Kitabı oku: «Mein Sonntag in Münster»

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Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster

Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014

AndroSF 85

Werner Zillig

MEIN SONNTAG IN MÜNSTER

Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014

AndroSF 85

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2017

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 095 5

Werner Zillig

Mein Sonntag in Münster

Science-Fiction-Erzählungen 1978–2014

Die Finger im Licht

»Hier bist du verloren!«, sagte er.

Er trat auf mich zu, als ich versuchte, durch die Tür zu gehen. Er wollte mich nicht einlassen. Er versuchte, mich durch seine Worte am Weitergehen zu hindern. Er trat mir in den Weg, als ich dennoch weiterging. Ich sagte ihm nur den einen Satz. Ich sagte ihm, ich sei nicht der, den er sehe, ich sei überhaupt nicht da. Er schaute mich starr und ohne Verständnis an. Ich ging an ihm vorbei.

Der Raum ist leer. Er ist so vollkommen leer, dass es mir jetzt, nachdem ich mich zwei- oder dreimal gedreht habe, unmöglich ist zu sagen, woher ich gekommen bin. Ich drehe mich um, ich suche. Ich höre ein Lied. Das hat man an dem Feuer gesungen, in dem ich verbrannt bin. Das Lied weist mir keinen Weg. Ein Bündel Papier fällt ganz langsam auf einem schräg gestellten Kissen, gleitet mit einem kratzenden Geräusch, das ihm Leben eingibt. Auch das unbeschriebene Papier weist mir keinen Weg. Das Papier, auf dem Worte geschrieben sind, ist nur beschrieben, um mich zu verwirren. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Sie ist von der Wand aufgenommen worden. Die Tür gibt es nicht mehr. Es gab nie eine Tür, es wird keine Tür geben. Aber ich bin stark genug, dieses Wissen zu ertragen, und ich suche nach der Tür, durch die ich gekommen bin und die es trotzdem nicht gab und nicht gibt und nicht geben wird. Der Raum ist dunkel, so dunkel, als gäbe es kein Licht. Es flackern nur Gedanken auf, ich denke an das Feuer, in dem ich verbrannt bin. Und ich glaube, zu leben.

Ich habe hierher kommen müssen, ich hatte nie eine Wahl. Der Mann vor der Tür war der Letzte, der mich hätte aufhalten können, aber er war nicht unüberwindlich. Er war nicht unbezwingbar, ja, er war nicht einmal stark. Er hatte die Gewissheit, und ich nahm sie ihm, und er verging. Draußen, außerhalb des Raumes, haben sie immer gewusst, dass es, steht man vor einer Tür, möglich ist, einzutreten oder wegzugehen.

Aber Wissen ist nichts. Es gibt diese Möglichkeit nicht, was hätte ich tun sollen? Ob ich aus einer Höhle komme oder von einem Berg, ob ich blind bin oder halb sehe, es gibt keinen anderen Weg. Ich bin in einem Raum und war nie außerhalb des Raumes. Ja, ich rede von draußen, aber warum eigentlich? Ich könnte von Städten reden, von den Menschen und ihren Gesichtern, ihren Haaren. Ich könnte von den Steinen reden. Aber alles ist draußen, nicht hier. Und dennoch: Nichts ist draußen, überhaupt nichts. Es ist nicht leicht zu sprechen. Wie schlägt man ein Licht, wenn man weiß, dass es kein Licht gibt? Es ist schwer, ein Wort zu sagen, ein Wort zu schreiben, wenn man weiß, dass es in einem Raum steht, den es nie verlassen wird.

Hier geschieht nichts. Hier lohnt es sich nicht, einen anderen zu kennen. Hier kann nichts heraus, und hier kann nichts herein. Hier gibt es nichts, worin ich mich betrachten könnte. Es gibt keine Spiegel. Es gibt die Erinnerung an das Feuer.

Ich kenne ihren Unglauben.

Ich kenne ihren Unglauben, und deshalb habe ich ihre Gesichter aufgesetzt, wenn ich auf die Straße ging. Nun gibt es die Straßen nicht mehr, und weder Unglaube noch Glaube existieren. Es gibt die Furcht, aber die ist nicht in diesem Raum. Jahrelang bin ich durch sie hindurchgegangen, seit dem Tag, an dem er mich von der Tür abzuhalten suchte. Aber es gibt den Mann vor der Tür nicht.

Zuerst ging ich mit ausgestreckten Händen, weil ich erwartete, an eine Wand zu stoßen. Jetzt gehe ich immer noch, doch ich strecke die Hände schon lange nicht mehr aus. Ich wollte, ich liefe gegen eine Wand. Ich wollte, ich zerschlüge mir daran mein Gesicht, ganz.

Irgendwo steht auf einem runden Tisch, auf dem ein rotes Wachstuch liegt, eine braune Limonadenflasche, ein kleines Blechgefäß mit Curry gefüllt, ein Band von Marcel Prevost, Lettres à Françoise, ein weiteres Buch. Eine Anzahl von Zetteln liegt neben einem niedrigen Glas. Vielleicht steht auf einem dieser Zettel, dass ich M. nicht kenne. Auf einem jedenfalls habe ich einen Satz, ein Zitat geschrieben, überflüssigerweise.

Und ich gehe. Und es gibt nicht den Tisch und nicht den Satz. Es gibt keine kleine Tänzerin, die in einem Loch aus Licht eine sehr schnelle Pirouette versucht, mit ausgebreiteten Armen. Diese Arme reichen in das Dunkel.

Ich habe gerufen. Ich wollte durch ein Echo, durch die Rückkehr meiner eigenen Stimme aus der Ferne eine Wand spüren, ein Ende. Nirgendwo stieß meine Stimme an eine Wand, nirgendwo war ein Hindernis.

Ich lache oft jetzt. Mein Lachen ist ein dauerndes Rufen, das mich nicht anstrengt. Mein Lachen wartet auf kein Echo. Das ist das Entscheidende.

In diesem Raum gibt es keine Wege. Überall ist der Weg, ein sorgfältig geebneter Weg ohne Steine. Nicht das kleinste Hindernis steht mir im Weg.

Der Raum: An einem Abend bemerke ich überrascht, dass eine der beiden Glühbirnen meiner Lampe nicht mehr brennt. Ich gehe zur Lampe und versuche, die Birne fester in die Fassung zu drehen. Ich spüre, dass sie fest darin steckt. Aber sie brennt dennoch nicht. Ich nehme die Birne heraus und lege sie ans Ohr. Ich vernehme ein kleines, dünnes Geräusch, das immer weiter bestehen wird, ohne Ende. Von nun an wird mich dieses Geräusch begleiten. Ich denke daran, dass die zweite, jetzt noch intakte Glühbirne auch kaputtgehen könnte. Dann wäre es plötzlich finster, und anstelle des Lichts träte ein doppeltes kleines Geräusch. Dann wäre die Tür endgültig verschlossen, keiner könnte sie mehr öffnen. Die Vorhänge vor dem Fenster blieben zugezogen, keiner könnte sie mehr bewegen.

Meine Bücher, in denen ich nicht mehr lesen könnte, rückten weiter und immer weiter von mir fort. Auch die anderen Gegenstände entfernten sich. Zuerst geschieht dies sehr langsam, dann immer schneller. Am Anfang brauche ich, um vom Tisch zu dem Sessel, der daneben steht, zu gelangen, eine Minute. Dann zwei Minuten. Irgendwann brauche ich einen vollen Tag. Das ist die Zeit, in der ich beginne, auf dem Fußboden zu schlafen, weil das Bett inzwischen so weit von mir entfernt ist, dass ich nicht mehr hinkommen kann, ohne unterwegs vor lauter Müdigkeit und Schwäche hinzufallen und einzuschlafen. Eines Morgens dann – ich nenne diese Zeit den Morgen, weil ich eben erwacht bin – gehe ich in die Richtung, in der ich meinen Sessel vermute. Und der Sessel, der bei meinem Einschlafen nur so weit von mir entfernt war, dass ich ihn, wenn ich meinen Arm ausstreckte, leicht berühren konnte, hat sich in der Nacht so weit entfernt, dass ich ihn nicht mehr erreiche. Der Abend ist die Zeit, in der ich müde bin. Als ich erwache und mich auf den Weg mache, habe ich jeglichen Orientierungssinn verloren. Ich gehe trotzdem, aber ich weiß jetzt, dass ich den Sessel nie mehr erreichen werde. Und auch der Tisch mit den nutzlosen Büchern darauf bleibt für immer unerreichbar. Die Kreisbögen zwischen Tisch und Bett werden mit jedem Tag größer, die Wahrscheinlichkeit, durch Zufall an einen Gegenstand zu stoßen, wird ständig geringer. Ich gehe dennoch.

In meinen Gedanken habe ich mir den Freudenschrei ausgemalt, den ich ausstoßen würde, wenn ich plötzlich an den Sessel stieße oder sogar an die Wand. Doch mit der Zeit verblasst auch die Erinnerung an diesen erdachten Schrei. Das Geräusch der Glühbirnen wird immer lauter. Wie bei vielen leisen und sehr gleichmäßigen Geräuschen kann ich ein Lauter- und Leiserwerden in regelmäßigen Abständen bemerken.

Im Zimmer war, daran erinnere ich mich noch, ein heller Teppichboden, die genaue Farbe habe ich vergessen. Jetzt, wenn ich niederknie und mit den Händen den Boden berühre, bemerke ich nicht die kleinste Rauheit. Selbst wenn ich mit einem Finger leicht über den Boden fahre, höre ich keinen Unterschied, in welche Richtung ich die Hand auch bewege. Also stehe ich auf und gehe weiter. Während ich gehe, rufe ich mir Gedichte oder Zeilen von Gedichten ins Gedächtnis. Die Erinnerung an ein Gedicht hält sich am längsten, doch auch sie vergeht mit der Zeit. Ich finde daraufhin in meinem Kopf nur noch Ausdrücke, von denen ich nicht mehr weiß, was sie bedeuten. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, was es heißt, mit der Diligence nach Drusenheim zu fahren. Ich bemerke, dass die Namen nicht mehr zählen, kein Wort hat mehr Sinn. Es ist nur noch eine alte Gewohnheit, die sich bis jetzt gehalten hat: Ich sage einen Satz, von dem ich glaube, dass er aus meiner Erinnerung aufgestiegen ist. Aber ich bin mir nicht mehr sicher. Ich erwache, ich gehe, ich werde müde, ich schlafe wieder. Und über allem, was ich tue, liegt das Geräusch der Glühbirnen. Oder ist das kein Geräusch?

Und an einem Morgen erwache ich und habe geträumt, alles sei hell. In einem Raum mit lichten, grünen Wänden stehen die Gegenstände eng beieinander. Ich habe deutlich einen Tisch gesehen, ein rotes Wachstuch darauf, eine Glasschale stand in meinem Traum auf einem gelben Teppichboden. Ein Buch mit einem hellblauen Einband, in dem Buch steckte ein Küchenmesser als Lesezeichen. Der schwarze Griff des Messers war auf der Unterseite des Buches, dort wo die Zeilen in die nächste Seite springen, deutlich sichtbar. Ich sitze noch eine Weile da und denke benommen über meinen Traum nach. Ich kann keinen Wert darin entdecken, nichts, was mir in meiner Lage helfen könnte. Ich stehe also auf, strecke die Arme, die während der Nacht steif geworden sind, weit von mir und höre, wie die Gelenke der Ellbogen knacken. Ich spreize die Finger. Ich lasse die Arme wieder fallen. Meine ersten Schritte an diesem Morgen sind unsicherer noch als sonst. Ich bin noch unentschlossen. Am Morgen, beim Erwachen, denke ich immer noch, dass ich eine Richtung finden muss, für die ich mich entscheide. Ich muss, während ich laufe, das Gefühl haben, dass ich mich von der Mitte des Zimmers entferne. Ich drehe mich und habe nach kurzer Zeit das untrügliche Gefühl: Das ist die Richtung! Ich gehe weiter.

Ich erlebe heute eine Überraschung. Ich gehe etwa in der Mitte der Zeit, die zwischen Morgen und Abend liegt, und spüre den Wind zuerst nur ganz leicht, sodass ich im ersten Augenblick glaube, ich hätte nur eine schnelle Bewegung gemacht. Aber der Wind wird bald stärker. Er ist kalt. Ich bleibe wie vor einem steilen Abhang stehen. Ich blicke mich um, ich starre in die Nacht. Meine Augen, die jetzt schon, während ich gehe, halb geschlossen sind, habe ich weit geöffnet. Der Wind macht meine Augen tränen. Und er wird immer stärker und immer kälter. Aber dennoch hoffe ich, dass der Wind bleibt. Vielleicht bin ich in ein Gebiet gekommen, in dem der Wind dauernd weht, immer aus der gleichen Richtung. Damit böte sich eine einfache Orientierungsmöglichkeit. Möglicherweise gibt es hinter dieser Stelle, an der ich jetzt bin, eine Region, in der es regnet, schneit, gefriert. Da müsste es also Wasser geben. Ich habe, seit ich vom Mittelpunkt weggegangen bin, noch keinen Tropfen getrunken. Erst jetzt merke ich, dass ich großen Durst habe. Ich versuche, diesen brennenden Durst zu löschen, indem ich den Mund öffne und den Wind hineinströmen lasse. Er kommt bis zu meinem Gaumen, fährt zwischen den Zähnen herum, unter die Zunge. Ich spüre den Wind immer deutlicher. Er ist eine Art Gefühl, ein Gefühl wie die Dankbarkeit, die ich früher immer gegenüber dem Zufall hegte.

Der Wind wird mir die Richtung zeigen. Ich werde mich nicht mehr drehen, früh, wenn ich vom Boden aufgestanden bin. Ich werde einfach aufstehen und gegen den Wind gehen. Das ist die Richtung, von diesem Tag an. Ich greife mit meiner linken Hand in mein Haar. Es ist staubig. Der Wind wird den Staub in wenigen Tagen aus meinem Haar geweht haben. Die Haare werden sich mit der Zeit nach hinten legen und mir nicht mehr ins Gesicht fallen. Und da ich weiter und immer weiter gegen den Wind gehe, wird der Wind meine Haare eng an meinen Kopf pressen, sodass sie, auch wenn ich mich niederlege, um zu schlafen, wie ein Helm meinen Kopf umschließen.

Ich beschließe, einen Tag lang zu laufen. Nicht zu schnell, nicht so, dass ich früher müde sein werde als an den anderen Tagen. Der Wind weht immer noch. Es ist nicht anstrengend zu laufen, jedenfalls wird es nicht viel anstrengender sein als das langsame oder schnelle Gehen. Am Abend werde ich müde sein, aber nicht müder, als ich es sein werde, wenn ich gehe. So, einen Fuß immer vor den anderen. Ja, ich werde laufen.

Während des Laufens habe ich Zeit, daran zu denken, was ich tun werde, wenn ich die Wand erreiche. Ich gehe, berühre sie immerzu mit den Fingerspitzen. Ich gehe ganz langsam und bemerke plötzlich eine kleine Unebenheit. Meine Finger tasten jetzt ganz langsam weiter, noch langsamer als vorher. Sie betasten mit Ehrfurcht den Türrahmen und gehen weiter bis zum Türgriff. Wenn ich die Tür nicht an der Seite erreiche, an der sich der Griff befindet, muss ich mich erst über die breite Fläche, die die Tür bildet, vortasten. Die Tür wird nicht verschlossen sein. Ich öffne sie und verlasse diesen Raum, gehe auf die Straße. Vielleicht schneit es. Ich gehe zu einer Telefonzelle und stelle mich für eine Weile hinein. Anschließend schlendere ich weiter und merke, dass es langsam dunkel wird. Ich erkenne es an den Fenstern, die immer heller werden. Hinter diesen Fenstern sitzen Menschen und essen. Hinter einem Fenster mit zugezogenen Vorhängen badet ein junges Mädchen. Es ist Samstag, und in dieser Straße baden die Menschen an den Samstagen. Morgen wird Sonntag sein. Hier erleben die Menschen nach den Samstagen, an denen sie baden, einen Sonntag, Woche für Woche. Sie unterscheiden die Tage und sagen nicht nur: Tag, wenn sie gehen, und: Nacht, wenn sie schlafen. Ich gehe weiter und halte einen Schlüssel in der Hand. Ich habe ein Zimmer in einem Haus, am Ende der Straße. Ich habe Angst vor diesem Zimmer, und so gehe ich an dem Haus vorüber. Eine kleinere Straße führt nach rechts, und ich gehe nach rechts. Die Straße endet bald. Es gibt nur noch einen Feldweg anschließend. Die Straße, auf der ich mich jetzt befinde, führt zu den Hochhäusern. Sie ist leicht abschüssig, diese Straße. Am Schild, das dort steht, sehe ich, dass sie zwölf Prozent Gefälle hat. Ich gehe an den Hochhäusern vorbei und versuche mir vorzustellen, wie die Wohnungen hinter diesen Wänden aussehen. Dann wieder nach rechts, jetzt eine lange Straße entlang. Da bin ich wieder an der Telefonzelle. Am Ende der Straße habe ich ein Zimmer. Ich schließe es nie ab. Ich gehe in das Haus, öffne die Tür meines Zimmers, warte kurze Zeit und schließe sie dann hinter mir. Der Wind ist geblieben. Der Teppichboden trägt die Spuren des nassen Schnees, der mir schon vom Mantel getaut ist. Woran habe ich auf dem Weg hierher gedacht? Warum ist das Fenster offen, dass der Wind die Gardinen fast zerreißt? Ich habe einen Sessel, einen Stuhl, ein Bett und einen Tisch. Wann ist das Licht erloschen?

Ich warte auf den Regen. Den Wind spüre und begreife ich nicht mehr. Der Wind treibt mir entgegen, dass es Regen geben wird. Ich gehe hastig jetzt, aber ich laufe nicht mehr. Der Regen kommt nicht. Ich werde mich bald zum Schlafen hinlegen. Hier, nach diesem Schritt, nach diesem Schritt muss ich mich hinlegen. Ich bin schon müde. Ich kann den Regen nicht mehr erreichen, heute nicht mehr. Ich setze eine Hand auf den Boden, um mich niederzulassen. Ich versuche, mich auf diese Hand zu stützen. Ich ziehe sie wieder zurück, denn ich spüre den Boden nicht. Meine Hand ist in Wasser eingetaucht. Als ich die Hand erneut ausstrecke, ertaste ich wieder Wasser. Ich vermute mich am Rande eines Sees. Es war nicht der Geruch des Regens, was mir der Wind zugetragen hat, es war der Geruch des Sees. Ich will sehen – fühlen, wo überall dieser See ist. Hier, hier, auch da. Ich bin sicher, dass ich mich bereits einmal um mich selbst gedreht habe. Überall war Wasser. Ich drehe mich weiter, Wasser, Wasser, überall. Ringsumher ist Wasser, aber ich stehe fest, ich habe noch Boden unter den Füßen. Ich strecke meine Hand abermals aus, um den Boden, auf dem ich stehe, zu ertasten. Meine Finger berühren meine Füße, kriechen über die Füße hinunter zum Boden und tauchen wieder in Wasser. Jetzt ziehe ich meine Hände an mich heran, berühre meine Füße. Ich kann meine Füße von unten her umfassen. Ich begreife: Ich stehe auf dem Wasser, das zwar meine Füße trägt, das aber meine Hände, meinen Rücken, meinen Kopf nicht tragen kann. Ich habe den Regen nicht gefunden, nein. Für die neue Gewissheit, dass es Wasser gibt, habe ich den Schlaf eingetauscht. Ich werde von nun an nicht mehr schlafen können, ohne zu versinken. Ich werde nie mehr schlafen, sondern nur noch gehen.

Ein geröstetes Brot stelle ich mir vor, als ich weitergehe. Draußen vor dem Fenster liegt Schinken. Ich kann Gewürz über den Schinken und das Brot streuen. Unter dem Deckel der kleinen Dose, in der ich das Gewürz aufbewahre, sammelt sich immer ein Rest. Ich muss achtgeben, dass ich ihn nicht, wenn ich den Deckel abnehme, aus Unachtsamkeit auf das Brot fallen lasse. Es wäre zu viel für eine Scheibe Brot. Ich wünsche mir das Brot und kann mir diesen Wunsch erfüllen. Bin ich müde? Warum bin ich nicht ganz wach? Warum gehe ich weiter? Warum bleibe ich nicht stehen, lasse mich hier, gerade hier, nieder mit der Gewissheit: Ich werde versinken. Gibt es noch eine Erklärung? Gibt es eine andere Erklärung als die, dass ich nicht bloß der bin, der immer wieder aufsteht, ohne dass er weiß, warum er aufsteht? Ich freue mich unsäglich, wenn ich auf dem Weg fremde Worte sprechen kann, deren Herkunft ich nicht kenne. Die Worte sagen dennoch genau das, was ich sagen will. Ich habe alle Worte gefunden, die keine Sprache mehr haben, die sie aufnehmen könnte. Ich weiß nicht, wann es war, dass ich diese Worte gefunden habe. Plötzlich waren sie in mir, heute, gestern? Schon immer vielleicht, ich weiß es nicht. Das Wasser kam, und es war doch schon immer da.

Die Wand wird kommen. Ich glaube daran, weil ich noch lebe. Ich lebe, weil ich noch daran glaube. Ich kann Brot, das ich gekauft habe, essen. Ich glaube daran. Ich kann sterben, weil ich lebe. Ich kann über die Straße gehen, weil die Straße wirklich da ist. Es muss die Straße geben. Der Geruch des Wassers liegt über meinem Wunsch. Ich esse das Brot. Ich rieche die Kälte. Das Geräusch fahrender Autos gefriert. Alles wird, während ich gehe, stehen bleiben und sich nicht mehr bewegen.

Während der Tage besinne ich mich darauf, dass noch vieles zu tun bleibt.

Ich bin müde, denn ich schlafe nicht mehr.

Ich bleibe ein immerwährendes, gleichbleibendes Auge.

Ich gehe über salziges Wasser. Das Meer trägt mich noch. Vielleicht schauen sie herüber, vom Ufer aus, und sehen mich wie ein dunkles Wunder. Ich kann ihnen nichts sagen. Sie sagen sich selbst, dass das, was auf dem Wasser geht, das sie nicht trägt, ein Wind sein muss und ein Gott. Sie umfassen die Knie und die Hüften derer, die über das Meer zu ihnen kommen. Sie weinen und bleichen unter den Tränen ihre Gesichter. Die Sonne macht die Tränen trocken.

Ich aber, ich weiß, dass ich ihr Gefangener bin. Ich weiß, dass ich untergehe, wenn ich nicht mehr gehe. Die Wand wird alt sein, sie wird Wurzeln haben und Runzeln. Die Wand wird ein einziges Gesicht haben. Alle alten Gesichter zusammen werden diese Wand bilden. Die Worte werden nur noch die Bedeutung des Augenblicks haben. Sie der Zeit zu erhalten, ist zwecklos.

Nur die Worte der Augen werden Bestand haben. Sie werden wieder denen gehören, die im flirrenden Licht auf das Wasser hinausstarren. Mit zusammengekniffenen Augen halten sie Ausschau. Stumm fragen sie sich, wann er auftauchen wird. Die Worte gehören jetzt nur noch denen, die auf das Wasser hinaussehen, den Wartenden.

1978 Die Finger im Licht. Aus: Science Fiction Story Reader 10. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Heyne. (Heyne TB 3602). – Unter dem Pseudonym Heinrich Werner.

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