Kitabı oku: «Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.», sayfa 5
Unwillkürlich, indem ich dieses schreibe, schweift mein Blick in entlegene Tage hinüber. Wunderbare Gleichförmigkeit der auf- und niedersteigenden Wellen im Laufe der Culturgeschichte! Derselbe Gedanke, der uns heute zu so herbem Urtheile über eine grosse Masse der vorhandenen Poesie treibt, den wir als neue Frucht vom ewig fortgrünenden Baume der Erkenntniss zu pflücken glauben: er lebte in Cervantes schon, als er Don Quixote's Freunde die geistverderbenden Ritterromane zum Flammentode verdammen liess.
Wann erstehen unserer Zeit die treuen Freunde, die sie von ihren gefährlichen Lieblingen erlösen?
Fünftes Capitel.
Das realistische Ideal
Ist es mehr als ein Wortspiel, ein heiteres Paradoxon, was in den beiden Worten der Ueberschrift liegt? Kennt der Realismus ein Ideal? Giebt es etwas derart in all' den Gigantomachieen des modernen realistischen Romans, diesen wilden Büchern, in denen der Mensch hoffnungslos ringt mit zerstörenden Gewalten, mit den zermalmenden Gespenstern der Vergangenheit, mit den rohen Naturmächten einer blinden mechanischen Weltordnung, in diesem öden Lande, das keine Götter mehr kennt, keine Freiheit des Willens, keine Unsterblichkeit im alten Sinne, keine von allen Banden der gemeinen Natur erlöste Liebe?
Es wäre vielleicht angemessener gewesen, diese Frage zu allererst aufzuwerfen, ehe wir uns der Mühe unterzogen, jene einzelnen Puncte näher zu prüfen. Ich habe gleichwohl den umgekehrten Weg gewählt. Anstatt das Wort »Ideal« unmittelbar mit seinem Vollgewicht in die Rechnung einzusetzen, habe ich mich bemüht, den Leser selbst mehr und mehr dem Begriffe nahe zu bringen, der nach meiner Ansicht sich innerhalb des Realismus allein noch mit jenem stolzen Worte deckt. Wer mir genau gefolgt ist, kann nicht mehr im Zweifel darüber sein.
Wir haben gebrochen mit der Metaphysik. Jenseits unseres Erkennens liegt eine andere Welt, aber wir wissen nichts von ihr; unser Ideal, so fern es eine lebendige Macht sein soll, muss irdisch, muss ein Theil von uns sein, muss der Welt angehören, die wir bewohnen, die in uns lebt und webt. Wir haben gebrochen mit den heitern Kinderträumen von Willensfreiheit, von Unsterblichkeit der Seelen in den Grenzen unseres Denkens, von einer göttlichen Liebe, die ein anderes, als das natürliche Dasein lebt. Unser Weg geht aufwärts zwischen zerborstenen Tempelsäulen, zwischen versiegenden Quellen, zwischen verdorrendem Laub. Wir wissen jetzt, dass unsere Visionen, unsere Prophetenstimmen, unsere leidenschaftlich schmachtenden und schwelgenden Gefühle nichts besseres waren, als Krankheit, Delirien des Fiebertraums, dämmernde Nacht des klaren Geisteslichts. Nun denn: wenn dem allem so ist, das Ideale geben wir damit doch nicht auf. Wenn es nicht mehr der Abglanz des Göttlichen sein darf, so ist ihm darum nicht benommen, die Blüthe des Irdischen zu sein, die tiefste, reinste Summe, die der Mensch ziehen kann aus allem, was er sieht, all' dem Unermesslichen, was sich in der Natur, in der Geschichte, in allem Erkennbaren ihm darbietet. Wenn er den Blick schweifen lässt über diese ganze Erde, über sein ganzes Geistesreich, so sieht er im Grunde all' dieser wechselnden Formen ein einziges grosses Princip, nach dem alles strebt, alles ringt: das gesicherte Gleichmass, die fest in beiden Schaalen schwebende Wage, den Zustand des Normalen, die Gesundheit. Ganz vollkommen erfüllt ist dieses Princip allerdings nirgendwo. Aber es schwebt über Allem als das ewige Ziel, niemals ganz realisirt, aber darum doch die unablässige Hoffnung des Realen. Es giebt nur einen Namen für dieses Princip, er lautet: Ideal. Vor diesem Ideale schwindet jeder Unterschied des Bewussten und Mechanischen in der Natur. Der Mensch, indem er sich seiner bewusst wird im Triebe nach Glück, Frieden, Wohlsein, harmonischem Ausleben des Zuerkannten, theilt nur den innern Wunsch, der allem Spiel molecularer Kräfte zu Grunde liegt. Das letzte Ziel des grandiosen Daseinskampfes, der zwischen den frei schwebenden Himmelskörpern wie zwischen den Elementen auf Erden, zwischen den einfachen chemischen Stoffen wie zwischen den geheimnissvollen Bildungen des organischen Lebens tobt, ist nichts anderes, als der dauernde Wohlstand von Generationen, die in Einklang mit der Umgebung gelangt sind. In diesem Sinne ist die Natur selbst erfüllt von einer tiefen, zwangsweisen Idealität, und wo ihre volle Entfaltung zu Tage tritt, äussert sich diese in der höchsten Annäherung an das ideale Princip des grösstmöglichen Glückes der Gesammtheit, an dem jedes Individuum seinen Antheil hat. Dunkel, wie der ganze Untergrund der grossen Daseinswelle, in der wir leben, für unsere Erkenntniss bleibt, ist die ideale Richtung auf das Harmonische, nach allen Seiten Festgefügte, in seiner Existenz Glückliche und Normale überhaupt die einzige feste Linie, die wir durch das ganze Weltsystem verfolgen können. Es ist die einzige treibende Idee, die aus dem ungeheuren Wirrsal des Geschehens einigermassen deutlich hervortritt, von der wir sagen können: sie verkörpert ein Ziel, einen Endpunct. Die weiteren philosophischen Träumereien, ob man sich die Welt denken solle als etwas ursprünglich Gutes, das schlecht geworden und nun im Banne eines metaphysischen Willens wieder zum Anfänglichen zurückstrebe – ob das absolute Glück denkbar sei als absolute Ruhe oder harmonische Bewegung – das alles geht mich hierbei herzlich wenig an.
Ich wahre durchaus den Standpunct des Naturforschers. Wenn aber ein derartiges ideales Princip sich von diesem aus für die ganze sichtbare Welt ergiebt, so hat auch der realistische Dichter ein Recht, sich seiner zu bemächtigen, es als »Tendenz« in seinen Dichtungen erscheinen zu lassen. Tendenz zum Harmonischen, Gesunden, Glücklichen: – was will man mehr von der Kunst? Giebt es einen besseren Boden für die Aesthetik, um ihren menschlichen Begriff des Schönen darauf zu bauen? Es ist hier nicht meine Aufgabe, zu zeigen, wie dieser Begriff des Schönen selbst sich im Einzelnen aus dem Begriffe des Normalen, Gesunden entwickelt, ich beschränke mich auf die Grundlagen. Es wird nicht Wenigen so vorkommen, als sinke die realistische Dichtung durch Anerkennung jener Tendenz von ihrer hohen Sonderstellung jäh wieder herab zum Gewöhnlichen. Wenn die Tendenz zum Glücke wieder oben anstehen soll, so hat ja auch der billigste Liebesroman, dessen einziges Ziel ist, dass »sie sich bekommen«, das Recht der Existenz damit zurück erhalten. In Wahrheit will das nichts heissen. Der realistische Dichter soll das Leben schildern, wie es ist. Im Leben waltet die Tendenz zum Glück, zur Gesundheit als Wunsch, nicht als absolute Erfüllung. Das wird der Dichter durchaus anerkennen müssen. Er wird sich stets fernhalten von dem Unterfangen, uns die Welt als ein heiteres Theater darzustellen, wo alle Conflicte zum Guten auslaufen. Eine unerbittliche Nothwendigkeit wird ihn zu den schärfsten Consequenzen zwingen, und wenn er, was nicht zu vermeiden, das Ungesunde in sein Experiment hineinzieht, so ist er verpflichtet, es in seinem ganzen Umfange zur folgerichtigen Entwicklung zu bringen. Seiner Tendenz dient er dann eben bloss im Negativen, im Contraste.
Im Allgemeinen kann ich auch hier nur wiederholen, was bereits öfter gesagt ist: der Realismus hat gar kein Interesse daran, allenthalben mit der Prätention des durchaus »Neuen« aufzutreten. Seine wesentlichste Mission ist, zu zeigen, dass Wissenschaft und Poesie keine principiellen Gegner zu sein brauchen. Das kann aber ebenso gut geschehen, indem wir wissenschaftlichen Factoren in der Dichtung zu ihrem Rechte verhelfen, wie gelegentlichen Falles auch, indem wir einen Zug zum Idealen in der Wissenschaft nachweisen. Nur allein das Metaphysische muss uns fern bleiben. Das Streben nach harmonischem Ausgleich der Kräfte, nach dauerndem Glück ist in jeder Faser etwas Irdisches. Hier auf Erden ringt der Einzelne nach Seligkeit, hier auf Erden pflanzen wir in heiterem Bewusstsein Keime zum Segen der kommenden Geschlechter. Die dunkle Welt des Metaphysischen sagt hier nichts, hilft nichts, hindert nichts; sie kann, wie ich das ausgeführt habe, einen tröstenden Gedanken abgeben beim Tode; an Glück und Unglück im Leben ändert sie nichts.
Jene Schule des Realismus, die gegenwärtig so viel Staub aufwirbelt, hat uns mit beharrlichem Bemühen in einer langen Reihe von psychologischen Gemälden mit dem traurigen Bankerotte des menschlichen Glücksgefühls in Folge krankhafter Verbildung bekannt zu machen gesucht. Ich erwarte eine neue Literatur, die uns mit derselben Schärfe das Gegenstück, den Sieg des Glückes in Folge wachsender, durch Generationen vererbter Gesundheit, in Folge fördernder Verknüpfung des schwachen Individuellen mit einem starken Allgemeinen in Vergangenheit und Gegenwart vorführen soll. Auch dafür giebt es Stoff genug in der Welt, und zwar ist das gerade der Stoff, der in eminentem Sinne das Ideale in der natürlichen Entwickelung darlegen wird. Das Ideale, von dem wir nach Vernichtung so vieler Illusionen noch zu reden wagen, liegt nicht hinter uns wie das Paradies der Christen, nicht nach unserer individuellen Existenz in einer persönlichen Fortdauer im Sinne der Jünger Mohammeds, nicht ganz ausserhalb des practischen Lebens in den Träumen des Genies, des Poeten: es liegt vor uns in der Weise, dass wir selbst unablässig danach streben und in diesem Streben zugleich das Wohl unserer Nachkommen, die Erfüllung derselben im Ideale anbahnen helfen. Das soll uns die Dichtung zeigen. Idealisiren muss für sie nicht heissen, die realen Dinge versetzen mit einem Phantasiestoffe, einem narkotischen Mittel, das Alles rosig macht, aber in seinen schliesslichen Folgen unabänderlich ein Gift bleibt, das den normalen Körper zerstört – sondern es muss heissen, den idealen Faden, den fortwirkenden Hang zum Glücke und zur Gesundheit, der an allem Vorhandenen haftet, durch eine gewisse geschickte Behandlung deutlicher herausleuchten zu lassen, ungefähr wie ein Docent bei einem Experimente sehr wohl die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf eine bestimmte Seite desselben lenken kann, ohne darum den natürlichen Lauf zu verfälschen. Die oberste Pflicht des Dichters hierbei muss freilich allezeit Entsagung sein. Wie schon betont: das Wollen, das wir in der Natur sehen, ist selbst noch keine Erfüllung. Je gesunder der Poet selbst ist, desto eher wird er in die Gefahr gerathen, einerseits das Ungesunde zu grell zu malen, andererseits seine Welt gewaltsam als ein Reich der Gesundheit ausmalen zu wollen. Das Wirkliche muss hier als ewiger Corrector die Auswüchse beseitigen. Für den Standpunct des natürlichen Ideals in der allgemeinen Werthschätzung ist es schliesslich immer noch besser, man lässt es zu schwach durchschimmern im Gange der geschilderten Begebenheiten, als man profanirt es in der Weise des alten metaphysischen Ideals durch künstliches Auffärben.
Eine realistische Dichtung aber ganz ohne Ideal – das ist mir etwas Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im Leben giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber um den finstern Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist der helle Sirius – neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschliessen dürfen.
Sechstes Capitel.
Darwin in der Poesie
Es giebt ein psychologisches Gebiet, das wie kein anderes geschaffen ist, den Blick des Dichters, der in die Tiefen der menschlichen Tragödie einzudringen sucht, mit magischem Banne zu fesseln. Es ist die Erscheinung des bahnbrechenden Genies, des Entdeckers, Erfinders, Reformators auf irgend einem Boden, den noch keiner bebaut hat. Wechselnde Bilder ziehen bei dem einfachen Worte durch den Vorstellungskreis des Gebildeten. Ein Hauch des Einsamen, Weltentrückten, der menschenleeren Wüste streift seine Stirn, durch sein geistiges Auge zittert der verlorene Schein des Lämpchens in der Zelle des verlassenen Grüblers, ein Rauschen von Wogen berührt sein Ohr, über denen schwere Nebelmassen die Fernsicht nach jungfräulichem Inselboden für den Blick der Welt verhüllen. Christus, der dem Zwiegespräch der Geister in der Einöde lauscht, Gutenberg, der im stillen Gemache seine Lettern fügt, Columbus, der die Wellen eines neuen Meeres an sein Steuer branden lässt, treten aus dem Schatten der Geschichte hervor. Aber aus dem Strahlenkreise der Vision steigt auch das blutige Kreuz von Golgatha, klirrt die Kette an den Armen des hispanischen Admirals, tönt der Seufzer des sterbenden Buchdruckermeisters von Mainz, den sie um die Früchte seiner Arbeit betrogen. Der prüfende Geist öffnet sich der Frage: Was für ein Phänomen der irdischen Entwickelungslinie wandelt in diesen Bildern der Einsamkeit, der Grösse und des Martyriums an uns vorüber? Wieder, wie bei den grossen Problemen, die ich früher gestreift, steht die Antwort in erster Linie dem Naturforscher zu.
Um was es sich handelt, das ist nichts Wichtigeres und nichts Geringeres, als die Bildung einer neuen Art.
Die Zeit ist noch nicht allzu fern, wo der Naturforscher sich bei diesem Begriffe nicht viel denken konnte. Heute ist das anders. Die gesammte Formenwelt des Organischen hat sich herausgestellt als eine mächtige, in tausend und tausend Adern zerspaltene Entwickelungswelle, in der das Geschlecht des Menschen nur einen einzigen Ast bildet.
Tief an der Wurzel schon zertheilt in die Doppellinie des Pflanzlichen und des Thierischen, reicht diese Welle aus uralten Zeiten herauf bis zum heutigen Tage. Hervorgegangen aus sehr einfachen Urformen, hat sich innerhalb des Ganzen allmählich eine Fülle verschiedener Typen ausgebildet, die theils nebeneinander fortbestanden, theils ausstarben und Neuem Platz machten. Darwin hat zuerst in der allgemein bekannten einfachen Weise gezeigt, wie in Folge der äussern, örtlichen Bedingungen, in die das organische Leben auf der Erde bei fortschreitender Vermehrung versetzt war, die Bildung der Arten aus gleicher Urform sich annähernd logisch erklären lässt. Ich kenne sehr wohl die Schwierigkeiten, die uns noch auf Schritt und Tritt hier begegnen. Aber sie sind gerade für den Punct, auf den ich für die Betrachtung des menschlichen Entdeckergenies hinaus will, nebensächlicher Natur. Für gewöhnlich giebt es ein organisches Vererbungsgesetz, welches vorschreibt, dass die Nachkommen eines bestimmten Mitgliedes einer Thier- oder Pflanzenart durchaus den Eltern gleichen, also wiederum den Arttypus rein darstellen müssen. Indessen, dieses Gesetz erleidet Störungen, die an sich zwar so geringfügiger Natur sind, wie die unablässigen kleinen Störungen der Planetenbahnen.
Chemische und physikalische Einflüsse machen sich hier geltend, die wir im Detail noch nicht verfolgen können. Das Resultat sind unablässige individuelle Abneigungen der Jungen von den Eltern, meist zu klein, um als wahre pathologische Abnormitäten zu gelten, aber doch stark genug, eine gewisse Rolle im Leben des Individuums zu spielen; von einem Wurf junger Katzen können alle drei gesund sein, wenn auch jede anders gefärbt ist, und es muss schon eine sechs Beine haben oder zeitlebens blind bleiben, um pathologisch als Abnormität aufgefasst zu werden.
Diese anscheinend zwecklosen Varietäten innerhalb des Normalen werden aber von Wichtigkeit, wenn die äussern Existenzbedingungen der ganzen Art sich in Folge klimatischer oder sonstiger Umwälzungen verändern. Wenn ein Land plötzlich kältere Winter bekommt, kann der sonst werthlose Umstand, dass eine Katze vermöge kleiner individueller Abweichung doppelt so dichtes Haar besitzt als die übrigen, von entscheidender Wichtigkeit werden, kann sogar bewirken, dass sie allein mit denjenigen ihrer Jungen, die das starke Kleid geerbt haben, alle andern überdauert und Stammmutter einer neuen Spielart mit wolligerem Pelze wird. Das Ueberdauern der Andern bezeichnet dabei ein Schlagwort als: Sieg im Kampfe um's Dasein.
Innerhalb des Thierischen ist die als Beispiel gewählte Katze ein Genie. Es ist ihr etwas vererbt, etwas in ihr gegeben, das mit Hilfe des zufälligen Zusammentreffens der vorhandenen Gabe und des äussern Bedürfnisses zu einer Erfindung, einem Fortschritte wird. Dieses Genie wird, schematisch gesprochen, geboren als eine willkürliche, ziellose Linie, die aber im Leben plötzlich in's Herz einer Scheibe trifft und ihren Entsender zum Schützenkönige macht. Und die Art, wie dieses Genie sich auf die Nachkommen überträgt, wo es normale Gabe aller wird, ist die directe der körperlichen Vererbung.
Stellen wir jetzt daneben das menschliche Genie. Zunächst handelt es sich hier um etwas weit Feineres, nämlich einen Gehirnprocess. Ein Mensch wird geboren, dessen Art zu denken, Vorstellungen zu verknüpfen, eine gewisse individuelle Besonderheit aufweist, die, ohne pathologisch zu werden, doch innerhalb des Spielraums des Normalen ihre Eigenart wahrt. Die Linie, von der ich eben sprach, ist damit gegeben, aber sie ist noch völlig ziellos. Tausend Genies bleiben einfach unter der Masse verborgen, weil ihre Linie nie das Centrum einer Scheibe trifft. Dieses Treffen hängt von bestimmten Möglichkeiten ab. Es muss irgendwo in der Nähe eine Zielscheibe stehen, ein Stoff sich finden, an dem das Genie sich bewähren kann. Solche Stoffe liegen zu gewissen Zeiten in der Luft. Man denke an die Entdeckungen, die von drei oder vier Menschen fast zu gleicher Zeit gemacht wurden. Man denke daran, was Luther oder Copernicus oder Columbus bereits vorfanden. Wir nehmen an, das Genie ist geboren, der Stoff, an dem es sich bewähren kann, ist auch gegeben. Der betreffende Mensch besitzt jetzt etwas, eine Idee, ein geistiges Plus, das ihn von allen seinen Mitmenschen zugleich scheidet und fördernd heraushebt. So weit ist der Process gänzlich dem oben skizzirten bei der Neubildung einer zoologischen oder botanischen Spielart analog. Durchaus anders aber gestaltet sich der weitere Verlauf im Kampfe um's Dasein. Das doppelte Wollhaar des Raubthiers war etwas vom Individuellen Untrennbares. Es haftete an der Person, es schützte diese Person im Kampfe um's Dasein, und es übertrug sich von ihr zu neuen Personen auf dem Wege physischer Vererbung im Zeugungsprocess. Anders bei der menschlichen Idee, die das Genie durch Zusammenstoss mit einem äussern Zündstoffe entfesselt. In den allermeisten Fällen emancipirt diese sich sehr schnell vom Individuellen, dem eine körperliche Uebertragung durch Vererbung doch nicht gegeben ist, dessen einzelne Person also weiterhin nebensächlich ist. Die Idee überträgt sich von Gehirn zu Gehirn, kämpft vermöge ihrer bessern Kraft sich durch im Kampfe um's Dasein mit andern Ideen und befestigt sich schliesslich als eiserner Bestand im Denkapparate der ganzen Culturmenschheit. In dieser Loslösung der Idee von ihrem Urheber liegt das tragische Schicksal des Genies als Person; die Idee, indem sie als Macht im Kampfe um's Dasein auftritt, kämpft für sich, nicht für ihren Urheber. Die Tragik ist bitter, darüber kann kein Zweifel bestehen. Man fühlt sich manchmal berufen, die Natur grausam zu nennen wegen der groben Mittel, die sie im Daseinskampfe zur Schöpfung einer neuen Thier- oder Pflanzenart anwendet; die Wiege des Fortschritts, des Neuen im Geistesleben der Menschheit ist in dem Sinne das ärgste Procrustesbett, das überhaupt denkbar ist; das Individuum gilt hier gar nichts mehr. Aber eine vernünftige Lebensphilosophie muss sich in diese Thatsachen zu finden wissen. Jene Idee, die unter dem Nebel all' des mystischen Beiwerks doch immer die Herzen der Menschen am meisten im Christenthum angesprochen hat: die stille Resignation, dass der Einzelne am Kreuze sterben müsse, damit sein Werk ein beglückendes Evangelium für viele Tausende werde – sie wird bleiben, auch wenn kein Wort mehr von aller christlichen Metaphysik Gläubige finden sollte – weil sie eine tiefe Wahrheit enthält. Nicht der Mensch siegt im Kampfe um's Dasein, sondern die Idee: so lautet derselbe Satz in wissenschaftlicher Form. Er enthält zugleich eine Formel für die Thatsache und einen Trost. Denn schliesslich, wenn der Mensch auch nicht, wie das bevorzugte Thier in jenem Beispiele von dem doppelten Wollpelze, am eigenen Leibe die Segnungen dessen fühlt, was sein Gehirn in dunkler Mission ausgestreut, so sieht er doch als bewusstes Wesen die Siegesbahn seiner Idee auch noch in ihrer Trennung von seinem Selbst und empfindet ihren Glanz als versöhnende Wärme.
Ich habe das erfinderische Genie mit Absicht aus der reichen Fülle der Erscheinungen im menschlichen Dasein herausgegriffen, die man im engern Sinne als darwinistische Probleme auffassen kann. Ich denke, dass schon dieses eine Beispiel genügt, um zu zeigen, wie sehr man sich hier vor willkürlicher Uebertragung einfacher biologischer Gesetze auf die complicirten Phänomene des menschlichen Geisteslebens hüten muss. Die Anlage, die Zielscheibe, der Kampf um's Dasein: alles spielt auch hier seine Rolle. Aber der Verlauf ist gerade in wesentlichen Puncten ein anderer. Unendlicher Stoff für den Dichter liegt allerdings auf diesen Gebieten. Sowohl das Aufstreben des Neuen wie das Absterben des Veralteten, die geheimnissvollen Processe, wie das Gesunde verdrängt wird durch ein Gesunderes, wie es zum Ungesunden herabsinkt durch haltlose Opposition gegen das bessere Neue, ohne selbst das alles begreifen zu können – sie sind seit alten Tagen die Domäne der Poesie, ohne dass man sich in der rechten Weise über die eigentlichen Gesetze, die darin walten, und ihre Beziehungen zu den Darwin'schen Gedanken hat klar werden wollen. Man kann wohl verlangen, dass ein realistischer Dichter nach Darwin kein Bedenken mehr trägt, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Aber es gehört dazu in erster Linie ein ernstes Studium. Allgemeine Schlagwörter beweisen nichts. Man mache sich daran und entwickele uns zunächst, was noch nicht ordentlich versucht worden ist, die darwinistischen Linien in der Geschichte; man prüfe die Werke ausgezeichneter Beobachter wie Shakespeare im Einzelnen auf das ganze Princip. Dann wird man dahin kommen, Sätze aufstellen zu können, die den Schlagwörtern einen lebendigen Zusammenhang mit der ganzen Wissenschaft geben. Zahllose Puncte sind dabei im Auge zu behalten. Die einfache Zuchtwahl durch persönliches Emporkämpfen und dadurch ermöglichte Gründung einer Familie, die mit jener Ideenneuerung im Genie nichts zu schaffen hat, bei der neben den geistigen vor allen auch die körperlichen Fähigkeiten, Arbeitskraft, weibliche wie männliche Schönheit und anderes, mitspielen, ist beim Menschen natürlich nicht erloschen und wahrt ihre alte Rolle. Das ganze sociale Leben mit all' seinen Klippen und Irrthümern, seinen Triumphen und Fortschritten fordert die Beleuchtung vom Darwin'schen Gesichtspuncte aus. Aber was schon im eng beschränkten Thier- und Pflanzenleben seine ernsten Schwierigkeiten bietet, wird hier vollends zu einem fast unentwirrbaren Gewebe. Körperliche Gesundheit als Vortheil im Daseinskampfe findet ihr Aequivalent in Geldmitteln, die Kraft der Sehnen wird gleichwerthig ersetzt durch die bessere Molecularconstruction des Gehirns, die unerbittliche Strenge des Gesetzes vom Recht der Stärkern sieht sich seltsam durchkreuzt von einem bereits gewaltig angesammelten Fond humaner Anschauungen, die wieder von einer das Gesetz überbietenden Brutalität auf der andern Seite paralysirt werden. Der Dichter, der sich mit Muth der Aufgabe unterzieht, in jeder einzelnen Thatsache hierbei ein Glied grosser Ketten nachzuweisen, sieht sich allerdings auch darin belohnt, dass er jede, auch die geringfügigste Erscheinung, so fern sie nur echt dem Leben entspricht, zum Gegenstande höchst interessanter Darstellungen machen kann. Im Lichte grosser, allgemeiner Gesetze kann die an und für sich nicht sehr poetische Chronik eines Krämerviertels, das ein grosses Magazin im modernsten Stile nach und nach vollkommen todt macht, von höchster dramatischer Wirkung werden, ein Motiv, das Zola in einem seiner besten Romane bereits mit Geschick durchgeführt hat. Die kleinen Thatsachen in dieses Licht des Allgemeinen, Gesetzlichen, höheren Zielen Zustrebenden heraufrücken: das ist ja eben die idealisirende Macht, die der Dichter hat. Das werthlose Gezänk über Werth und Grenzen der Detailmalerei kann hier keine Geltung beanspruchen. Gerade das Studium der biologischen Phänomene der Artumwandlung, wie es Darwin angebahnt, führt von selbst darauf, dass wir uns gewöhnen, den kleinsten Ursachen, den winzigsten Fortschritten und Störungen unter Umständen die allergrösste Wichtigkeit beizulegen. Der Dichter, der nur Einiges von Darwin gelesen, wird mit ganz anderer Werthschätzung an die Dinge des täglichen Lebens herangehen und sich sagen, dass nicht das Ungeheuere, Welterschütternde allein die geistige Durchdringung durch die dichterische Anschauung ermögliche, sondern auch das Kleine – wofern nur der Poet den nöthigen hellen Kopf mitbringt. Denn hohe Ideen aus der Sonne zu lesen ist unverhältnissmässig viel leichter, als aus einem Sandkorn.
Eine andere Bereicherung als Frucht darwinistischer Studien erblicke ich in dem verschärften Verständniss des Dichters für die längere Zeitdauer, die jeder Entwickelungsprocess auch im Menschenleben in Anspruch nimmt. Wie die Welt nicht in sieben Tagen geschaffen ist, so schafft sich auch keine psychologische Thatsache von heute auf morgen. Unsere Bücher sind zwar voll von einer Liebe, einem Hass, die sich einer geschleuderten Dynamitbombe gleich ohne alle Prämissen entladen; der naturwissenschaftlich gebildete Dichter wird hier sceptischer zu Werke gehen.
Unsere älteren grossen Meister – Shakespeare, der Zeitgenosse Bakons, und Göthe, der unmittelbare Vorgänger Darwin's – bleiben dabei nach wie vor unsere Führer und Lehrer. Gerade auf dem darwinistischen Gebiete scheint mir der allgemeine Werth der Methode die Hauptsache, die den Dichter fördern muss – viel mehr noch als das nähere Eingehen auf Fragen der Zuchtwahl. Ich will, um noch einen dritten dahin gehörigen Punct herauszugreifen, auch Gewicht legen auf die Rolle des oft verkannten Wortes Zufall in der Dichtung. Was ist naturwissenschaftlich gesprochen – Zufall?
Nicht Wenige, die sich im Allgemeinen an das Causalprincip gewöhnt haben, wie es die logische Wissenschaft lehrt, meinen in Folge dessen jeden Zufall, der als Factor in einer Dichtung auftritt, schlechtweg als unerlaubten deus ex machina verwerfen zu müssen. Im letzten Grunde der Erscheinungen hängt ja Alles zusammen, das ist richtig. Trotzdem bietet die Welt von einem Standpuncte wie unserm menschlichen, der gewissermassen sehr weit ab in der grossen Kette liegt, das schematische Bild einer unendlichen Menge in sich geschlossener Linien dar, innerhalb deren alles causal verknüpft ist und ohne fremde Beihilfe weiterläuft. Jede Kreuzung zweier dieser Linien erscheint vom Standpuncte der beiden einzelnen wie ein in keinem ihrer eigenen Richtungsgesetze begründeter grober Stoss von aussen. Diesen jedesmaligen Kreuzungsstoss nennen wir Zufall. Vom hypothetischen Standpuncte einer Kenntniss sämmtlicher anfänglicher Richtungsverhältnisse aller causalen Sonderlinien zueinander, also einer mathematisch exacten Vorstellung von der anfänglichen Atomlagerung der irdischen Welt aus hörten die Empfindungen dieses unerwarteten Stosses und damit der Zufall als Sonderbegriff auf zu existiren. Der menschliche Standpunct den Dingen gegenüber ist hiervon noch sehr weit entfernt. Wenn ich in einer Weltstadt von zwei Millionen Einwohnern an einem Tage mit meiner individuellen Linie ohne jede bewusste Abneigung zu einer zweiten hin vier Mal auf diese zweite treffe, also einem und demselben Bekannten vier Mal an vier verschiedenen Orten, die wir beide ohne Kenntniss von der Anwesenheit des andern aufsuchten, begegne, so bleibt mir das, aller atomistischen Nothwendigkeit unbeschadet, persönlich ein vierfacher Zufall. Oder im oben gewählten Beispiele von der neu entstehenden Raubthierart: wenn dort die in sich geschlossene Causalitätsreihe innerhalb des doppelt behaarten Individuums mit der absolut unabhängigen klimatischen Causalitätsreihe, die den strengeren Winter bewirkt, zusammenstösst, so ist dieser Zusammenstoss Zufall. Das Weitere nicht mehr; denn die Erhaltung jenes Individuums und die folgende Ausbildung einer neuen Rasse sind von da ab logische Consequenzen des Zufalls, der als solcher den Ausgangspunct einer neuen, selbstständigen Causalitätslinie bildet. Vom Dichter verlangen, dass er diesen Erscheinungen gegenüber seinen menschlichen Betrachtungsstandpunct aufgeben und uns nur noch überall geschlossene Linien vorführen sollte, hiesse denn doch gerade die Wirklichkeit in seinen Bildern antasten. Wir wissen physikalisch sehr gut, dass unsere Auffassung beispielsweise von der Farbe der Gegenstände eine illusorische ist, indem wir die Farbe an den Dingen haftend glauben, während sie in unserm Auge liegt; soll etwa deswegen der Dichter nicht mehr von rothen Rosen oder blauem Himmel sprechen? Ja, man kann geradezu sagen, dass eine schärfere Beachtung des Zufalls in seiner thatsächlichen Erscheinung den Dichter eher darauf führen wird, ihm eine mehr, als eine weniger wichtige Rolle zuzuertheilen. Man führe – was fachwissenschaftlich bei Gelegenheit angeblicher mystischer Phänomene, zweitem Gesicht, Prophezeiungen und Aehnlichem fast zur Pflicht wird – nur eine kurze Zeit seines Lebens einmal Buch über die Zufälle, denen man begegnet, vor allem die mehrfachen in derselben Sache. Man wird selbst staunen, welche Resultate man erhält, wie merkwürdig unwahrscheinlich das alltäglichste Leben im Grunde genommen ist! Hier und da, an einer Spielbank zum Beispiel, sind die tollsten Beobachtungen dieser Art in einem einzigen Tage zusammen zu bringen. In diesem Puncte aber ist das ganze Leben ein ununterbrochenes blindes Glücksspiel. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit – und hier liegt der Knoten – der Begriff, den wir in jedem prüfenden Augenblicke hineinschmuggeln, ist eben in Wahrheit nichts Reales. Für unsern Standpunct ist es, wenn wir einen Würfel fallen lassen, selbst wenn er fünf leere Seiten hat, positiv nicht wahrscheinlicher, dass eine der leeren, als dass die einzige bezeichnete Seite nach oben zu liegen kommt. Jede Wahrscheinlichkeit hört der freien Macht des Zufalls in der Welt gegenüber auf, gerade weil der Zufall im letzten Ende auch ein Nothwendiges, uns aber völlig Verhülltes einschliesst. Ich weiss recht wohl, dass sich das ganze Innere des logisch denkenden Kritikers auflehnt, wenn ein Poet uns eine Liebesgeschichte erzählt, die auf fünf oder sechs groben Zufällen, wie ungewolltes Begegnen, aufgebaut ist. Und doch spreche ich es rund als meine Ueberzeugung aus, dass man Bände füllen könnte mit der einfachen Aufzählung der grossen und kleinen Zufälle, die bei einer nicht annähernd gleich verwickelten Geschichte im wahren Leben bei peinlicher Beobachtung sich ergeben würden, denn mit jedem Schritt, den wir thun, kreuzen wir fremde ungeahnte Causalitätsreihen, die in Folge der neuen Reihe, die aus dem Contact hervorgeht, eine Macht innerhalb unserer eigenen Linie werden. Ein ganzes Menschenleben bis in dieses feine Gewebe seines Schicksals hinein zu zergliedern: das wäre ein Kunstwerk, wie wir es noch nicht einmal ahnen. In Wahrheit giebt es wenige Puncte, die dem Beobachter so schmerzlich nahe legen, wie weit unsere Kunst in all' ihrer Erfassung des Menschlichen noch hinter der Wirklichkeit zurücksteht.