Kitabı oku: «Schalldämpfer»

Yazı tipi:

Wiglaf Droste

Schalldämpfer

Eine Revue

den verehrten Schalldämpfern Franz,

Jan, Klaus, Nikolaus, Ralle und Vincent

zugedacht und zugeschrieben

FUEGO

Über dieses Buch

Mit seinen Komplizen Franz, einem Freund der Abgesägten, Klaus, dem Fahrer von Fluchtautos, Ralle, dem Schnellraucher und Mann fürs Einseifen von Delinquenten, dem hibbeligen Zeichner Jan, Nikolaus, dem Maler und Freund kluger Sätze und der barocken Erscheinung Vincent, der mit Pfeil und Bogen ein tödlicher Schütze ist, befindet sich Wiglaf Droste auf dem Kriegspfad. Sie haben das »Kommando Leise Welt« gegründet, eine Organisation zur Rettung des menschlichen Trommelfells. Lärmbolde und Schreihälse bekommen von diesen glorreichen Sieben einen eindeutigen Wink mit der Wumme. Es ist viel zu tun. Selbstverständlich gibt es auch Ordnungshüter, die etwas dagegen haben. Eine aberwitzige Reise durch ein Land des Irrsinns beginnt.

»Schalldämpfer« erschien zunächst und in teilweise vor­läufiger Form vom 18. Juli bis zum 16. November 2013 als täglicher Fortsetzungsroman im Feuilleton der Tageszeitung junge Welt; Autor und Verlag bedanken sich bei den betreuenden jW-Redakteuren Christof Meueler und Alexander Reich.

Für Silvia Heinz, Uschi Brüning, Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky, Axel Martens, Heike Ollertz, Michael Bugmann, F.W. Bernstein, Roland Botsch, Stéphane Collard, Fritz Eckenga, Rayk Wieland, Rahel Valdiviéso, Boni Koller, Friedrich Küppersbusch, Archi Bechlenberg, Gabi Rittig, Hubert Huhn, Achim Frenz, Ernst Kahl, Danny Dziuk, Torsten Puls, Andreas David, Danda Cordes, Fabian Christen, Richard Blatter, Berthold Seliger, Ruth Hohmann und Walter Gödden

und für Harry Rowohlt sowieso

und für Luigi Prezioso, weil ich

gerne genauso hieße

Wir hatten das Kommando Leise Welt gegründet, eine Organisation zur Rettung des menschlichen Trommelfells und der innen angrenzenden Orga­ne. Lärmbolde, Schreihälse und Rollkofferbrüll­würfelhintersichherzerrer bekamen von uns einen eindeutigen Wink mit der Wumme.

Besonders penetranten und unfähigen Straßen- und U-Bahn-Musikern machten wir ein großzügi­ges Angebot: Gegen die bindende Verpflichtung, nie wieder öffentlich zum Instrument zu greifen, bekamen sie einen anständig dotierten Job bei der Firma Oropax, deren stille Teilhaber wir sind. (Die Betonung liegt selbstverständlich auf still.)

Weniger freundlich waren wir zu Distributeuren von Fahrstuhlmusik und Kaufhausbeschallung; die setzten wir schon mal 48 Stunden der akus­ti­schen Jauche aus, mit der sie die Welt belegen, und zwar so, dass sie sich die Ohren nicht zuhalten konnten.

Hauptziel aber waren die Musikchefs von Radio­sendern, die ohne jede Gnade Millionen Hörer quälten und in die Verzweiflung trieben. Sie be­kamen etwas Großkalibriges in den Hohlraum zwi­schen ihren Ohren verabreicht, getreu den Grund­sätzen unseres Kommandos selbstverständ­lich mit dem Schalldämpfer.

Franz, unserem besten Schützen, gefiel das gar nicht. Franz fand Schalldämpfer scheiße und max­imal den halben Spaß. Er arbeitete lieber mit einer Abgesägten.

Das Kommando Leise Welt bestand aus sieben Leuten. Neben Franz, dem 55jährigen Freund der Abgesägten, der auf dem Beifahrersitz hockte wie John Wayne auf dem Bock einer Well’s Fargo-Kutsche, saß Klaus am Steuer unseres hochgetune­ten Elektro-Vans. Die Karre bewegte sich fast laut­los, konnte im Bedarfsfall aber auch mal mit 250 Sachen gekachelt werden; »cacheler, cacheler«, wie der Franzose sagt.

Klaus war ein geübter Fahrer, den man in jedem Kriminalfilm hätte einsetzen können. Die einzige Schwachstelle dieses Gentleman von 61 Jahren war seine Prostata. Alle 15 bis 20 Minuten musste er rechts ranfahren, um sich drei bis vier Tropfen aus der Gurke zu drücken. Wenn uns die Bullen nach einer unserer Schalldämpfer-Aktionen im Nacken saßen, konnte es schon mal eng werden, aber bis­her war alles gutgegangen, und außer freundli­chen Frotzeleien wie »Dröppche vor Dröppche Qualiteit« hatte sich Klaus keine Kommentare an­hören müssen.

Auch die zweite Bank hatte nur zwei Plätze; den dritten Sitz neben der Schiebetür hatten wir aus­gebaut, damit die Jungs auf der dritten Bank so schnell auf ihre Plätze kamen, wie es ihnen mög­lich war.

In der zweiten Bank gleich neben der Tür saß Ralle. Sobald Klaus irgendwo anhielt, sprang Ralle sofort aus dem Wagen und rauchte so schnell es ging, um möglichst noch eine zweite Fluppe durch­ziehen zu können. Ralle war unser Mann für das Einseifen der Delinquenten. Von rundem Wuchs, mit einem freundlichen, harmlos wirken­den Gesicht und einer hypnotisch sonoren Stimme gesegnet, beschwatzte der 59jährige die Lärmchefs der Krawallsender, und alle kamen zu einem ers­ten und für sie letzten Treffen. Keine Ahnung, was Ralle ihnen erzählte, wahrscheinlich versprach er ihnen die definitive Musikuhr und jede Menge Profit. Jedenfalls tanzten sie an und waren damit ein Fall für Jan, der es mit der Stille sehr genau und ihren Schutz sehr persönlich nahm.

Jahrzehntelang war Jan, Kettenraucher wie Ralle, schrecklichen Gewaltphantasien ausgesetzt gewe­sen, die ihn bedrückten und marterten, für die er sich schämte und schuldig fühlte und die er vergeblich zu verdrängen versuchte. Besser ging es dem ehemaligen Waldorfschüler erst, als er fest­stellte, dass er diese Phantasien ausleben konnte, und das auch noch für einen guten Zweck. Mit sei­nen 47 Jahren war Jan unser Jüngster und manch­mal noch etwas hibbelig. Aber bei der Arbeit zuckten ihm kein Nerv und kein Muskel, die erledigte er wie Spazierengehen mit dem Hund.

Genau wie Franz hätte Jan lieber mit größerem und vor allem lauterem Gerät hantiert, aber das widersprach nun einmal den Grundsätzen des Kommandos Leise Welt. Jan argumentierte, dass Lärm nur mit Gegenlärm erfolgreich zu bekämp­fen sei und träumte davon, mit einer Pump Action richtig loszulegen. Doch auch er musste die Kröte schlucken und mit Schalldämpfer zu Werke gehen.

Auf der dritten und letzten Bank unseres schnittigen Elektro-Vans saß am linken Fenster Nikolaus. Er beteiligte sich nie aktiv an unseren Aktionen, fuhr aber gern mit. »Das sind ganz herr­liche menschliche Abgründe«, pflegte der 57jäh­rige zu schwärmen, um dann stets zu betonen: »Ich meine selbstverständlich eure. Die Typen, die ihr euch krallt, sind entweder zu flach für jeden Abgrund oder sie sind schon so weit unten, dass sie in keinen Abgrund mehr fallen könnten. Nein, inspirierend seid ihr; so nette Kerle, und dann macht ihr sowas.« Nikolaus war Maler, und eins seiner Lieblingsmotive war der Tod.

Am anderen Fenster der dritten Bank saß Vin­cent. Niemand wäre auf die Idee verfallen, dass dieser Mann beim Kommando Leise Welt dabei war. Vincent, ausgesprochen mit hartem V wie in Vogel oder Karl Valentin, nicht mit weichem wie in Vaseline, war eine barocke Erscheinung von 64 Jahren. Seinen Prachtranzen trug er gut, und sein gallischer Zinken, sein Genießermund und seine klugen Augen verliehen ihm eine gutmütige, sinn­liche Ausstrahlung.

Wer ihn unterschätzte, machte einen Fehler, denn Vincent war ein tödlicher Schütze. Schuss­waffen interessierten ihn nicht; als alter Indianer­freund hielt er sich an Pfeil und Bogen. Er brauchte stets nur einen Pfeil, um sein Wild auch auf größere Entfernungen genau so zu treffen, wie er es wollte. Auch mit dem Messer ging er vorzüglich zu Werke, und so hatten wir in ihm einen Experten für lautlose Arbeit. Er verlor niemals die Nerven, und seine Umsicht und seine Erfahrung hatten schon ein paar Mal eine Aktion gerettet, die den anderen schon missglückt schien. Wenn ein Pfeil die Sehne seines Präzisionsbogens verließ, konnte Klaus in den Bleifuß-Modus wechseln; dass Vin­cents Pfeil einem besonders unangenehmen Erzeu­ger von Krachgewummer eine unerwartete Begeg­nung bescheren würde, stand fest.

Zwischen Nikolaus und Vincent saß ich. Mir gefiel die Arbeit mit dem Schalldämpfer; ich liebte es, dem bierflaschentragenden Partyjungvolk die Pullenhälse abzuschießen, ohne dass sie auch nur ahnten, was und wie ihnen geschah. Panisch starr­ten sie auf die zerballerte Flasche in ihrer Hand und bekamen das Rennen. Auch Trommelgruppen im Park hatte ich gern.

Wo kommen die Löcher in dem Bongos her, schie­nen die Wumm-wumm-Gesichter der notori­schen Tierhauthaudraufs zu fragen, die sich von dreivierteldebiler Verzückung ins Ängstlich-Dümm­liche verjüngten. Zum Einstimmen auf eine größere Aktion war das jedenfalls sehr gut ge­eignet.

Unser Elektro-Van schnurrte durch das früh­abend­liche Berlin. Klaus fuhr langsam, und durch die getönten Scheiben des gut gekühlten Wagens betrachteten wir das geballte öffentliche Elend. »Wir sollten den Begriff Lärm neu definieren«, sagte Jan nach einem längeren Blick auf diverse volltätowierte Nasenringträger. »Die Typen sind doch optische Gewalt. Die drängen anderen ihre Selbstverletzungen und ihren Schmerz auf. Das ist nicht in Ordnung.« Er lud seine Pistole und schraub­te den Schalldämpfer auf.

»Es gibt auch olfaktorischen Lärm«, ergänzte Vin­cent. »So wie es Gestank im Ohr gibt, so gibt es auch aggressiven Lärm in der Nase: Parfümerien, die jeden, der nur vorbeigeht, in die Blümeranz treiben. Die Blumenkübel, die in der Nähe von Douglas-Filialen stehen, sehen interessant aus: Die Blumen sind eingegangen, dafür haben die Pas­santen allerlei Buntes hineingebrochen.«

»Kuckt euch die an!«, rief Franz vom Beifahrer­sitz und zeigte auf drei Frauen Mitte 20 bis Anfang 30 mit sichtlich touristischem Migrationshinter­grund. Alle drei trugen T-Shirts mit dem Aufdruck »BLOW JOB BERLIN«.

»Die haben echt Glück, dass wir gute, alte Sexisten sind und Frauen anders behandeln als Männer«, warf ich in die Runde. »Lasst uns hier abhauen«, erwiderte Klaus, der mal wieder rechts ran musste und das gern außerhalb der Innenstadt erledigen wollte. Er gab Most, und wir verließen die Insassen Berlins, die anderen eine Rund-um-die-Uhr-Tortur sind und dabei nicht einmal den Anstand haben, satisfaktionsfähig zu sein.

»Wo geht es denn heute eigentlich hin?«, fragte Nikolaus aufgeräumt. Gerade weil er nur passives Mitglied des Kommandos Leise Welt war, wollte er etwas geboten bekommen.

»Nach Tötensen.« Ralles Stimme brummte vor Behaglichkeit. »Und das Wort ist als Imperativ auf­zufassen.«

Der Ausflug von Berlin nach Niedersachsen ent­wickelte sich zu einer lustigen Klassenfahrt. An einer Raststätte hatten wir uns mit Wasser, Cola undsoweiter versorgt; bei der Arbeit tranken wir nie. Während ich zahlte, mopsten die anderen die allerschlimmsten Tonträger und warfen sie draußen in den Müll. »Eigentlich erbärmlich, dass wir erst die Endprodukte entsorgen und nicht schon vor der Produktion tätig werden«, seufzte Vincent und trat eine Kuschelrock-CD in den Boden.

Weiter ging es, der Abend war lau und angenehm kühl. »Was wollen wir eigentlich in Tötensen?«, fragte Jan. »Gibt es da irgendetwas für uns zu tun?« Er ließ einen bedeutungsvollen Blick auf seiner Pistole liegen. »Jan, Jan, Jan«, ließ ich mich von der dritten Bank vernehmen »Wer kuckt denn mit seiner Gattin RTL, sogar beim Abendessen?«

Jan stand weiter auf der Leitung. Sein Sitznachbar Ralle half ihm auf die Sprünge. »In Tötensen wohnt ein blonder, blauäugiger, dauergrinsender Mann, den du kennst, auch wenn du das gar nicht möchtest. Er begeht seit Jahrzehnten akustische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ist eine noch größere Pest als Bono.« Ralle hatte aus Liebe zu Irland und zur Musik eine tiefe Antipathie gegen den penetrant missionierenden U2-Sänger Bono entwickelt.

Bei Jan klingelte immer noch nichts. »Also gut, seufzte Ralle. »Hast du mal von ›Modern Talking‹ gehört? Von ›Blue System‹? Sagt dir ›Deutschland sucht den Superstar‹ etwas?« Er sah Jan an und lachte: »Na, fällt der Groschen?«

»Im Herzen bin ich wohl immer noch Waldorfschüler«, antwortete Jan. »Aber diese Knabbermischung aus Bild, Gemeinheit und sonstiger Niedertracht kenne sogar ich.« Er hielt kurz inne und fragte gibbelnd: »Und den machen wir heute Nacht um eine Kugel reicher?«

»Bohlen? Es geht zu Bohlen?« Franz wurde regelrecht fröhlich. Er liebte Musik, war ein zurecht gerühmter Country&Rhythm-DJ und bekam Pickel auf der Seele, wenn jemand Musik verheizte, schändete, missbrauchte, frevelte und damit mehrere Generationen nacheinander in Verrohung und Stumpfheit trieb. »Lasst mich wenigstens diesen lärmenden Betriebswirt mit der Abgesägten klarmachen! Eine Ladung Indianerschrot in die Eingeweide, das ist doch adäquat und den Qualen angemessen, die er anderen bereitet.«

»Substantiell hast du Recht.« Klaus sprach mit sanfter Stimme.

»Sag ich doch!«, erwiderte Franz herausfordernd.

Klaus blieb klar und fest. »Aber es geht trotzdem nicht. Natürlich legen wir dem Deppen das Handwerk und das dumme Mundwerk sowieso, aber eben leise.« Er lächelte Franz an. »Greif ihn dir in aller Stille. Ohne Dezibel. Lärm ist einfach unethisch.«

So glitten wir dahin, es war dunkel geworden, über uns prangte ein leuchtender Sternenhimmel. Jan träumte vor sich hin. »Und was machen wir hinterher? Fahren wir nach Wacken? Da könnte man doch mal im großen Stil zuschlagen?«, fragte er und lächelte, als hätte er eine köstliche Süßigkeit oder einen sehr feinen Wein im Mund, während Vincent aussah, als hätte er in etwas Verdorbenes gebissen.

»Auf gar keinen Fall«, sagte Vincent entschieden. »Es ist doch gerade gut, wenn es solche Hundert-Prozent-Idiotie-Zonen gibt. Wenn 45jährige Vollsprallos in Wacken die Freuden der Unwürde zelebrieren, dann sind sie nicht da, wo wir gerne sind. Die ghettoisieren sich selbst, das ist ein Segen. Genau wie bei Formel-Eins-Rennen: Wer sich das freiwillig antut, bedarf keiner Sanktion mehr, der hat die Höchststrafe schon weg.«

Er sah Jan an, milde und gütig. »Wir können und wollen uns doch nicht um jeden einzelnen Radaubruder kümmern«, sagte er mit einem versonnenen Blick auf seinen Präzisionsbogen, den er an der Wagendecke befestigt hatte. »Ideal wäre es, immer gleich einen sehr hohen Zaun um diese Irrsinnigenversammlungsstätten zu ziehen. Wenn man ab und zu Bier, Schweinerippchen und Dixi-Toiletten abwürfe, wären die lecker zufrieden und vermissten nichts. Aber das ist Zukunftsmusik«, schloss er und zuckte die Achseln, weil die Formulierung »Er zuckte die Achseln« in einem Kriminalroman einfach Pflicht ist.

Unterdessen hatten wir Tötensen erreicht, und auch die Latifundien des Todeskomponisten DB waren schnell gefundien. Vincent schlüpfte aus der Tür, trotz seiner Leibesfülle lautlos, als hätte er bei Winnetou einen Leistungskurs Anschleichen ab­sol­viert. Er sah sich um. »Die Alarmanlage ist kein Problem«, wisperte er uns zu, legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens, spannte sie, zielte, stand ruhig und still und ließ den Pfeil fliegen. Ein Sir­ren, ein kurzes Klacken, und die elektronische Security hatte verspielt.

Ich musste an die »Tecumseh«-Bücher von Fritz Steuben denken, die ich als Kind so gern gelesen hatte; ein Jugendfreund von Tecumseh hatte sich den Namen »Ein Pfeil« verdient, weil er sein Ziel immer beim ersten Mal traf, und diesen Namen hätte auch Vincent tragen können. Kein Wunder, dass wir ihn »Häuptling« nannten.

»Ich gehe mal kurz raus«, sagte Klaus und frag­te: »Wer geht rein?« Franz schmollte noch wegen des Abgesägtenverbots, Vincent hatte seinen Job gemacht, Nikolaus war Beobachter, blieben also Ralle, Jan und ich. Wir wuchteten unsere Leiber aus der Karre, prüften die schallgedämpften Eisen und machten uns auf den Weg.

Als wir etwa 50 Meter zurückgelegt hatten und das Domizil der Dezibelbestie en detail betrachten konnten, flammten schlagartig Scheinwerfer auf, schräg links vor uns, blendeten uns, ließen uns blin­zeln, und als wir endlich wieder klar sehen konnten, erblickten wir Kameraleute, Ton- und Licht-Crews, alles war taghell. Die Tür des Hauses vor uns öffnete sich und entließ Frauen mit ent­blöß­ten Oberkörpern. Sie hatten sich Botschaften auf die Brüste geschrieben, ich entzifferte »Bohlen holen«, »Dieter muss dot«, »Modern Stalking«, »Blut System« und »Deutschland sucht die Super­leiche«.

Die Kameraleute drehten wie die Dullhermchen, die Frauen, sieben an der Zahl und allesamt sehr jung, um die 20 Jahre, stellten sich in Pose, drehten sich, lächelten demonstrativ boshaft, zeigten dabei den Teufelsgruß und verschwanden dann in der Nacht. »Was war das denn?«, fragte Jan, noch ganz benommen von der grotesken Szene. »Die Sche­men der Femen«, gab ich zurück. Der Kalauer ließ Ralle aufstöhnen. »Der kostet jetzt aber«, ver­hängte er apodiktisch.

Aus nicht allzu weiter Ferne war Sirenengeheul zu vernehmen; Ralle, Jan und ich bewegten unsere Flummiballkörper zum Auto, so schnell wir es ver­mochten, sprangen hinein, und Klaus fuhr los. »Die­se Medientanten sind grauenhaft«, maulte Ral­le kurzatmig, »nichts geht mehr ohne Kameras, und in zehn Minuten steht alles im Netz. In dieser Welt ist für anständige Desperados kein Platz mehr«, seufzte er betrübt.

»Das ist nichts Neues«, tröstete ihn Klaus, der den französischen Situationisten Guy Debord zu seinen Lieblingsautoren zählte und dessen Haupt­werk, »Die Gesellschaft des Spektakels«, nahezu auswendig kannte. »Das kommt uns nur so vor, weil es heute mehr Medien und entsprechend mehr Medienmutanten vor und hinter der Kamera gibt. Aber am Prinzip hat sich nichts geändert.«

»Wohin soll die Reise gehen?«, fragte Vincent ruhig und aufgeräumt. »Haben wir einen Fluchtplan oder improvisieren wir?«

»Gute Frage«, gab Klaus zurück. »Wir wissen ja noch nicht, was die Bullen haben. Fotos von unserem Dreierkommando oder auch vom Auto und den anderen vier?« Er überlegte kurz. »Zu siebt gemeinsam untertauchen könnte schwierig werden. Vielleicht sollten wir uns für ein paar Tage trennen und uns ein bisschen verteilen. Was denkt ihr?«

Klaus schaltete das Autoradio ein; über Bohlen, die Aktion der Femen und uns gab es noch nichts, doch der Sprecher berichtete von einem Überfall auf eine Bundeswehrkaserne in Havelberg. 16 Fahr­zeuge der Bundeswehr seien teilweise erheblich beschädigt worden, ein Sachschaden von mindestens 10 Millionen Euro sei verursacht worden, es war die Rede von einer »noch nie dagewesenen Art von Gewalt gegen die Bundeswehr«. Franz lachte. »Noch nie dagewesen? Dann wurde es aber langsam Zeit, oder?«, und Ralle ergänzte: »Was fahren die denn für Karren? Rolls Royce?«

Man konnte das Gejabbel in den Morgenzeitungen schon ahnen: »Feige und hinterhältig« sei »der Anschlag« gewesen, und »menschenverachtend« sowieso; dabei hatten sich die Zerstörer von Kriegs­gerät nur der Zeilen Günther Eichs erinnert, deren zufolge man besser daran tat, als Sand im Getriebe zu knirschen denn es als Öl zu schmieren. Die Täter waren nicht nur organisierten Mordbuben in den Arm gefallen, gewissenlosen Maizièris­ten und von der Leyen gelassenen Tötebolden, sondern auch brüllend lauten Ohrenpestlern.

»Mich zieht’s heimwärts, Klaus«, sagte Vincent. »Ich gehe ein paar Tage kochen, und nächsten Sonn­tag sehen wir uns wieder.« Nikolaus schloss sich an, er fühlte sich inspirationsgesättigt und wollte malen. Franz würde sich mit Klaus nach Franken verdrücken, Ralle zog es an die irische Westküste, Jan und ich wollten ganz klassisch in Berlin untertauchen.

Ich hatte auch schon eine Idee: Wir beide würden in der Klapse verschwinden, in den Tiefen der Psychiatrie. Jan zierte sich reichlich, aber da er kleiner ist als ich und dem Schwitzkasten nicht sonderlich zugetan, stimmte er schließlich zu.

»Und versucht doch bitte alle, etwas über diese Hauptsache-Medien-Torten mit den nackten Möpsen rauszukriegen«, mahnte Klaus, als er am hannöverschen Hauptbahnhof hielt, jenem tief humanen Gebäude, das jedermann erlaubt, diesen Irrtum von Stadt zu verlassen.

Während Klaus, Franz, Nikolaus und Vincent sich im Elektro-Van Richtung Süden dünne mach­ten, standen Ralle, Jan und ich am Hauptbahnhof Hannover, um den ersten Zug nach Berlin zu erwischen. Uns blieb reichlich Zeit, und es war sogar noch eine Kaschemme geöffnet. Wir betraten den Laden, die Luft war zum Schneiden und die Beschallung zum Davonlaufen. Aus dem Boxen wimmerte es, als hätte jemand dem Sänger böse an die Klöten gefasst; es war aber nur Xavier Naidoo, der irgendetwas von seiner vorgeblichen »Seele« jaulte.

Jan und Ralle griffen vollautomatisch zu ihren Fluppenschachteln, gaben sich gegenseitig Feuer, sogen sich die Suchtlungen voll und lächelten selig. Als Ralle seine Kippen wegstecken wollte, verfehlte er die Jackentasche, die Schachtel fiel auf den schmutzigen Kneipenboden, Ralle beugte sich umständlich vor, um sich den Wanst nicht abzu­klemmen, und, karratsch!, fiel ihm sein Püster auf die Bodenkacheln.

Der Wirt, ein fünfschrötiger Humpen mit rasier­tem, glänzendem Schädel, kuckte beschissen. Ich sah ihm direkt ins Gesicht. »Ganz ruhig bleiben«, sagte ich und klopfte mit den Fingerknöcheln mei­ner rechten Hand gegen meine linke Brusttasche, unter der meine Pistole steckte. »Wir sind von ei­ner Sondereinheit, und Sie haben nichts gesehen.«

Er glotzte wie ein Fisch auf dem Trockenen, sagte und tat aber nichts. Ralle hatte sein Eisen wieder eingesteckt und rauchte. Ich bestellte ihm ein großes Guinness gegen den Zittermann, einen doppelten Tequila für Jan und mir selbst ein Tonic. Dass die Kollegen Nervengift brauchten, war mir klar, ich hätte selbst gerne einen Kleinen genom­men, wollte aber unbedingt klar bleiben. Dem Bar­mann traute ich keinen Millimeter, und die Peter­männer konnten längst am Bahnhof sein.

»Diese nackten Weiber lassen mir einfach keene Ruhe«, sagte Ralle laut genug, dass Glatzkopp ihn hören konnte, uns augenblicklich wieder für ganz normale Männer hielt und sich seinem Zapfhahn zuwandte. »Wenn ick mir dett Hemd ausziehe, kommt da keen Kamerateam!« Immer wenn Ralf sich aufregte, verfiel er in seinen Berliner Heimat­argot, den er auch in dreißig Jahren Irland nicht abgelegt hatte. »Sei doch froh«, warf Jan, vom Te­quila befeuert, grinsend ein und bestellte sich abermals »einen Doppelten, schön mit Gemüse«. Ich ahnte, dass ich auf dieses junge Gemüse gut würde aufpassen müssen; der rettende Hafen eines Berliner Irrenhauses war noch nicht erreicht.

Jan bekam seinen doppelten Tequila mit Salz und Zitrone, leckte, kaute, kippte und schluckte hinter. »Kennst du eigentlich die ostpreußische Va­riante davon?«, fragte ich ihn. Gut gelaunt schüt­telte er seine angeschnapste Birne. »Statt Tequila nimmst du Honigschnaps oder Korn oder Wa­cholder, oben aufs Glas kommt eine Scheibe Leber­wurst mit einem Klacks Senf drauf, Wurst und Senf spülst du dann mit dem Schnaps runter. Heißt Pilkaller und ist mehr was für kalte Gefilde.«

Jan schüttelte sich angeekelt, während Ralle Ge­fallen an der Rezeptur zu finden schien. Bevor er einen weiteren Topf Guinness bestellen konnte, rückte ich zu ihm rüber und nahm ihn leise ins Gebet. »Kannst du eine Fluchtkarre besorgen? Ich hab kein gutes Gefühl bei der Bahn. Da kann uns die Schmiere in aller Seelenruhe abfischen.«

»Kein Problem!« Ralles Bassbariton füllte das Lo­kal. »Früher bei der IRA haben wir...« – »Mach hier nicht den McGuffin«, warf ich schnell ein und Ralle zuckte heftig zusammen. Der Gedanke an den irischen Schriftsteller, Politaktivisten und Auf­schneider, der an Leberzirrhose abgenippelt war, fuhr ihm in die Glieder und hatte augenblicklich ernüchternde Wirkungen.

»Ob du das Ding mietest oder klaust, ist mir egal.« Mir war nicht wohl und ich drückte auf die Tube. »In 15 Minuten will ich hier weg sein.« Ralle nickte und verschwand, während Jan eine weitere Doppeldosis bestellt hatte. »Du bist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe aber gar keine Flöhe am Sack«, erwiderte Jan und gibbelte, weil das lustig war. Ich bestellte die Rechnung und zahlte; der Wirt sah immer noch aus wie ein Spitzel, und McGuffin hätte jetzt eine seiner Knie­schuss-Geschichten aufgetischt.

Ralle tauchte in der Tür auf und gab ein Hand­zeichen, Jan kippte den Rest Tequila runter, rutsch­te schlingerig vom Hocker und taumelte zum Aus­gang. Ich warf dem Wirt noch einen Blick zu, von dem ich hoffte, dass er ihn richtig zu deuten wuss­te: Ein falsches Wort, Meister, und die fröhliche Schalldämpferfamilie kehrt zurück.

Als Jan und ich die Kaschemme verließen, stand Ralle schon ganz zappelig vor der Tür und präsen­tierte den Fluchtwagen: ein rotes MG-Cabrio. »Pri­ma«, lobte ich ihn, »genau das richtige Auto für eine Fahrt zu dritt.« – »Kein Problem«, beschwich­tigte Ralle. »Jan ist klein genug, den quetschen wir hinter die Vordersitze, er pennt seinen Rausch aus, und wenn wir in Berlin sind, ist er wieder aus ei­nem Guss.«

Jan sah ihn giftig an und wollte schon antworten, als ein Streifenwagen heranglitt. Die Mehlmützen hielten direkt neben uns, der Beifahrer ließ das Seitenfenster herunter, musterte uns, schnallte den Sicherheitsgurt ab, stieg aus dem Auto und ver­langte unsere Papiere.

»Eck ben irischer Staatsburger«, wandte Ralle erstaunlich würdevoll ein. »Darf eck fragen, was die Grund fur Ihrem Begehr ist?« Auch der Fahrer war inzwischen ausgestiegen und blaffte Ralle an: »Die Papiere bitte. Als Bürger der EU sind Sie ver­pflichtet, sich auszuweisen.« Ralle bedachte ihn mit einem sardonischen Lächeln, gab ihm aber das Dokument, und auch ich drückte ihm meinen offiziellen Identitätsnachweis in die Hand.

Der Beifahrer wandte sich Jan zu. »Sie auch. Ihre Papiere, bitte.« Jan war wie verwandelt. In der Kneipe noch beschnapst und maulig, gab er sich jetzt als Liebenswürdigkeit in Person. »Meine Her­ren«, sagte er mit gewinnendem Lächeln, »Sie kön­nen das nicht wissen, aber meine Eltern haben mich zu einem Leben als Anthroposoph verurteilt. Weltliche Dinge interessieren uns wenig; uns ist es um die Harmonie zu tun, um den Wohlklang.« Die Beamten waren irritiert, und Jan nutzte das clever aus. »Ich werde Ihnen meinen Namen tanzen, eurythmisch. Meine Europäische Union ist die Eurythmie.« Dann begann er herumzuhopsen und die Arme in der Luft zu schlenkern und zu biegen. Nicht nur die beiden Streifenhörnchen staunten nicht schlecht; auch Ralle und ich wussten nicht recht, wohin wir wegkucken sollten. »Ein J!«, rief Jan verzückt, als trüge er Tütü und Ballettschuhe mit Spitze. »Ein A!«, ergänzte er, »ein N!«, und dann warf er sich der Länge nach auf den Boden und streckte sich.

Was sollte jetzt das? Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. »Das ist der Bindestrich!«, erläuterte Jan im Liegen. »Ich heiße Jan-Michael, und Bindestriche kommen in der klassischen Euryth­mie nicht vor. Da habe ich eben impro­visiert.« Er sprang auf, um den zweiten Teil seines Vornamens zu tanzen, aber die Polizisten hatten genug gesehen. »Kommen Sie gut an!«, sagte der Fahrer, als säße ihm der kalte Grusel im Nacken, gab uns die ungeprüften Ausweise in die Hand und verschwand mitsamt seinem blass geworde­nen Kollegen.

»Dafür darf ich fahren«, grinste Jan. »Und Ralle muss nach hinten.«

Murrend zwängte sich Ralle in den Spalt hinter den Vordersitzen des roten Cabrios, zündete sich ein Flüppchen an und brummte Unverständliches. Ich nahm auf dem Beifahrersatz Platz, Jan klemmte sich hinters Steuer, zog seine auch innen vollverspiegelte Sonnenbrille aus der Brusttasche seiner Jacke, setzte sie auf, grinste breit, drehte den Zünd­schlüssel und ließ den Motor kommen. Er trat das Gaspedal durch und jubelte in den Lärm: »Das ist der wahre Klang der Anthroposophie! Eurythmie, fick dich ins Knie!« Ob er beim Kommando Leise Welt an der richtigen Adresse war?

Unterdessen schnurrte der Elektro-Van mit Klaus am Steuer Richtung Süden. Vincent döste, Niko­laus sog Landschaften ein, und Franz kümmerte sich um die Musik. »Wenn wir schon Van fahren, dann spielen wir ihn auch«, alberte er ausgelassen, und Sekunden später hörten sie Van Morrisons Stimme aus den Lautsprechern: »...well into this life we’re born, baby, sometimes, sometimes I don’t know why...«, bevor der Belfast Cowboy die Düsternis abschüttelte und zu einem optimistischen Ende fand: »...we’ll be lovers once again on the bright side of the road...«

»Und das hier ist ganz speziell für dich, Klaus«, sagte Franz, schob »Trace« von Son Volt in den CD-Spieler, und Jay Farrar sang das erste Stück, »Windfall«: »...may the wind blow your troubles away, may the wind blow your troubles away, both feet on the floor, two hands on the wheel, may the wind blow your troubles away...«

»Großartig«, sagte Klaus bewegt. »Wer ist das?« – »Jay Farrar«, gab Franz zurück, »der hatte mit Jeff Tweedy die Band ›Uncle Tupelo‹. Das war damals ein Tipp von Henning Harnisch.«

»Henning Harnisch kenne ich noch aus Köln. Basketballer und Buchhändler. Guter Mann«, ließ sich Nikolaus vernehmen. »Weil Harnisch wegen seines Zivildienstes nicht an einem großen Turnier der Nationalmannschaft teilnehmen konnte, hat Bild gegen ihn geschossen. Nach seinem Rücktritt Jahre später wollten sie dann ein Interview von ihm. Er gab ihnen aber keins, und so hat Bild das Gespräch, das er mit Matti Lieske, damals noch bei der taz, geführt hatte, geklaut und als ›exklusiv‹ ausgegeben. Daraufhin hat Henning Harnisch Bild erfolgreich verklagt.« Nikolaus gluckste zufrieden.

Wie aufs Stichwort fuhren sie an einer Plakatwand vorbei, auf der »Ich will Kai Diekmann werden.« zu lesen war. »Bah!«, sagte Franz und kam auf eins seiner Lieblingsthemen zu sprechen. »Wenn die Abgesägte für irgendetwas erfunden wurde, dann für diese Velveta-Schmierkäse-Visa­ge. Und natürlich für jeden Typen, der unbedingt Diekmann sein will.«

Bei der nächsten Tankstelle fuhr Klaus rechts raus; es war wieder Zeit, der Sanifair-Mafia die Notdurftverrichtungsgebühr in den Münzschlitz zu stopfen. Während Klaus in die urinalen Kata­kom­ben enteilte, haderte Franz mit der Tontech­nik. »Es ist doch ein Jammer, dass man Musik im Auto nicht auf Vinyl hören kann!«, grummelte er. »Man muss sich tatsächlich mit diesem minderen digitalen Murks begnügen.«

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