Kitabı oku: «Die Chronik der Sperlingsgasse», sayfa 3

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Am 3. Dezember

O cara, cara Maria, vale!

Vale, cara Maria!

Cara, cara Maria, vale!

Es war ein berühmter Dichter, welcher dies auf den Grabstein einer geliebten Abgeschiedenen setzte, er hatte treffliche, herzerschütternde Gesänge gesungen; hier wusste er nichts weiter als diese drei Worte, herzzerreißend wiederkehrend. Und jenes „Morgen” dämmerte. Das Leben der großen Stadt begann wieder seinen gewöhnlichen Gang; der Reichtum gähnte auf seinen Kissen oder hatte auch wohl das Herz ebenso schwer wie die Armut, die jetzt aus ihrem dunklen Winkel huschte, um einen neuen Ring der Kette ihres Leidens, einen neuen Tag ihrem Dasein anzuschmieden. Die Gewerbe fassten ihr Handwerkszeug; die großen Maschinen begannen wieder zu hämmern und zu rauchen; die Wagen rollten in den Straßen, und der Taufzug begegnete dem Totenwagen; denn es war nicht die einzige Leiche drüben in der kleinen Kammer, welche in der menschenvollen Stadt im letzten Schlaf ausgestreckt lag.

Ich ging hinüber. Der Kesselschmied Marquart — er war damals noch jünger und kräftiger als heute — hatte sein Hämmern eingestellt und lehnte traurig in der niedrigen Tür, die in seine unterirdische Werkstatt hinabführt; er liebte die tote Marie so gut wie alle, die mit ihr je in Berührung gekommen waren. Hatte sie nicht für jeden fremden Schmerz eine Träne, für jede fremde Freude ein teilnehmendes Lächeln? War sie nicht in der dunklen Sperlingsgasse wie jene sonnige, gute kleine Fee, die überall, wo sie hintrat, eine Blume aus dem Boden hervorrief?

Auf dem Hausflur standen flüsternde Frauen, die mir traurig, als ich vorüberging, zunickten, und auf einer Treppenstufe saß ein kleines schluchzendes Mädchen, eine zerbrochene Puppe im Schoß. Oh, ich weiß das alles noch! Und jetzt trat ich ein...

Da lag sie in ihrem weißen, mit roten Schleifen besetzten Kleide, eine aufgeblühte Rose auf der Brust, in ihrem schwarzen Sarge; die einst so klaren und innigen Augen geschlossen, die ewige ernste Ruhe des Todes auf der Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge Nachbarinnen in weißen Sonntagskleidern befestigten Girlanden von Tannenzweigen und Immergrün, aus denen hier und da eine einsame Blume hervorschaute, um den schwarzen Schrein. Ach, die Armut und der Winter erlaubten nicht, allzuviel

„Süßes der Süßen”

zu streuen!

Der junge Tischler Rudolf unten aus dem Hause stand, die Augen mit der Linken bedeckend, Hammer und Nägel in der Rechten, zur Seite; seine junge Braut lehnte schluchzend das Haupt auf seine Schulter. Oh, ich weiß das alles, alles noch! — Einen letzten, langen, langen Blick warf ich auf die schöne, bleiche, stille Gespielin meiner Kindheit, die Heilige meiner Jünglingsjahre, die Trösterin meines Mannesalters, dann hob ich leise Franz von ihrer Brust, über die er hingesunken war, auf und führte ihn an die Wiege seines Kindes. — Rudolf, der Tischler, begann sein trauriges Werk. Unter dumpfen Hammerschlägen legte sich der Deckel über dies Reliquarium eines Menschenlebens. Ein kalter Schauer überlief mich! Vale, vale, cara Maria!

Die Träger kamen, hoben die leichte Last auf die Schultern und trugen sie die schmale enge Treppe hinab; die Frauen schluchzten, Kinderköpfe lugten verwundert ernst durch die Haustür und wichen scheu zur Seite, als der traurige Zug hinaustrat auf die Straße. Freunde und Bekannte hatten sich eingefunden, das Weib des Malers auf dem letzten Wege zu begleiten; der Kesselschmied zog das Mützchen ab und strich mit seiner schwarzen schwieligen Hand über die Augen. Den wie in einem bösen Traum gehenden Franz führend, schritt ich dem Bretterhäuschen nach, welches unser Liebstes barg. Oh, ich weiß das alles noch ganz genau. So ist das Menschenherz! Viele Jahre sind vorübergegangen seit jenem traurigen Tage, und noch heute erinnere ich mich an alle die finstern Gedanken, die damals durch meine Brust zogen, während ich so manche jüngere Freude vergessen habe!

Es lernt und sieht sich manches auf einem solchen Gange für den, welcher es versteht, auf den Gesichtern der Begegnenden und Nachschauenden zu lesen.

Sieh dort an der Ecke die arme, mit Lumpen bekleidete Frau aus dem Volk, wie sie ihr Kind fester an sich drückt und flüstert: „Was sollte aus dir werden, mein kleines Herz, wenn ich heute so still läge wie die, welche man da fortträgt.”

Dort kommt eine elegante Equipage, Kutscher und Bediente in prächtiger Livree, mit Blumensträußen im Knopfloch. Bunte Hochzeitsbänder flattern an den Kopfgeschirren der Pferde; der junge vornehme Mann führt seine schöne Braut zur Trauung; ihr Auge trifft den Sarg, welcher langsam auf den Schultern der Träger daherschwankt, und die junge Verlobte birgt zitternd ihr juwelenblitzendes Haupt an der Brust neben ihr.

Sieh den Arbeiter, welcher dort das Beil sinken lässt und stier dem Zuge des Todes nachsieht. Schaffe weiter, Proletarier, auch dein Weib liegt zu Hause sterbend; schaffe weiter, du hast keine Zeit zu verlieren; der Tod ist schnell; aber du musst schneller sein, Mann der Arbeit, wenn du sie in ihren letzten Stunden vor dem Hunger schützen willst.

Beugt das Haupt und tretet zur Seite, ihr kettenklirrenden Verbrecher! Der Tod zieht vorüber! Er wird auch euch einst von euren Ketten befreien!

Beugt das Haupt, ihr armen Geschöpfe der Nacht, der Tod zieht vorüber, und auch euch hebt er einst, den erborgten Flitterputz, den armen beschmutzten Körper, die Sünde der Gesellschaft euch abstreifend, rein und heilig empor aus der Dunkelheit, dem Schmutz und dem Elend.

Von dir, du Spötter mit dem faden Lächeln auf den Lippen, fordere ich nicht, dass du zur Seite trittst! Der Zug des Todes mag dir ausweichen — du bist würdig, dein Leben doppelt und dreifach zu leben!

Es ist ein langer Weg aus der Mitte der großen Stadt bis zu dem Johannesfriedhofe draußen, und nie ist mir ein Weg so lang und doch zugleich so kurz vorgekommen. Ich dachte an den Verurteilten, welcher dem Richtplatz näher und näher kommt, welchem jede Minute eine Ewigkeit und der stundenlange Weg ein Augenblick ist. Ach, wir armen Menschen, ist nicht das ganze Leben ein solcher Gang zum Richtplatz? Und doch freuen wir uns und jubeln über bei Yaughan füllen lasse die Blumen am Wege und sehen in jedem Tautropfen, der in ihnen hängt, Himmel und Erde! Armes glückliches Menschenherz!

Die schweren, massigen Regenwolken wälzten sich dicht über der Erde weg, als wir aus dem Tor traten. Grau in grau Himmel und Erde! Grau in grau Herz und Welt!

Die Bäume streckten ihre leeren Äste wehmütig empor, eine Meise flog von Ast zu Ast vor dem Zuge her.

Und jetzt waren wir angelangt vor der Pforte des Friedhofes. Langsam wand der Zug sich den Weg entlang, an frischen und eingesunkenen Hügeln, stolzen Monumenten und dürftig naivem Putz vorüber, der Stelle zu, wo die Hülle der toten Marie ruhen sollte. Im folgenden Frühling machten wir einen hübschen lieblichen Ort daraus, wo die Goldregenbüsche ihre duftenden Trauben herabhängen ließen und die Vögel in den Rosensträuchern zwitscherten, heute jedoch war’s ringsumher gar traurig und unheimlich. Auf dem Grund der Grube, die unser Liebstes aufnehmen sollte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser, in welchem sich aber plötzlich eine lichte blaue Stelle, die oben am Himmel zwischen den ziehenden Wolken durchlugte, widerspiegelte. — Ich habe nichts, nichts vergessen!

Und nun, ihr Männer, lasst den Sarg hinabgleiten; gebt der alten schaffenden Mutter Erde ihr schönes Kind zurück! Und nun, Franz, wirf drei Hände voll Erde auf die versinkende Welt deiner Freude! — Ergreift die Schaufeln, ihr Clowns, und vollendet euer Geschäft! Du alter rotnäsiger Bursch, bemühe dich nicht, ein wehmütiges Gesicht zu ziehen, winke nur deinem Gefährten, dass er die Flasche, und brumme dein altes Totengräberlied in den Bart!

Wie die Schollen dumpfer und dumpfer auf den Sarg poltern und wie jeder Ton das arme Herz erzittern lässt in seinen tiefsten Tiefen! Wie das Auge sich anklammert an den letzten Schein des schwarzen Holzes, welcher durch die bedeckende Erde schimmert, bis endlich jede Spur verschwindet, die hinabgeworfene Erde nur noch Erde trifft, die Höhle sich allmählich füllt und endlich der Hügel sich erhebt, der von nun an mit dem geliebten begrabenen Wesen in unsern Gedanken identisch ist!

Wunderliches Menschenvolk, so groß und so klein in demselben Augenblick! Welch eine Tragödie, welch ein Kampf, welch ein — Puppenspiel jedes Leben; von dem des Kindes, welches vergeblich nach der glänzenden Mondscheibe verlangt und verwelkt, ehe es das Wort „ich” aussprechen kann, bis zu dem des grübelnden Philosophen, welcher in dasselbe Wörtchen „ich” das Universum legt und zusammenbricht, ein körper- und geistesschwacher Greis, der kaum noch das Gefühl für Wärme und Kälte behalten hat.

Sieh um dich, Johannes! Verkehrt auf dem grauen Esel „Zeit” sitzend, reitet die Menschheit ihrem Ziele zu. Horch, wie lustig die Schellen und Glöckchen am Sattelschmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygische Mützen — Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem Ziel schleicht das graue Tier entgegen? Ist’s das wiedergewonnene Paradies, ist’s das Schafott? Die Reiterin kennt es nicht; sie will es nicht kennen! Das Gesicht dem zurückgelegten Wege, der dunklen Vergangenheit zugewandt, lauscht sie den Glöckchen, mag das Tier über blumige Friedensauen traben oder durch das Blut der Schlachtfelder waten — sie lauscht und träumt! Ja, sie träumt. Ein Traum ist das Leben der Menschheit, ein Traum ist das Leben des Individuums. Wie und wo wird das Erwachen sein?

Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Asche eines volkstümlichen Tonkünstlers, der auch viel erdulden musste in seinem Leben, ein Stein, auf welchen eine Freundeshand geschrieben hat:

„Sein Lied war deutsch und deutsch sein Leid,

Sein Leben Kampf mit Not und Neid,

Das Leid flieht diesen Friedensort,

Der Kampf ist aus — das Lied tönt fort!”

Ich lege die Feder nieder und wiederhole leise diese Zeilen. Ich kann heute nicht weiterschreiben.

Am 5. Dezember

Meinem Versprechen gemäß hatte ich der Redaktion der „Welken Blätter” — Wimmerianischen Angedenkens — einige der Federzeichnungen meines Nachbars Strobel vorgeführt und konnte ihm schon heute seine Aufnahme unter die Zeichner jenes witzigen Journals ankündigen. Da ich seine Nase hinter den Scheiben seiner Fenster einige Male hatte hervorlugen sehen, so machte ich mich auf den Weg hinüber zu meiner alten Wohnung, in der ich, seit ich sie verlassen, so viele habe ein- und ausziehen sehen.

Die dicke Madame Pimpernell hat es aufgegeben, in eigener, gewichtiger Person über den Vorräten des Viktualienladens zu thronen, sie hat sich in einen gewaltigen ausgepolsterten Lehnstuhl hinter dem Ofen zurückgezogen, von wo aus sie oft genug Dorette — auch Rettchen genannt —, ihre hagere Tochter und Nachfolgerin im Reich der Käse, der Butter und der Milch, zur Verzweiflung zu bringen vermag.

Das mittlere Stockwerk des Hauses Nr. 11 steht augenblicklich leer, indem nach heftigen Kämpfen mit dem Parterre, treppauf und -ab, die letzten Einwohnerinnen, die verwitwete Geheime Oberfinanzsekretärin Trampel und ihre zwei sehr ältlichen und sehr ansäuerlichen Töchter Heloise und Klara — Öllise und Knarre von der Madame Pimpernell genannt —, abgezogen sind. Klavier, Harfe und Gitarre, die drei Marterinstrumente der Sperlingsgasse, nahmen sie glücklicherweise mit sowie auch den edlen Kater Eros und den ebenso edlen, schiefbeinigen Teckelhund Anteros — Geschenke eines neuen und doch schon antediluvianischen Abälard und Egmont.

Wie oft bin ich einst diese steilen, engen Treppen hinauf und hinab geklettert; jetzt einen Haufen Bücher unter dem Arm, jetzt einen, wie ich glaubte, Furore machen sollenden Leitartikel in der Rocktasche. Wie oft haben Mariens kleine Füße diese schmutzigen Stufen betreten, wenn sie mit Franz zu einem prächtigen Teeabend kam, dem ich immer mit so untadelhafter hausväterlicher Würde vorzustehen wusste! Wie ich dann ihr helles Lachen, welches die feuchten schwarzen Wände so fröhlich wiedergaben, erwartete! Wie sie so reizend über meine verwilderte Stube spötteln konnte und dann trotz aller meiner vorherigen stundenlangen Bemühungen erst durch fünf Minuten ihrer Anwesenheit einen menschlichen Aufenthaltsort daraus machte! Wie ich dann später von der kleinen Quälerin gezwungen wurde, eine unglückliche Flöte hervorzuholen und steinerweichend eine klägliche Nachahmung von „Guter Mond, du gehst so stille” hervorzujammern, bis Franz Einspruch tat oder mir der Atem ausging oder der kleinen Tyrannin die Kraft zu lachen! Es waren selige Abende, und ich nahm das Andenken daran mit hinauf bis zur Tür des Zeichners. Auf mein Anklopfen erschallte drinnen ein unverständliches Gebrumme. Ich trat ein.

Manche Junggesellenwirtschaft habe ich kennengelernt und kann viel vertragen in dieser Hinsicht. Den Doktor Wimmer, den Schauspieler Müller, den Musiker Schmidt, den Kandidaten der Theologie Schulze habe ich in ihrer Häuslichkeit gesehen, von meiner eigenen Unordnung nicht zu sprechen, aber eine solche malerische Liederlichkeit war mir doch noch nicht vorgekommen. Eine Phantasie, durch Justinus Kerners kakodämonischen Magnetismus in Verwirrung geraten, könnte, gefroren, versteinert, verkörpert in einem anatomischen Museum ausgestellt, keinen tolleren Anblick gewähren! Auf einem unaussprechlich lächerlichen Sofa, viel zu kurz für ihn, lag, den Kopf gegen die Tür, die Beine über die Lehne weggestreckt und die Füße gegen die Fensterwand gestemmt, der lange Zeichner, die Zigarre, die große Trostspenderin des neunzehnten Jahrhunderts, im Munde, ein Zeichenbrett auf den Knien und den Stift in der Hand. Ein dreibeiniger Tisch, der ohne Zweifel einst unter die Quadrupeden gehört hatte, war an diese Lagerstatt gezogen; ein leerer Bierkrug, eine halbgeleerte Zigarrenkiste, Tuschnäpfchen, bekritzelte Papiere und andere heterogene Gegenstände bedeckten ihn im reizendsten Mischmasch. Drei verschiedengestaltete Stühle hatte die „Bude” aufzuweisen; der eine aus der Rokokozeit diente als Bibliothek, der andre, ein grün angestrichener Gartenstuhl, verrichtete die Dienste eines Kleiderschranks, und der dritte, von dessen früherem Polster nur noch der zerfetzte Überzug herabhing, war — o horror! — zur Toilette entwürdigt, und ein Waschnapf, Seife, Kämme und Zahnbürsten machten sich viel breiter auf ihm, als irgend nötig war. In einer Ecke des Zimmers lehnte der Ziegenhainer des wanderlustigen Karikaturenzeichners, und auf ihm hing sein breitrandiger Filz. In einem andern Winkel hing eine umfangreiche Reisetasche, und die Wände entlang war mit Stecknadeln eine tolle Zeichnung neben der andern festgenagelt. Das Ganze ein wahres Pandämonium von Humor und skurrilem Unsinn.

„Ah, mein Nachbar!” rief Meister Strobel, bei meinem Eintritt von seinem Sofa aufspringend, mit der einen Hand das Zeichenbrett fortlehnend, mit der andern den wackelnden Tisch am Fallen hindernd. „Das ist sehr edel von Ihnen, dass Sie meinen Besuch so bald erwidern; seien Sie herzlich gegrüßt und nehmen Sie Platz!” Mit diesen Worten ließ er die Last des Bibliothekstuhls zur Erde gleiten und zog ihn an den Tisch, von dem er ebenfalls die meisten Gegenstände an beliebige Plätze schleuderte.

„Ich bin gekommen, Ihnen mitzuteilen, Herr Strobel, dass Ihre Blätter großen Anklang bei der Redaktion der ‚Welken Blätter’ gefunden haben und dass dieselbe stolz sein wird, Sie unter Ihre Mitarbeiter zu zählen.”

„Sehr verbunden”, sagte der Zeichner, der sich auf mysteriöse Weise eben am Ofen beschäftigte, „bitte, nehmen Sie eine Zigarre und erlauben Sie mir, Ihnen eine Tasse Kaffee anzubieten.”

Er sah und roch in einen sehr verdächtig aussehenden Topf, den er aus der Ofenröhre nahm. „O weh!” rief er, während ich alle Heiligen des Kalenders anrief. „Die Quelle ist versiegt!”

„Bitte, machen Sie keine Umstände, Ihre Zigarren sind ausgezeichnet!”

„Ja”, sagte Strobel, sich nun wieder auf sein Sofa setzend, „das ist der einzige Luxus, den ich nicht entbehren könnte, und ich preise meinen Stern, der mich in einer Zeit geboren werden ließ, wo man die Redensart ‚Kein Vergnügen ohne die Damen’ in die jedenfalls passendere ,Kein Vergnügen ohne eine Zigarre’ umgeändert hat.”

„Sind Sie ein solcher Weiberfeind?”

„Keineswegs; im Gegenteil, ich beuge mich ganz und gar dem französischen Wort ,Ce que femme veut, Dieu Ie veut’ und ziehe — deshalb gerade — die nicht so anspruchsvolle Zigarre vor, die für uns glüht, ohne das gleiche zu verlangen, die interessant ist, ohne interessiert sein zu wollen, und so weiter und so weiter!”

„Sie sind wirklich ein echtes Kind unserer Zeit, die durch zu viele und zu verschiedenartige Anspannungen im Ganzen bei dem einzelnen das Gehenlassen, die Athaumasie, die Apathie zur Gottheit gemacht hat.”

„Puh”, sagte der Zeichner, eine gewaltige Dampfwolke fortblasend, „ich konnt’s mir denken, da sind wir schon in einem solchen Gespräch, wie sie alles Zusammenleben jetzt verbittern: übrigens ist unsere Zeit durchaus nicht apathisch, aber der Einzelne fängt an, das wahre Prinzip herauszufinden, dass nämlich die Sache durch die Sache gehen muss. — Nicht jeder erste und — taliter qualiter — beste soll sich fähig glauben, den Wegweiser spielen zu können, den Arm ausstrecken und schreien: Holla, da lauft, dort geht der rechte Weg, dort liegt das Ziel!”

„Und die seitwärts abführenden Holzwege?”

„Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgendeiner schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie so viele Erfahrungen für den Geist, so viele Skizzen für meine Mappe heimgebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.”

„Sie müssen ein eigentümliches Leben geführt haben und führen”, sagte ich, den sonderbaren Menschen vor mir ansehend. Er strich mit der Hand über das sonnverbrannte, verschrumpfte Gesicht und lächelte.

„Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, ist stets eigentümlich”, sagte er. „Übrigens wird jeder Mensch mit irgendeiner Eigentümlichkeit geboren, die, wenn man sie gewähren lässt — was gewöhnlich nicht geschieht —, sich durch das ganze Leben zu ranken vermag, hier Blüten treibend, dort Stacheln ansetzend, dort — von außen gestochen — Galläpfel. Was mich betrifft, so bin ich von frühester Jugend auf mit der unwiderstehlichsten Neigung behaftet gewesen, mein Leben auf dem Rücken liegend hinzubringen und im Stehen und Gehen die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Sie lächeln — aber was ich bin, bin ich dadurch geworden.”

„Ich lächelte nur über die Richtigkeit Ihrer Bemerkung. Wir alle sind Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das Geistervolk zu belauschen, aber es ist freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerstraße und dem Lärm des Marktes.”

„Holla!” rief der Zeichner, plötzlich aufspringend und nach dem Fenster eilend. „Sehen Sie, welch ein Bild!”

In der Dachwohnung über der meinigen drüben hatte sich ein Fenster geöffnet. Die kleine Ballettänzerin, welche dort wohnt, ließ ihr hübsches Kindchen nach den leise herabsinkenden Schneeflocken greifen. Das Kind streckte die Ärmchen aus und jubelte, wenn sich einer der großen weißen Sterne auf seine Händchen legte oder auf sein Näschen. Die arme, ohne die Schminke der Bühne so bleiche Mutter sah so glücklich aus, dass niemand in diesem Augenblick die traurige Geschichte des jungen Weibes geahnt hätte.

„Ich habe auf Ihrem Schreibtische Blätter gesehen mit der Überschrift ,Chronik der Sperlingsgasse’”, sagte Strobel, „das Bild da drüben gehört hinein, wie es in meine Skizzenmappe gehört.”

„In meinen Blättern würde es eine dunkle Seite bilden”, antwortete ich, „und die Chronik hat deren genug. Wie wär’s aber, wenn Sie Mitarbeiter dieser Chronik der Sperlingsgasse würden. Sie haben ein gar glückliches Auge!”

„Glauben Sie?” fragte der Karikaturenzeichner, welcher den Kleiderschrankstuhl an das Fenster gezogen hatte und emsig auf einem Papier kritzelte. „Sie wollen keine dunklen Blätter; kennen Sie vielleicht die Geschichte jenes englischen Zerrbildzeichners, der vor dem Spiegel an seinem eigenen Gesichte die Fratzen der menschlichen Leidenschaften studierte?”

„Nein, ich kenne die Geschichte nicht, was ward mit ihm?”

„Er — schnitt sich den Hals ab”, sagte der Zeichner dumpf, seine vollendete Skizze fortlegend.

Verwundert schaute ich auf. Das Gesicht Strobels hatte einen Ausdruck von Trübsinn angenommen, der mich fast erschreckte. Er sprach nicht weiter, und es trat eine Pause ein, während welcher drüben das Kind lachte und jubelte und die Tänzerin den Spatzen, die sich zwitschernd auf die Dachrinne setzten, Brotkrumen streute. Ich sah, dass der Zeichner allein sein wollte, und ging; der sonderbare Mensch begleitete mich bis zur Treppe. Dort sagte er, mir die Hand drückend und lächelnd:

„Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik werden, Signor!”

So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturenzeichner Ulrich Strobel.

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