meyerschen Siedlung noch wohl, aber die Feldsperlinge waren ausgewandert. Der Tagebau, einst nur mit der Deutschen Reichsbahn zu erreichen, rückte näher und näher an die Stadt heran. Es wurde gemunkelt, dass bald ganze Stadtbezirke der großen Stadt verschwinden, weil unmittelbar unter ihnen wuchtige Kohlenflöze lagern. Es dauerte nicht lange, dann war die Rede davon, dass die Stadt komplett verschwindet, weil im Zentrum der Stadt, ihrem historisch betrachtet ältesten Teil, Kohleflöze fast bis an die Oberfläche stoßen. Es existierten Gerüchte, dass während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges Bürger der Altstadt auf dem Alten Johannisfriedhof, der nunmehr ein verwunschener Park ist und unter Denkmalschutz steht, heimlich, im Verborgenen, Braunkohle ausgegraben hätten.
Die Stadt befand sich im Umbruch. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sie sich in eine sozialistische Großstadt verwandeln. In ihr sollte der Kommunismus Einzug halten, so hatten es die Apparatschiks vorgesehen und geplant, wollten diese Zielstellung zum Wohle ihrer Bürger realisieren, sie in die lichte Zukunft eines real existierenden Sozialismus führen, nur sollte es dazu nicht kommen. Jan sieht diese Welt von einst vor sich, wie sie sich ihm über die Jahrzehnte unveränderlich eingeprägt hat. Damals waren die Winter viel kälter als heute. Überall lag Schnee. Hoher Schnee. Viele Arbeitskräfte wurden benötigt für die Beseitigung der weißen Pracht. Damals gab es kaum Schneepflüge oder andere motorisierte Technik. Alle anfallenden Arbeiten verrichtete der Mensch mit Schaufel, Schneeschieber und Schlitten oder Pferdefuhrwerken zum Abtransport des vielen Schnees. Um diese Jahreszeit gehörte das Wäldchen nicht weit vom Ost-Friedhof entfernt Jan und seiner Mutter alleine. Besonders häufig gingen sie dort während der Sommermonate spazieren, manchmal in Begleitung von Kindern aus dem Wohnviertel, die sich ihnen anschlossen. Ihre Eltern waren berufstätig, von vielen auch die Mütter, sehr oft sogar nur die Mütter, weil die Väter gefallen oder vermisst waren oder aus anderen Gründen nach dem Krieg den Weg nicht nach Hause gefunden hatten. Die Mütter und Väter dieser Kinder waren froh, dass sich Jans Mutter um deren Töchter und Söhne kümmerte, weil sie jetzt wussten, dass ihr Nachwuchs beaufsichtigt wird. Unmittelbar nach dem Krieg existierten nur wenige Kindergärten und längst nicht alle Kinder erhielten einen Kindergartenplatz, obwohl er ihnen zustand, weil sie ohne Vater aufwuchsen und die Mutter Geld verdienen musste.
Jans Mutter hatte eine schöne Stimme. Sie las den Kindern Geschichten vor, Märchen und Sagen oder manchmal sang sie auch Lieder, allein oder gemeinsam mit den Kindern. In der kalten Jahreszeit in der Stube, in der warmen vor dem Haus auf der Wiese oder im Amsel-Park. Das Lied „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle“ kannten alle Kinder. Dieses Lied wurde im Kindergarten gesungen, aber auch in den unteren Klassen in der Schule im Musikunterricht.
Als kleiner Junge hinterfragte Jan noch nicht den Text. Das kam erst später, als er älter war, nicht mehr so oft mit seiner Mutter auf den Friedhof ging. Als er seiner Mutter die Frage stellte, ob in der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war, alle Vögel, auch die, die jetzt während der Wintermonate hier bleiben, in den Süden geflogen sind, war seine Mutter über diese Fragestellung erstaunt und sagte: „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Und dann wollte sie von Jan wissen, warum er jetzt solche Fragen stellt. Auch dürfe er nicht sie fragen, sondern er müsste den Dichter um Auskunft bitten, nur sei der schon lange tot. Jan erklärte ihr: „In dem Lied schreibt der Dichter, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar wünschen dir ein frohes Jahr, lauter Heil und Segen. Deshalb nimmt er an, dass diese Vögel nicht im Winter hier geblieben sind, sondern fortzogen. Vielleicht waren damals die Winter noch kälter. Wegen des vielen Schnees und der großen Kälte waren die Amsel, die Drossel, der Fink und der Star damals Zugvögel. Sicherlich änderte sich häufig das Klima. Vielleicht gab es mal warme und mal kalte Winter, mal kühle und mal heiße Sommer, mal trockene Jahreszeiten und mal welche mit viel Regen, Hochwasser und Überschwemmungen.“
Bis zum Rande des Wäldchen erstreckten sich die Wiesen und Weiden der Bauernhöfe. In den Sommermonaten zogen sie Jan magisch an. Auf dem Gelände hielten sich viele Haustiere auf, Kühe und Schweine, dazwischen viel Geflügel: Hühner, Tauben, Truthühner, Enten, Gänse. Mancher Bauer hielt sich auf seinem Hof Perlhühner, die Jan äußerst interessant fand. Sie verhielten sich anders als die normalen Hühner. Ein nahendes Gewitter kündigten sie an. Dann flogen sie lärmend auf die Bäume, waren aufgeregt und nervös. Bis ins Dorf waren sie zu hören. Jan schwärmte von einem Leben auf dem Bauernhof, träumte davon. Saß er im Wohnzimmer vor dem großen Tisch mit seinem Spielzeug, gestaltete er Szenen aus der Landwirtschaft nach, denen er bei Wanderungen gemeinsam mit den Eltern am Wochenende begegnet war. Er imitierte sämtliche Haustiere. Er bellte, miaute, grunzte, meckerte, wieherte. Bei offenem Fenster war er weithin im Viertel zu hören. Die Nachbarn blieben stehen, lauschten seinem vielstimmigen Konzert, schmunzelten, äußerten sich anerkennend über seine rege Fantasie, viele nannten ihn auch einen bloßen Spinner. Alles ahmte er nach: Wind, Sturm, Gewitter, Regen.
Im Wäldchen war es nie langweilig. Viele Vögel gab es dort, auch die Vögel, die er aus den Liedern kannte. Selbst der Bussard brütete dort und zog seinen Nachwuchs auf. Turmfalken errichteten ihren Horst nicht nur in den Kirchtürmen, sondern unter den Dächern hoher Häuser. Verwilderte Haus-Tauben, manchen war noch die einstige Rasse-Taube anzusehen, fanden Unterschlupf in den vielen Ruinen der Stadt. Der Sperber bevorzugte das Wäldchen als Brutplatz. Und dann tauchte eines Tages in den vornehmen Wohnvierteln eine Taube auf, kleiner und zierlicher als die Haus-Tauben. Jan machte sich kundig, was das für eine Taube sei, weil er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er erfuhr, ihr Name sei Türken-Taube und sie sei nach Europa eingewandert. Ihr Herkunftsland sei Kleinasien. Im Atlas schaute Jan nach, wo sich dieses Kleinasien befindet. Er konnte es nicht verstehen, dass diese Taube sich in Richtung Norden ausbreitete, in eine Region, in der die Winter kalt sind, mitunter sehr kalt. Dort, woher sie kam, war es warm, die Sonne schien, der Himmel war blau, vielleicht sogar leuchtend blau. Irgendwo hatte er von einem azur-blauen Himmel gehört.
In seiner Fantasie erblickte er dieses Kleinasien vor sich, das Land aus Tausend und einer Nacht. Es war das Land der vielen Zauberberge, in deren Innerem es verzauberte und verwunschene Städte gab aus längst vergangenen Zeiten. Eines seiner vielen Ziele war es, sobald er groß ist, einmal dorthin zu reisen, sich alles mit eigenen Augen anzusehen, vielleicht sogar für immer dort zu bleiben. Nicht überall auf der Erde gibt es so viel Sonnenschein und einen so blauen ungetrübten Himmel. Die Mutter hatte ihm Geschichten vorgelesen, in denen geschrieben stand, dass dort die Blaue Blume zu Hause ist. Wenn er einmal groß ist, das hat er sich fest vorgenommen, wird er dorthin reisen, um auch die Blaue Blume zu suchen. Er wird sie finden. Davon ist er überzeugt. Seine Mutter kannte Gedichte, viele Gedichte, manche sogar auswendig, die der Blauen Blume gewidmet waren. Er hat sich Texte gemerkt, sie nicht vergessen. Er sagte einen Text auf.
Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au`n,
Ob nirgends in der Runde
Die Blaue Blume zu schaun.
Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blume geschaut.
Seine Mutter nannte diese Gedichte „Die Blaue Blume der Romantik“. Die Blaue Blume verkörpert die Romantik, die Sehnsucht des Menschen nach dem Unerreichbaren, nach dem ewig Fernen, nach dem Verborgenen und Geheimnisvollen, nach der ewigen Schönheit. Du musst nur fest an die Blaue Blume glauben, ihrer Wunderkraft vertrauen. In der Schule war Mutter gelehrt worden, dass die Blaue Blume ein Zeichen sei für die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Das Gedicht „Ich wandre schon seit lange, Hab lang gehofft, vertraut, Doch ach, noch nirgends hab ich Die blaue Blume geschaut.“ bringt diese innige Verbundenheit treffend zum Ausdruck. Die Blaue Blume ist auch das Symbol der Wanderschaft. Ach, diese Blaue Blume hat so viele Bedeutungen, dass ich nicht alle diese Zeichen im Kopf behalten konnte.“
Für Jan war das Fach Deutsch das Lieblingsfach. Ihm wurde das Lesen und Schreiben beigebracht. Für ihn war es der absolute Höhepunkt, als er in der Lage war Bücher selbst zu lesen und Texte selbst zu schreiben. Jetzt war der Zeitpunkt für ihn und seine Mutter gekommen, ihn in der Stadtbibliothek als künftiges Mitglied anzumelden und er ein eigenes Leseheft auf seinen Namen ausgehändigt bekam. Richtig stolz war Jan, jetzt ein eigenes Leseheft zu besitzen, in das nun die Titel der Bücher eingetragen wurden, die er sich ausgeliehen hatte. Wie seine Mutter nahm er jedes Mal viele Bücher mit nach Hause. Seine Mutter wählte nicht nur Romane von Flaubert, Maupassant, Balzac, Stendal, Zola, Gorki, Nexö, sondern auch Bildbände, in denen die Abbildungen von berühmten Gemälden zu bewundern waren. Ihr Lieblingsautor zu dieser Zeit hieß Helmut Drechsler. Er war Fotograf und Schriftsteller, gebürtiger Colditzer. Mutter nannte ihn den begnadeten Tierfotografen. Unter den vielen Büchern, die sie aus der Stadtbücherei mitbrachte, befand sich immer ein Bildband von Helmut Drechsler. Mutter erlaubte mir diese Bildbände zu bewundern, nachdem sie mich mehrere Male und jedes Mal von Neuem ermahnt hatte, sehr sorgsam und pfleglich mit diesen Büchern umzugehen.
Sie sagte: „Ich muss sie für dich ausleihen, denn dir werden sie nicht ausgehändigt werden, da bin ich mir sicher. An Kinder werden nicht so kostbare Bücher ausgeliehen. Schnell sind sie verdorben, weisen Fettflecken auf.“ Mutter vergötterte diesen Drechsler, diesen Tierfotografen. Sehr gut wusste sie über ihn Bescheid. Jan war überzeugt, dass sie von ihm alle Bücher kannte, gelesen, studiert hatte. Sein erster Farbbildband „Kleine Welt am Wegesrand“ erschien 1948 im Brockhaus-Verlag in vielen Auflagen. Dieser Bildband vermittelt einen Eindruck in die unmittelbare Umgebung seiner Heimatstadt. Der Bildband „Zigeuner, Stiere und Flamingos“ faszinierte Mutter. Nur in ihrer Gegenwart durfte Jan das Buch in die Hände nehmen, darin vorsichtig blättern, sich die Bilder ansehen, nachdem er sich nochmals die Hände gewaschen hatte.
Mutter ließ ihn die Fotos betrachten, solange er wollte, erklärte: „Er ist noch ein sehr junger Mann. Soviel ich weiß, ist er noch keine dreißig Jahre alt. Und so tüchtig. Ständig verbesserte er seine Arbeitstechniken. Die Qualität der Bilder nahm zu. Sein Ruhm nahm zu, nicht nur in seiner Heimatstadt, nicht nur in Sachsen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Obwohl er immer unterwegs war, ließ er sich ein Haus bauen auf dem Hartenstein, in dem er mit seiner Frau wohnte, wenn er sich zu Hause aufhielt. Meist war er unterwegs, fotografierte und fotografierte.“
Jahre später! Jan erinnert sich. Anfang 1960 muss es gewesen. Von der Schule kam er nach Hause, betrat die elterliche Wohnung, findet seine Mutter im Wohnzimmer vor, in Tränen gebadet.
„Ist jemand gestorben?“, fragt er besorgt.
„Der Helmut Drechsler ist tot!“ Die Trauer, der Schmerz, der Kummer vereinen sich in ihrer Stimme, in ihrem Gesicht. Hier lies! Das ist der Text, den die Zeitung schreibt. Im Rundfunk haben sie es auch gebracht. Es kann also kein Irrtum sein! Man sagt, von seiner letzten Reise nach Zentralafrika sei er nicht mehr zurückgekehrt. In der Nacht vom 3. zum 4. Februar sei er tödlich verunglückt. Er sei vom Steilufer in einen Fluss abgestürzt. Die Unfallursache sei ungeklärt.“
Noch immer Tränen in den Augen breitete Mutter Bücher auf dem Tisch aus.
„Die habe ich alle antiquarisch kaufen können. Da waren sie preisgünstiger. Billig ist dafür nicht das richtige Wort.“
Vorsichtig reichte sie Jan ein Buch. Er las „Kamerajagd auf Schmetterlinge“. Jan betrachtete sich die auf dem Tisch liegenden Bücher näher, las „Vom Atlantik zum Mittelmeer“, „Vom Karst zu den Karpaten“. Diese Bücher sahen geschmackvoller aus als viele, viele Bücher, die es in den Buchhandlungen zu erwerben gab.
„Du musst Vater nichts von diesen Büchern sagen“, flüsterte Mutter. „Er hätte dafür kein Verständnis. Ich habe sie gut versteckt. Wie dir bekannt ist, hat Vater auch seine Verstecke für Bücher, die mir verborgen bleiben sollen.“
Ausgiebig sah Jan sich jedes Exemplar an, Seite für Seite. Ihm gefiel die Gestaltung der Bücher. Sie machten etwas her, eigneten sich hervorragend als Geschenk.
Inzwischen waren viele Jahre seit Drechslers Tod vergangen. Bis jetzt ist der Unfall nicht aufgeklärt. Viele Vermutungen wurden angestellt, aber keine endgültige Lösung gefunden. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt worden. Im Traum verfolgt Jan dieses Geschehen. Er sieht den Mann vor sich, wie er, Jan, ihn sieht. Auf diesem Foto ist er mit freiem Oberkörper abgebildet, kurz vor seinem Tod. Braun gebrannt, auf dem Kopf einen Hut ähnlich den Kopfbedeckungen der Soldaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den ehemaligen deutschen Kolonien, sportlich, durchtrainiert, Waschbrettbauch, eine gut aussehende, auf Wirkung und Ausstrahlung bedachte Persönlichkeit, die sicher auch Feinde hat bei dem Erfolg, den sie auf vielen Gebieten erzielt hatte. Dieses Foto wird gewiss eines der letzten gewesen sein, die von ihm unmittelbar vor seinem Tod angefertigt wurden. Der Traum versetzt Jan in die Nacht vom 3. zum 4. Februar 1960. Drechsler steht am Steilufer des Flusses, lässt das Ambiente auf sich wirken, ist zu tiefst beeindruckt von der tiefen Stille der Nacht. Kein Laut! Nur eine in sich ruhende Natur. Ein Hauch von Ewigkeit. Eine Bewegung, ein falscher Schritt! Der Körper gleitet in die Tiefe, den die Umgebung als Sturz wahrnimmt. Der Tod holt ihn, noch bevor er sich als Individuum mit seinen vielseitigen Talenten voll entfalten konnte. Den letzte Kartengruß an seine Frau hatten dunkle Vorahnungen diktiert. Im Krankenhausbericht vom achten Februar1960 hieß es lakonisch, dass „die Umstände und die Stunde des Sturzes nicht präzisiert werden können.“ Bis heute ist Helmut Drechsler unvergessen geblieben, wird es auch bleiben, solange sein Nachlass existiert in Form von Publikationen, Druckerzeugnissen, Fotografien, Kalendern, Bildern. Ein Mensch ist erst tot, wenn ihn die Nachwelt vergessen hat. Solange es Menschen gibt, die ihn nicht vergessen haben, lebt er in der Erinnerung fort. Gedenksteine, Namen von Straßen und Wegen, sie tragen seinen Namen.
Jan hat schon öfters darüber nachgedacht, was für eine außerordentliche Persönlichkeit dieser Helmut Drechsler war. Aus bescheidenen Verhältnissen kam er, wuchs ohne Vater auf, da dieser früh verstorben war. Schwer war es für die Mutter, drei kleine Kinder zu versorgen. Der Direktor der Schule erkannte die Begabungen des Jungen, förderte ihn, schickte ihn auf das Lehrerbildungsseminar. Nach bestandenem Examen nahm er keine Position als Lehrer an, sondern machte sein Hobby zum Beruf. Vielseitig begabt wie er war, war er vielseitig einsetzbar, war Fotograf und Schriftsteller, war ein begnadeter Redner, füllte Säle, war ein blendender Organisator, wurde von den Wissenschaftlern geschätzt. In jungen Jahren verfügte er über die finanziellen Mittel, um sich in Colditz in herrlichster Lage ein Haus bauen zu lassen. Er führte ein Leben, das nur wenigen vorbehalten ist. Jan beneidete ihn. Nur wenige sind auserwählt, aber noch weniger sind berufen, so ein erfolgreiches, abenteuerliches Leben führen zu dürfen. Er war eine starke Persönlichkeit, von seiner Kompetenz, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten und seinem Wert überzeugt.
Jan wollte Förster werden. Er liebte die Natur: die Tiere, Pflanzen, Seen, Flüsse, Berge, Wiesen, Weiden. Ständig beobachtete er seine Umwelt, verfolgte das Geschehen mit offenen Augen, registrierte jede Bewegung, jede Veränderung. Viel hielt er sich draußen an der frischen Luft auf, zu allen Jahreszeiten, brauchte seine Bewegung. Zu seinem zehnten Geburtstag erhielt Jan ein Fahrrad. Es war kein neues Fahrrad. Viele aus seiner Klasse hatten Fahrräder zu den Geburtstagen oder zu Weihnachten von den Eltern geschenkt bekommen. Das waren alles neue Fahrräder, in allen Farben gespritzt. Sein Fahrrad war eine Rarität, setzte sich aus Bauteilen unterschiedlicher Fahrräder und Fahrradtypen zusammen, deshalb wirkte es kurios, höchst seltsam. Die Farbe seines Fahrrades war auch nicht aufgespritzt worden, sondern es war angestrichen worden. Der Monteur hatte ein freundliches Dunkelblau gewählt, auf dem Fahrrad-Rahmen hatte er einige Nasen hinterlassen, doch die beeinträchtigten nicht das Aussehen. Das Wichtigste war, Jan besaß ein blaues Fahrrad, das auch fuhr. Das Fahrrad hatte keine Gangschaltung, die hatten damals nur wenige. Jan probierte sein Rad aus, wählte den Auenwald zunächst als Ziel. Heiß schien die Sonne. Im Auenwald war es schwül. Die Mücken griffen an, verfolgten ihn, stachen. Sie rückten an in dichten Schwärmen, fielen erbarmungslos über ihn her. Die Haut juckte, rote Flecken bildeten sich, die anschwollen. Er wurde immer von den Mücken am meisten geplagt. Sein Vater sagte, dass die Mücken sein süßes, gesundes Blut bevorzugen, es zu sich nehmen wollen, weil es am besten schmeckt. Deshalb überfallen sie ihn scharenweise, um ihm das Blut abzuzapfen. Den Wald durchflossen viele Wasserläufe, überwuchert von vielen Pflanzen, die Jan nicht kannte. Die einzigen Pflanzen, die ihm bekannt waren und hier in üppigen Beständen sich ausbreiteten, waren die Farne und das Schilf mit den Rohrpumpen. Gern hätte Jan einige Stängel mit Kolben mit dem Taschenmesser abgeschnitten und seiner Mutter als Schmuck für die große Vase überreicht, aber die Rohrpumpen waren zu weit vom Rand des Gewässers entfernt. Die Wasserläufe endeten mitunter in kleinen Seen, auf denen sich Wasservögel tummelten.