Kitabı oku: «Geh, wilder Knochenmann!»
Werner Ryser
Geh, wilder Knochenmann!
Roman
Im Gedenken an
meinen Grossvater Ruedi Ryser
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern
Lektorat: René Karlen, Roland Schärer
Umschlag: Stephan Bundi, Boll
Satz und Druck: Merkur Druck AG, Langenthal
Einband: Schumacher AG, Schmitten
ISBN 978-3-305-00477-5
eISBN 978-3-305-00497-3
Das Bundesamt für Kultur unterstützt
den Cosmos Verlag mit einem Strukturbeitrag
für die Jahre 2016–2020
Inhalt
Die Geschwister
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Die Brüder
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Jakob
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Werner Ryser: Die grusinische Braut
Vorüber! Ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Matthias Claudius
Die Geschwister
1
Nichts hatte darauf hingedeutet, dass Hannes Diepoldswiler, als er am Morgen aufgestanden war, den Abend dieses 20. Septembers 1859 nicht mehr erleben würde. Er war in den besten Jahren, kräftig und kerngesund. Am Vortag hatte er vier Tauner, die ihm zur Hand gingen, wenn Not am Mann war, aufgeboten, ihm zu helfen, das Gras einzubringen, das sie am Samstag geschnitten und seither zum Trocknen liegen gelassen hatten. Seit Tagen herrschte ungewöhnlich warmes Nachsommerwetter. Die Sonne brannte heiss auf die Rücken der Männer, während sie mit ihren Gabeln das Heu auf den Wagen luden, den Diepoldswiler, Fuhre um Fuhre, zum Auenhof brachte, wo es seine beiden Knechte auf den Haufen des dürren Grases aus der Juniernte schichteten, der jetzt bis unter den First des Tenns wuchs.
Im Lauf des Nachmittags hatte sich am westlichen Horizont eine mächtige schwarze Wolkenwand aufgetürmt, eine Front, die sich rasch näherte. Die Tauner drängten darauf, die Arbeit abzubrechen und das Heu in Gottes Namen ein zweites Mal trocknen zu lassen. Aber der Bauer, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, auch noch die letzten drei Fuhren einzubringen, wollte nichts davon wissen.
Und dann kam Wind auf. Innert Minuten war das weite Land mit seinen bewaldeten Hügeln in eine bleierne Düsternis gehüllt. Sintflutartig stürzte das Wasser vom Himmel. Als Hannes Diepoldswiler mit dem leeren Wagen vom Tenn zurückkam, entlud sich direkt über ihm ein Unwetter von apokalyptischen Ausmassen, ein wahres Inferno. Den Elementen trotzend stand er mit nacktem Oberkörper breitbeinig auf dem Wagen. Fluchend schlug er mit der Peitsche auf die Pferde ein. «Ho», schrie er und «vorwärts ihr Teufel!» Aber die Gäule, erschreckt vom grellen Licht der Blitze und den fast gleichzeitig krachenden Donnerschlägen, scheuten, bäumten sich in ihrem Geschirr auf, brachen aus und liefen in einen abgeernteten Rübenacker. Vergeblich versuchte Diepoldswiler, sie zum Stehen zu bringen. Der Wagen schwankte. Der Bauer stürzte von der Ladefläche. Es gelang ihm nicht, sich von den Zügeln zu befreien, die er um sein linkes Handgelenk geschlungen hatte. Verzweifelt klammerte er sich an der Deichsel fest, während seine Beine über den Boden schleiften. Das Gefährt kippte zur Seite. Sinnlos drehten sich zwei Räder in der Luft. Spürte er noch, wie ihn ein Huf eines der Tiere, das in seiner Panik auskeilte, an der Schläfe traf? Endlich blieben die Pferde stehen, zitternd vor Angst und Erschöpfung.
So rasch wie es gekommen war, zog das Gewitter weiter. Der Regen liess nach, und im Westen wurde ein heller Streifen sichtbar. Der Bauer bekam davon nichts mehr mit. Als die Tauner den Ort des Unglücks erreichten, war er bereits tot.
Als der elfjährige Simon Diepoldswiler am späten Nachmittag aus der Dorfschule nach Hause kam, war die Wohnstube des Auenhofs voller Menschen – Knechte, Mägde, Nachbarinnen, Nachbarn. Sie traten zur Seite und öffneten ihm eine Gasse, so wie sie es zuvor bereits bei Esther und Jakob, Simons älteren Geschwistern, getan hatten.
Der Vater lag auf dem Tisch. Seine Kleider zerrissen und schmutzig, sein zerschlagenes, blutverkrustetes Gesicht bleich. Simon wusste sofort, dass er tot war. Damals, vor zwei Jahren, als er vor der aufgebahrten Leiche seiner Mutter gestanden war, in deren Arm ein totes Kindlein lag, hatte er es nicht wahrhaben wollen. Ihre Reglosigkeit hatte ihn zwar geängstigt, aber zugleich hatte er gehofft, sie erwache wieder. Erst als man sie zusammen mit dem Brüderlein ins Grab versenkte und jemand ihn aufforderte, eine Handvoll Erde auf den Sarg zu werfen, der schwarz aus dem tiefen Schacht heraufdrohte, hatte er verstanden, dass er sie nie wiedersehen würde.
Lena, die alte Grossmagd, die bereits 1811 als Dreizehnjährige in den Dienst der Diepoldswilers getreten war, hatte in der Folge das Regiment im Haushalt übernommen. Das Essen stand auf dem Tisch wie immer, und sie sorgte dafür, dass die Kinder saubere Kleider hatten. Mehr konnte sie nicht tun in diesem Haus, das seiner Seele beraubt worden war.
Als Esther, wie sie es sich nach dem Tod der Mutter angewöhnt hatte, an diesem Abend die Kammer ihrer beiden Brüder betrat, um ihnen Gutenacht zu sagen, lag Simon bereits im Bett. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und starrte an die Balkendecke.
Jakob sass am Tisch und malte. Pfarrer Amsoldinger, bei dem er in den biblischen Unterricht ging, hatte dem zeichnerisch begabten Jungen vor einiger Zeit einen Malkasten geschenkt und ihn in die Technik des Aquarellierens eingeführt. Seither nutzte er jede freie Stunde, um das, was ihn beschäftigte, auf Papier oder Karton festzuhalten.
Esther schaute ihm über die Schultern und betrachtete das Bild, an dem er arbeitete. Vor dem Hintergrund eines nachtschwarzen Himmels stürzte ein in Flammen gehüllter Mann kopfvoran von einem mit vier geflügelten Rossen bespannten Streitwagen ins Bodenlose. Die Darstellung der Pferde, deren Proportionen nicht ganz stimmten, überforderte seine Fähigkeiten. Aber sein Talent war offensichtlich, und mit der entsprechenden Förderung würde er es später zu einer gewissen Meisterschaft bringen.
«Wer ist das?», fragte sie.
«Phaethon», sagte Jakob ohne den Kopf zu heben. Und da er annahm, dass die Schwester mit diesem Namen nichts anfangen konnte, erklärte er, Phaethon sei der Sohn des Sonnengottes Helios, von dem er die Gunst erbeten habe, für einen Tag den Sonnenwagen übers Firmament lenken zu dürfen.
Der Bruder malte, wie so oft, eine der Geschichten aus den Schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Das Buch, das offen auf dem Tisch lag, war ebenfalls ein Geschenk des Pfarrers.
«Er hat sich überschätzt. Die alten Griechen nannten das Hybris.» Jakob wandte der um zwei Jahre älteren Schwester sein von Sommersprossen übersätes Gesicht zu.
Hybris – auch so ein Wort, das er von Pfarrer Amsoldinger hat, dachte Esther und strich ihm das weiche, rote Haar aus der hohen Stirn. «Sich überschätzt? Wie der Vater?»
Jakob gab ihr keine Antwort und widmete sich wieder seiner Malerei. Er war aus der Art geschlagen. Einer, der seine Zeit mit Pinsel und Bücher vertue, sei kein rechter Diepoldswiler, hatte der Vater gezürnt und ihn mehr als einmal als Kuckuckskind bezeichnet. Seit dem Tod der Mutter war der Alte verbittert. Er hatte seine Launen oft an Jakob ausgelassen, der ihm, wenn immer möglich, aus dem Weg ging – gegangen war.
Esther setzte sich ans Bett von Simon, der, anders als sein feingliedriger Bruder, ein kräftiger, kleiner Bursche war. «Mein kleiner Stier» hatte ihn der Vater genannt. Nicht nur, weil Simon in diesem Sternzeichen zur Welt gekommen war, sondern weil man schon jetzt sehen konnte, dass er einmal breiter, muskulöser und kräftiger werden würde als Jakob – eben: ein Stier. «Und du – wo bist du mit deinen Gedanken?», fragte sie.
Der Junge schaute die Schwester aus seinen dunklen Augen an. «Jetzt ist er tot», sagte er, «und ich brauche keine Angst mehr zu haben, dass er sich wieder verheiratet.»
«Hast du davor Angst gehabt?»
Simon nickte.
«Aber weshalb denn?»
«Dann hätten wir noch Geschwister bekommen, vielleicht einen jüngeren Bruder.»
«Und darüber hättest du dich nicht gefreut?»
«Nein.» Noch immer lag der Junge, ohne sich zu rühren, auf dem Rücken mit den Händen unter dem Kopf. «Ich bin auch froh, dass der Bub, der Mutter umgebracht hat, tot ist.»
Mehr als einmal hatte Esther gehört, wie der Vater sagte, es sei ein Glück, dass man im Kanton Bern lebe, wo nach geltendem Recht der Betrieb einmal ungeteilt an den jüngsten Sohn gehe. Ein Träumer wie Jakob würde den Hof gewiss herunterwirtschaften.
«Du wirst den Auenhof nie erben.» Jakob unterbrach seine Arbeit und wandte sich im Stuhl halb um. «Sie werden ihn verkaufen.»
Simon setzte sich auf. «Jetzt, wo Vater tot ist, gehört er mir. Niemand darf ihn mir wegnehmen!»
Jakob zuckte mit den Schultern und begann wieder zu malen.
«Sag, dass das nicht wahr ist!» Der Kleine packte die Schwester am Arm.
Esther presste die Lippen aufeinander. «Wir sind jetzt Waisen», sagte sie schliesslich. «Du wirst noch früh genug erfahren, was das bedeutet.» Sie küsste ihn auf die Stirn und verliess den Raum.
2
Der Auenhof war seit mehr als hundertfünfzig Jahren im Besitz der Familie. Er lag unterhalb von Langnau am Südrand der Schwemmebene, welche die Ilfis im Lauf von Jahrtausenden geschaffen hatte. Er war eines jener stattlichen Emmentaler Gehöfte, dessen mächtiges, mit roten Ziegeln bedecktes Walmdach Wohnhaus, Stall, Speicher und Tenn beschirmte. Besonders prächtig war die nach Südwesten ausgerichtete Giebelfassade mit ihren beiden übereinanderliegenden Reihen von je zehn Fenstern, die durch eine grau gefasste, mit Schnitzereien verzierte Gadenbrüstung getrennt waren. Davor lag der Blumengarten. Den Pflanzplätz hatte man hinter dem Haus angelegt.
Die fünfundzwanzig Jucharten Land, die zum Betrieb gehörten, wurden teils für Viehwirtschaft, teils für den Anbau von Getreide, Rüben, Kartoffeln und Obst benutzt. Was man nicht für den Eigenbedarf brauchte, verkaufte man auf dem Markt. Die Diepoldswiler galten als reich. Sie besassen auch ein Stück Wald, drüben auf der Dürsrüti. Ausserdem betrieben sie an der Ilfis eine Mühle, wohin die Bauern aus den umliegenden Höfen ihr Korn zum Mahlen brachten.
Auch auf dem benachbarten Lindenhof, der auf halber Höhe des Ilfisstalden lag, lebte eine Familie Diepoldswiler. Es gab einen gemeinsamen Ahnherrn, Gottlieb, der in jungen Jahren am Bauernkrieg von 1653 teilgenommen hatte. Dessen Jüngster, Niklaus, hatte den väterlichen Hof geerbt, während sein Bruder Rudolf, von dem Hannes in direkter Linie abstammte, sich auf dem Erbe seiner Frau, Ursula Jacob, unten, am Rand der Schwemmebene, eingerichtet hatte.
Die Auenhof- und die Lindenhof-Diepoldswiler, wie man sie in der Gegend nannte, verkehrten kaum miteinander. Man neidete sich die Butter auf dem Brot, schaute scheel auf den Besitz der jeweils anderen. Die Väter rangelten um Einfluss im Dorf und übernahmen, nur um den Verwandten oben am Ilfisstalden oder unten in der Ebene zu ärgern, Ämter in der Gemeinde. Zurzeit sass der Besitzer des Lindenhofs, Moritz Diepoldswiler, im Gemeinderat, wo er fürs Fürsorge- und Vormundschaftswesen zuständig war. Ausserdem war er Mitglied des Kirchenvorstands. Er und sein Vetter stritten sich seit Jahr und Tag um ein Stück Ackerland. Die Kosten, die ihnen durch ihr endloses Prozessieren entstanden waren, hatten den Wert der Parzelle längst um ein Mehrfaches überstiegen. Aber keiner der beiden war bereit nachzugeben. Mit dem Tod von Hannes war wohl auch der Rechtsstreit entschieden, denn wer sollte dem Lindenhof-Bauern jetzt noch den Acker streitig machen, zumal er als Waisenvogt Vormund von Esther, Jakob und Simon werden würde.
In den drei Tagen, in denen Hannes Diepoldswiler bei geöffnetem Fenster aufgebahrt in seiner Kammer lag, kamen Leute aus der ganzen Umgebung, um einen letzten Blick auf den reichen Bauern zu werfen. Am Freitag, unmittelbar nachdem man seinen Vetter auf dem Gottsacker neben seiner Frau Anna Maria zur letzten Ruhe gebettet hatte, erschien, noch immer in Trauerkleidung, Moritz Diepoldswiler auf dem Auenhof. Er war ein stattlicher Mensch von etwa fünfzig Jahren. In seinem vollen, dunklen Haar war noch keine graue Strähne zu sehen. Ein sorgfältig gestutzter Schnurrbart verdeckte die Oberlippe. Ohne anzuklopfen, betrat er die Wohnstube, wo die Kinder des Verstorbenen und das Gesinde beim Mittagessen sassen. Er legte seinen Zylinder ab und nahm unaufgefordert am oberen Ende des Tisches Platz, dort, wo immer der Vater gesessen war. Ob er mithalten dürfe, fragte er und musterte die kleine Gesellschaft, während ihm Lena einen Teller mit Bohnen, Kartoffeln und Speck auftischte und eine Karaffe mit Wein vor ihn hinstellte.
Er gab sich freundlich, tätschelte Esthers Oberarm, fuhr den beiden Buben durchs Haar. Seine schmalen Augen schienen zu lächeln, und dass er den Freuden einer gedeckten Tafel nicht abgeneigt war, bezeugte ein respektabler Bauch, der die Knöpfe seiner Weste zu sprengen drohte. Er senkte den Kopf und faltete die Hände zum stummen Gebet. Dann zog er seinen Rock aus, hängte ihn über die Stuhllehne und lockerte die schwarze Halsbinde, die er unter den Kragenspitzen zu einer kunstvollen Schleife gebunden hatte.
Während er ass, beobachteten ihn die Kinder. Sie wussten, dass er und ihr Vater zerstritten gewesen waren, und fragten sich, was der Onkel, den man bis heute gemieden hatte, von ihnen wollte.
Endlich legte Moritz Diepoldswiler Messer und Gabel neben den Teller und erklärte, jetzt, nach dem Tod seines Vetters, sei er als Waisenvogt zum Vormund der drei vater- und mutterlosen Kinder, deren Rechte und Wohlergehen ihm am Herzen lägen, bestellt worden. Ab morgen werde sein Sohn Viktor auf dem Hof zum Rechten sehen. Dessen Anweisungen – er fasste Baschi, den Karrer, und Dölf, den Melker, scharf ins Auge – sei Folge zu leisten. Ob jemand Fragen habe?
Viktor war das jüngere Ebenbild des Alten: dunkelhaarig, gross, mit einer Neigung zur Korpulenz und einem Schnurrbart, den er hingebungsvoll pflegte. Auch in seiner Art war er bemüht, sich an das Vorbild des Erzeugers zu halten. Er gab sich freundlich und jovial, war aber darauf bedacht, dass man ihm mit Respekt begegnete. Auf Widerspruch reagierte er mit dem Heben der rechten Braue, steckte die Daumen in die Ärmelöffnungen seiner Weste und drückte die Brust heraus.
Frühmorgens, wenn die Kühe gemolken und auf die Herbstweide getrieben worden waren und man sich in der Wohnstube zum Frühstück an den grossen Tisch setzte, wo Lena heisse Milch, Brot, Butter, Käse und eine Rösti mit Spiegeleiern aufgetischt hatte, las er zuerst einen Text aus der Schrift und sprach ein Gebet, bevor man zu Messer und Gabel greifen durfte. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen, hatte er bereits am ersten Tag aus dem Buch Josua zitiert und hinzugefügt, solange er das Sagen habe, werde man sich hier – genau gleich wie auf dem Lindenhof – benehmen, wie es sich für Christenmenschen gehöre. Vor dem Essen werde gebetet, vor jedem Essen, und am Sonntag gehe man gemeinsam zur Predigt. Schliesslich sei sein Vater Mitglied des Kirchgemeinderats.
Für die Kinder waren die frommen Bräuche neu. Zwar hatte auch die Mutter zu Lebzeiten abends mit ihnen vor dem Einschlafen am Bett gebetet, aber seit ihrem Tod fragte man auf dem Auenhof dem lieben Gott, dem der Vater zürnte, nicht mehr viel nach. An Weihnachten, an Ostern und an Pfingsten ging man nach Langnau in die Kirche. Mehr nicht. Einzig Jakob, der bei Pfarrer Amsoldinger den Unterricht besuchte, kannte biblische Geschichten, die ihn aber vor allem als Vorlagen für seine vielen Zeichnungen interessierten.
Moritz Diepoldswiler erschien häufig. Oft begleitete ihn ein anderer Grossbauer aus der Gegend. Gemeinsam gingen sie in den Stall und über die Felder. Dann verhandelten sie in der Wohnstube hinter verschlossenen Türen. Lena musste ihn und seine Besucher mit saurem Most, Brot und kaltem Fleisch bewirten.
Von den Gesprächen, die der Lindenhof-Bauer in der Wohnstube führte, bekam sie dieses und jenes mit. Sie reimte sich zusammen, dass der Waisenvogt beabsichtigte, einen Teil des Landes, aber auch des Viehs, das Hannes Diepoldswiler gehört hatte, weit unter dem Wert zu verschachern. Die Erkenntnis erfüllte sie mit ohnmächtigem Zorn. Oft genug hatte Lena schon erlebt, wie beim Tod eines Bauern dessen minderjährige Kinder von den Mächtigen im Dorf schamlos um ihr Erbe betrogen worden waren.
Inzwischen hatte der Herbst endgültig Einzug gehalten. Am letzten Sonntag im Oktober waren Esther, Jakob und Simon mit Viktor Diepoldswiler und dessen Vater, wie das neuerdings der Brauch war, in der Kirche gewesen. Esther hatte auf der Frauenseite Platz genommen und sich bemüht, der Predigt Pfarrer Amsoldingers zu folgen. Ihre beiden Brüder, die jenseits des Mittelgangs, zur Linken und zur Rechten von Viktor Diepoldswiler sassen, schienen sich zu langweilen. Während sich Jakob in die Malereien an den Kirchenfenstern vertiefte, legte Simon seinen Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Möglicherweise zählte er die einzelnen Felder der Täfelung. Ganz gewiss hörte keiner von beiden auf das, was der Geistliche zu sagen hatte. Dabei legte der einen Text aus dem Buch Zacharias aus, der, wie Esther begriff, auch sie betraf: Fügt den Witwen, Waisen, Fremden und Armen kein Unrecht zu. Und schmiedet keine bösen Pläne gegeneinander.
Der schlanke, hochgewachsene Mann, der trotz schwarzem Talar und weissem Beffchen mit seinen ausgezehrten Gesichtszügen, dem kurz geschnittenen, grauen Haar und dem gestutzten Bart eher an einen Asketen erinnerte als an einen reformierten Pastor, wandte sich immer wieder seinen Vorgesetzten zu, den Mitgliedern des Kirchgemeinderats, zu denen auch Moritz Diepoldswiler gehörte. Sie alle sassen in ihrem schwarzen Sonntagsstaat im geschnitzten Chorgestühl den Gläubigen gegenüber. Ihre Gesichter blieben reglos. Nur der Lindenhof-Bauer runzelte die Stirn, als der Geistliche den Herrn anflehte, die Herzen jener, die in der Gemeinde das Sagen hatten, zu erweichen und sie barmherzig werden zu lassen gegen die, welche ihrer Hilfe bedurften.
Moritz Diepoldswiler hatte angekündigt, dass er heute den drei Kindern seines Vetters eröffnen wolle, wie es für sie nach dem Tod ihres Vaters weitergehen würde. Stumm schritten sie nach dem Gottesdienst auf der Strasse von Langnau Richtung Auenhof hinter dem Onkel her, der über ihr künftiges Schicksal bereits entschieden hatte.
Er wolle sich kurzfassen, sagte er, als sie endlich in der Stube des Auenhofes sassen. Für sie als Waisen sei von nun an die Gemeinde zuständig. Er als ihr Vormund habe die Beschlüsse des Gemeinderats nach Treu und Glauben umzusetzen. Als Erstes habe man entschieden, den Auenhof zu verkaufen, damit für Kost, Erziehung und Ausbildung der drei Minderjährigen genügend Geld vorhanden sei. Haus, Stall, Speicher und Scheune, die Hälfte des Landes und des Viehbestands habe er selber erworben. Bis er das gesamte Erbe antrete, werde Viktor als Pächter den Betrieb weiterführen und ihm, dem Vater, zinsen. Alles andere habe man an Bauern aus der Gegend verkaufen müssen. Bereits morgen Montag würde ihnen das Vieh übergeben, ebenso das Land, das abzutreten man gezwungen gewesen sei.
«Ihr dürft Vaters Hof nicht verkaufen, Onkel», sagte Simon mit schriller Stimme. «Er hat mir versprochen, dass ich ihn einmal erben werde.»
Der Alte drehte langsam den Kopf und musterte den Elfjährigen, der seinem kalten Blick unerschrocken standhielt. Im Raum wurde es totenstill. Esther und Jakob waren erstarrt, und auch Viktor, der neben seinem Vater sass, rührte sich nicht. Und dann schlug der Lindenhof-Bauer den Jungen links und rechts ins Gesicht. «Du wirst mir nie mehr sagen, was ich tun darf und was nicht!», donnerte er.
Simon, dessen Wangen sich röteten, biss sich auf die Lippen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber er gab keinen Laut von sich. «Ihr dürft den Hof nicht verkaufen», wiederholte er.
Diepoldswiler lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Ich fasse es nicht. Nun, wer nicht hören will, muss fühlen. Sperr den Flegel bis zum Abend in den Keller!», befahl er seinem Sohn. «Vielleicht kommt er dort zur Besinnung.»
Viktor stand auf, packte den sich heftig sträubenden Jungen am Genick und zerrte ihn aus der Stube. Esther begann zu weinen, Jakob sah den Onkel an, als wolle er sich den Ausdruck seines Gesichts für Zeit und Ewigkeit einprägen. Niemand sagte ein Wort.
Erst als Viktor zurückkam und dem Vater zunickte, fuhr der fort, als sei nichts geschehen. Er wandte sich Jakob zu. «Du hast Glück. Dich will Pfarrer Amsoldinger zu sich in Pflege nehmen. Du sollst bei ihm wohnen, und wenn du im nächsten Herbst die Schule beendet hast, will er dich bei Giger in die Lehre geben.»
Wie ein schüchterner Sonnenstrahl huschte ein Lächeln über das Gesicht des Jungen. Ferdinand Giger war ein bekannter Landschaftsmaler. Jakob, der nie hatte Bauer werden wollen, würde bei ihm das Malerhandwerk von Grund auf lernen. Dazu kam, dass der Pfarrer und seine Frau, deren Ehe kinderlos geblieben war, ihn mochten.
«Hör auf zu flennen, Mädchen», fuhr Diepoldswiler Esther an, der noch immer Tränen über die Wangen liefen. «Für dich wird sich nicht viel ändern. Du bleibst hier, als Jungmagd.» Er hob die Stimme: «Hast du verstanden?»
Esther nickte schluchzend. Sie wusste, dass sie, wie jede Bauerntochter in ihrem Alter, ohnehin auf einem Hof als Magd zu dienen hatte, bis jemand sie heiraten würde.
Was mit Simon geschehen werde, wagte sie zu fragen.
«Mit dem? Der wird verdingt. Wir werden ihn bei einem Bauern unterbringen, der ihm seine Flausen austreiben wird.» Diepoldswiler erhob sich. Es sei alles gesagt, was es zu sagen gebe. Er wolle jetzt gehen. Zuhause warte das Mittagessen auf ihn.