Kitabı oku: «Faust oder Mephisto?», sayfa 2
Angesichts der globalen Auswirkungen der Corona-Krise gibt es keine nationalstaatlichen Lösungen. In dieser Situation ist vor allem europäische Solidarität notwendig. Das Virus trifft in der EU auf gesellschaftliche Infrastrukturen, die bereits von einer langen Phase scharfer Autoritätspolitik erschöpft sind. In der auf den Finanzcrash von 2007/2008 folgenden Krise setzten EU-Kommission und Europäische Zentralbank alles daran, die Banken und andere Marktakteure als systemrelevant zu deklarieren und mit hohen Milliardenbeträgen zu retten. Öffentliche Ausgaben für Sozialbereiche wurden abgelehnt, da sie das Wachstum bremsen würden. Nach neoliberalen Vorgaben wurden öffentliche Budgets zusammengestrichen, was vor allem auch die Gesundheitssysteme betraf. Hauptleidtragender war damals bekanntlich Griechenland, dessen staatliche Mittel auf 8 Milliarden Euro halbiert wurden. Zehntausende von Ärzten und Angestellte des Gesundheitswesens wurden entlassen, fast ein Drittel der Krankenhäuser geschlossen. Verantwortlich für die harten Kürzungsbedingungen war vor allem die deutsche Regierung. Auch in der aktuellen Corona-Krise blockierte die stärkste Wirtschaftsmacht der EU lange Zeit finanzielle Hilfsprogramme für notleidende Länder. Um die Vergemeinschaftung der südländischen Schuldenlasten zu verhindern, lehnte Kanzlerin Merkel (unterstützt von Kommissionspräsidentin von der Leyen) die auch von Staatspräsident Emmanuel Macron geforderte Einrichtung von Corona-Bonds als europäischen Rettungsschirm noch im Sommer 2020 ab.
Mit Unterschriften unter EU-Solidaritäts-Forderungen meldeten sich auch Intellektuelle, Publizisten, Ökonomen und Ex-Politiker aus Deutschland zu Wort. So wandte sich der Verleger Helge Malchow, unterstützt unter anderem von den Autorinnen und Autoren Aleida und Jan Assmann, Nora Bossong, Carolin Emcke, Claus Leggewie, Robert Menasse, Christoph Ransmayer oder Moritz Rinke, in einem »offenen Brief« an die Bundesregierung: »Die Lage verlangt konkrete, sofortige Solidarität, sprich Corona-Bonds zu etablieren, gemeinsame, von den Eurostaaten emittierte Anleihen.« Es sei wichtig, dies in die Wege zu leiten, »bevor die Abwärtsspirale eine noch größere Eigendynamik entwickelt.« Wichtig sei dies aus ethischen Gründen genauso wie aus kulturellen, sozialen und eben ökonomischen: »Deutschland verfügt über eine enorme Kraft. Europa hat uns alles gegeben, was wir sind – jetzt ist es an uns, zurückzugeben.« Fast gleichzeitig veröffentlichte eine andere Initiative (unterzeichnet unter anderem von Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Ulrike Guérot, Jürgen Habermas, Axel Honneth, Volker Schlöndorff, Peter Schneider und Margarethe von Trotta) einen Solidaritätsaufruf in der Zeit und Le Monde. Auch wenn der Begriff »Bonds« durch »Fonds« ersetzt wurde, ist der Schuldenfinanzierungsplan ähnlich: »Die Europäische Kommission sollte einen Corona-Fonds einrichten, der in der Lage ist, sich auf den internationalen Kapitalmärkten möglichst sehr langfristig zu verschulden. Aus diesem Fonds sollten die Mittel als Transfers an die Mitgliederstaaten fließen.« Für die Unterzeichner des Aufrufs sei es »nur schwer nachvollziehbar, warum die Bundeskanzlerin und der Vizekanzler so große Vorbehalte gegenüber diesem für die europäische Solidarität und Stabilität notwendigen Schritt an den Tag legen. Bei dieser Solidarität geht es auch um ein gemeinsames Bewusstsein von der Krise.« Es gelte gerade jetzt, Wege zu finden, »mit denen wir verdeutlichen können, dass wir zusammengehören.« Wozu solle die EU denn gut sein, wenn sie in Zeiten von Corona nicht zeige, »dass Europäer zusammenstehen und für eine gemeinsame Zukunft kämpfen?«
Nur wenige Tage später, am 5. April 2020, forderte Joschka Fischer, der Mitunterzeichner des Intellektuellenaufrufs in der Zeit gemeinsam mit Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel deutsche Solidarität mit südlichen Ländern. »Italien und Spanien werden es Europa und vor allem uns Deutschen hundert Jahre lang nicht vergessen, wenn wir sie jetzt im Stich lassen«, lautete der Appell. Zwar sei das deutsche Exportverbot für Hilfsmittel aufgehoben und Deutschland gehöre zu den Ländern, die schwer erkrankten Patienten aus Italien, Frankreich und Spanien Krankenhausbetten anbieten. Aber das sei angesichts von Tausenden Toten, massenhafter Arbeitslosigkeit und schweren sozialen Verwerfungen nur ein »Tropfen auf dem heißen Stein«. Die Parallelität des solidarischen Engagements von Intellektuellen und Ex-Politikern erschien wie eine Aufhebung der Unterscheidung von Denken und Handeln oder des Widerspruchs von Geist und Macht. Doch dann wurde bekannt, dass der ehemalige SPD-Chef zum gleichen Zeitpunkt, als er mit dem ex-grünen Vizekanzler Joschka Fischer die »schweren sozialen Verwerfungen« in der Corona-Krise brandmarkte, selbst als hoch bezahlter Berater für den skandalösen Fleischkonzern Tönnies tätig war. Durch die massenhaften Corona-Ausbrüche bei dem größten Schweineschlachthaus Deutschlands sind nicht nur Informationen über die katastrophalen Sanitäreinrichtungen und Tierquälereien in den Focus der Öffentlichkeit geraten, sondern auch Details der menschenverachtenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Werkvertragsarbeiterinnen und -arbeiter. Während Gabriel in seiner Zeit als Wirtschaftsminister die Fleischindustrie behutsam kritisiert hatte, kassierte er von März bis Ende Mai 2020 als Tönnies-Berater 10.000 Euro pro Monat sowie ein zusätzliches, vierstelliges Honorar für jeden Reisetag. Im Spiegel verteidigte Gabriel seine Bereicherung: »Für normale Menschen sind 10.000 Euro viel Geld. Aber in der Branche ist das kein besonders hoher Betrag. Ich bin kein Politiker mehr.« Aber was ist er denn? In der Öffentlichkeit präsentiert er sich nicht als Unternehmensberater oder Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, sondern lieber als Vorsitzender der »Atlantik-Brücke«, eines Vereins, der die wirtschafts-, bildungs- und militärpolitische Verbindung zwischen den USA und Deutschland stärken will.
Die Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina (»Regeln am Band«) hat Arbeiter in Schlachtbetrieben begleitet und erklärte, dass es »nichts bringt, bloß auf Missstände hinzuweisen, die uns nicht unmittelbar berühren«. Wir sollten uns auch immer fragen, was das mit uns zu tun habe, mit unserem Wohlstand. Man könne die Wohnverhältnisse in einer Arbeiterbaracke nicht isoliert betrachten. Es gehe ja nicht nur um diesen einen Betrieb, der jetzt in den Medien sei – oder eine einzelne Branche. Die Missstände bei Tönnies kamen ja nur wegen Corona wieder in die Öffentlichkeit, obwohl wir schon lange wussten, wie es in den Fleischfabriken aussehe. Auch die Erklärung der Ministerin Julia Klöckner, es gebe »kein Recht auf Billigfleisch«, verurteilte Yulia Lokshina: »Mit diesem Begriff ist niemandem gedient, er verdreht die Diskussion. Die Frage ist doch, warum das Fleisch so billig ist. Dieses Produkt ist letztlich selbst eine Misshandlung von Menschen, den Arbeitern aber auch den Konsumenten, die dieses schlechte Fleisch essen. Die Fleischpreise müssen unter anderem ja auch deswegen so niedrig sein, weil es in Deutschland inzwischen sehr viele Menschen gibt, die am Existenzminimum leben. Es ist das Symptom eines gesamtgesellschaftlichen Problems, das sich längst auch in anderen Bereichen – der Bildung oder der Pflege beobachten lässt.« Lokshinas Dokumentarfilm hat das Zeug zu einem »J’accuse« unserer Tage.
Obwohl auch in Deutschland Intellektuelle verschiedene Aufrufe zur europäischen Solidarität unterstützen, gibt es kaum mehr transnationale Zusammenschlüsse. Auch der prominente Philosoph Peter Sloterdijk stilisiert sich lieber als nationaler Einzelgänger. In Le Point und in der Zeit kritisierte er die Corona-Maßnahmen der französischen Regierung als diktatorischen »Kriegszustand«, während »das deutsche Prozedere« ihm »plausibel, streng, doch unfanatisch« erscheint. »Die Handlungsfähigkeit der Exekutiven in Europa« sei erst mal nur im Rahmen »national formierter Rechtsräume« gegeben. »Wir können mit unseren Gesetzen nicht die Franzosen retten und die uns nicht mit ihren.« Wegen seiner Merkel-Kritik in der Flüchtlingskrise mit AfD-Argumenten hatte das Zeit-Feuilleton Sloterdijk vorübergehend ausgegrenzt – im April 2020 wurde er wieder als einer »der bedeutendsten und debattenfreudigsten Intellektuellen der Gegenwart« präsentiert. Die Rechtspopulisten verharmlost er jedoch nach wie vor. »Die AfD-Aufregung im Lande ist ein Luxusthema für unterbeschäftigte Übertreiber«, erklärte er und warnte angesichts der Corona-Krise vor einer drohenden »Sozialkybernetik« als »Trendartikel«. Es gehe nicht um einen gesellschaftlichen Neuanfang auf der Grundlage eines sozialen und ökonomischen Wandels, sondern um »den Beginn eines Zeitalters, dessen basale ethische Evidenz« er in seinem schon vor Jahren erschienenen Buch »Du mußt dein Leben ändern« als »Ko-Immunismus« bezeichnet habe. »Anders als im Kommunismus« handele es sich nicht um »eine Produktions- und Güterverteilungsgemeinschaft, sondern um das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen Schutz.« Doch um europäische Solidarität in der aktuellen Krisensituation geht es ihm nicht. Eine Unterstützung des Intellektuellen-Aufrufs für einen solidarischen Corona-Fonds lehnt er ab: »Ich meine, man sollte sentimentale Menschen niemals mit geldpolitischen Angelegenheiten betrauen. Geldpolitik ist eine Grausamkeitspraxis, darin der Katastrophenmedizin verwandt. Der Wohlmeinende verteilt Mittel, die er nicht hat, mit offenen Händen. Ob ein Corona-Fonds sinnvoll ist, will ich nicht beurteilen, aber es kommt mir vor, als ob zu viele Laien auf dem Gebiet der Finanzpolitik dilettieren.« In seiner Abgrenzung von sozialpolitisch engagierten Schriftstellern und Philosophen fühlt Sloterdijk sich »ganz beim Kollegen Platon« und empfiehlt auch keine Neulektüre von Albert Camus‹ »Die Pest«, da der Inhalt »nicht zur Situation« passe: »Wir entwickeln derzeit ein heikles, leicht unheimliches Gegenseitigkeitsbewusstsein. Der Mitmensch erscheint wie ein Umkehrbild des Vampirs, er saugt nicht ab, er flößt etwas ein. Der Nächste könnte unbewusst ein Virenträger sein. Mit Corona wird der symptomfreie Spreader zu einer bleibenden Figur werden. In Amerika deutet sich das übrigens seit Längerem an, wo bestimmte Leute als toxic persons bezeichnet werden. Da bricht der Puritanismus als Hygienismus durch.«
Der französische Philosoph Alain Finkielkraut hat Sloterdijks »arrogante« Kritik an Macrons Corona-Schutzmaßnahmen und seiner Empfehlung, »Die Pest« zu vergessen, heftig zurückgewiesen. Er selbst habe den Roman von Camus im Ausnahmezustand von Paris mit Gewinn wiedergelesen und lobt die europäischen Regierungen, die den »Primat der Politik« von der Wirtschaft zurückerobert hätten. Negativ bewertet er dabei die Rolle der Intellektuellen, die schon seit Jahren für die politische »Niederlage des Denkens« verantwortlich seien. Das 20. Jahrhundert habe »gelehrt, dass die Dummheit nicht das Gegenteil der Intelligenz ist. Es gibt eine Dummheit der Intelligenz und die Dummheit der Intellektuellen, die in Systemen denken. Bei allem, was dem Menschen geschieht, hat der Mensch stets seine Hand im Spiel. Wir sind nicht nur ein Spielball und ein Produkt der Strukturen. Nichts kann sich der Geschichte entziehen, die ihr Urteil fällen wird.«
Auch bei Albert Camus geht es um die »Dummheit« des Systemdenkens und das gestörte Verhältnis von Geist und Politik. Es ist nicht nur eine Erinnerung an die faschistische »Pest«, sondern auch an die große Cholera-Krise von 1831/32, die zum hervorragenden Beispiel für europäische Solidarität wurde. Damals erschütterten nationale Revolutionen und kriegerische Auseinandersetzungen fast ganz Europa. Im Frühjahr 1831 lieferten sich nach Polen einmarschierte russische Truppen vor den Toren Warschaus heftige Gefechte mit der polnischen Armee und brachten zusätzlich die Cholera mit. In Warschau, einer Stadt mit 120.000 Einwohnern, starben täglich Hunderte von Menschen an der damals noch unerforschten Krankheit. In dieser Situation kam unerwartete Solidarität von der Pariser Zivilgesellschaft. Während die französische Regierung jede Hilfe ablehnte, mobilisierte ein 1830 gegründetes französisch-polnisches Komitee die kulturelle Elite der Stadt. Redakteure der wichtigsten Pariser Zeitungen und prominente Schriftsteller wie Victor Hugo oder Alexandre Dumas unterstützten die Aktion, einen humanitären Korridor zwischen Frankreich und Polen zu errichten. So gelang es, Spenden zu sammeln, Ärzte mit Medikamenten und freiwillige Helfer nach Warschau zu bringen. Auch Heinrich Heine berichtete in einer Artikelserie (»Ich rede von der Cholera«) der Augsburger Allgemeinen Zeitung über die damalige »Schreckenszeit«, in der die Leichenwagen nicht ausreichten, Verschwörungstheorien um sich griffen und die asozialen Reichen in »gesündere Gegenden« flüchteten. Hoffnung auf Erlösung signalisierten auch für Heine nur europäische Solidaritätsaktionen.
Blick zurück: Mythos der Antike – Gründungsmythos der Moderne?
Dass Dichter und Denker über Europa als kulturellen Begriff oder politisches Modell reflektieren, hat seit der Antike eine lange Tradition. Besonders die griechische Kultur, das Römische Reich und das Christentum hinterließen bis heute ihre Spuren. In der griechischen Mythologie ist »Europa« die Tochter des phönizischen Königspaars Agenor und Telephassa. Der Geschichtsschreiber Herodot berichtete im 4. Jahrhundert vor Christus über den Raub der Prinzessin besonders anschaulich. Der Göttervater Zeus verliebte sich in die Schöne und näherte sich ihr in Stiergestalt. Und sie, von seiner Erscheinung beeindruckt, ließ sich auf dem Stierrücken sitzend nach Kreta entführen, wo das Paar – so der Mythos – drei Kinder zeugte. Die Entführungsgeschichte ist seit Homers »Ilias« aus der Literaturgeschichte nicht mehr wegzudenken und findet auch in der Bildkunst, auf Vasen, Reliefs, Wandgemälden und sogar Papiergeld seinen Niederschlag.
»Europa«, ihre Vorfahren und Nachkommen symbolisieren zunächst die kulturelle Verbindung der Völker, die sich ums Mittelmeer gruppieren, auch den Zusammenschluss mit dem Norden und Osten. Die Mythengestalt übernahm durch die historischen Transformationen bis heute unterschiedlichste Rollen: von der geraubten Jungfrau über die zu Gott strebenden Seele bis zur fatalen Verführerin. Seit dem 2. Jahrhundert vor Christus war die Rollenverteilung von der Kritik der Philosophen an den Liebesaffären der Götter beeinflusst. Noch in der Spätantike sorgten christliche Autoren wie Tertullian oder der Kirchenvater Augustinus dafür, dass negative Wertungen lange fortwirkten. Erst die Renaissance-Humanisten wie Boccaccio fanden wieder Gefallen am Europa-Mythos. Sie trennten die traditionellen Deutungen von der christlichen Heilswahrheit, um so die historische Distanz zur Antike zu betonen. So erschien »Europa« als historische Persönlichkeit, die den Namen eines Erdteils geprägt hatte. Trotz der harten Verfolgungen, die das Christentum erlebte, konnte es sich, von Konstantin dem Großen und Theodosius I. gefördert, vor allem im Römischen Reich etablieren. Während mit dem Ende der Antike das Imperium im Westen zusammenbrach, blieb es im Osten als Byzantinisches Reich bis Mitte des 15. Jahrhunderts bestehen. Zu dieser Zeit lösten die westwärts drängenden hunnischen Nomaden eine Völkerwanderung aus, von der auch germanische Stämme wie die Franken, Goten und Angelsachsen erfasst wurden und so den Grundstein für zukünftige Nationen in Westeuropa bildeten. Im Frühmittelalter nannte man Karl den Großen, den Herrscher des Frankenreichs, »Vater Europas«. Bis zur Aufklärung blieb die Europa-Idee christlich. Von 1618 bis 1648 verwüstete der Dreißigjährige Krieg große Teile des Kontinents. Um 1700 entwickelte sich erstmals ein Diskurs über eine gemeinsame Identität eines kulturellen Europas, die kaum mehr von religiösen Lehren geprägt war. Doch die Französische Revolution und ihre Folgen verstärkten zunächst wieder das Trennende. Es gab nicht nur Freiheit und Volksherrschaft. Halb Europa musste sich vorübergehend dem Willen Napoleons beugen. Nationalstaatliche Ideen, militärische Aufrüstung und die zahlreichen geopolitischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts führten in die beiden Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts mit mehr als 100 Millionen Opfern. Hauptschuldige dieser Katastrophen waren deutsche Eliten – und ihre Texte. Ungeklärt blieb dabei allerdings stets das historische Verhältnis von Nation und Territorium, vor allem in Deutschland.
»Deutschland? Aber wo liegt es?«, fragte Friedrich Schiller ratlos in einem Xenion aus dem Jahre 1797. Er wusste »das Land nicht zu finden«. Wo »das gelehrte« beginne, höre »das politische« auf. Über die Frage, was »Deutschland« eigentlich sei, wird seit Bestehen des alten Abendlandes aus wechselnden, meist kriegerischen Anlässen gerätselt. Seit Tacitus haben Politiker, Philosophen und Dichter Zweckanalysen, Modelle und Idyllen produziert. Deutschland war oft nur eine Idee, eine Legende, Vergangenheit und Fata Morgana der Wirklichkeit zugleich. Für Heinrich Heine verloren sich die Konturen des Landes im Schneetreiben eines heimlichen »Wintermärchens«, während Nietzsche das »deutsche Paradox« unheimlich erschien, weil die Texte – wie ein verlöschendes Menetekel an der Wand – nicht am Territorium haften wollten. Gemeint ist nicht die literaturwissenschaftliche Metapher von der »Lesbarkeit der Welt«, sondern ein historischer Vorgang, in dem sich der Text an die Stelle von territorialer Wirklichkeit schiebt, um sie zu verdrängen oder je nach Bedarf umzudeuten. Es scheint eine deutsche Arroganz des Textes zu geben, die sich aus bloßer Quantität ableitet. Das Geschriebene hat in Deutschland oft einen Mangel an authentischer Tradition zu überdecken versucht. In makabrer Modernität sei »Deutschland«, so André Glucksmann, »kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt und weit über die alten Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verbreitet wurden«. Die »Einigung durch Texte« sei einhergegangen mit der »Auflösung des Territoriums«.
Seit dem Konflikt zwischen Rom und Byzanz, dem Streit der Staufer und Welfen, in der dreißigjährigen Apokalypse des 17. Jahrhunderts und vor allem im totalitären Spannungsfeld des 20. Jahrhunderts sahen die Deutschen sich stets geistigen, politischen und militärischen Blockbildungen ausgeliefert. Im Herzen Europas nach allen Seiten hin offen angesiedelt und stammesmäßig bunt durcheinandergewürfelt, genossen sie selten die Ruhe unbedrohten Daseins. Für die geografische Bestimmung Deutschlands gab es niemals ein dauernd gültiges Zentrum, sondern nur vorübergehende Mittelpunkte. Die wechselnden, meist militärischen Zentren erschwerten die Bildung einer geistig-kulturellen Mitte. Unbestritten ist, dass sich die »deutsche Frühzeit« im Wesentlichen »außerhalb Deutschlands, nämlich in Frankreich abspielte«. Ludwig Börne analysierte das Problem der deutschen Misere in seiner Dissertation aus dem Jahre 1808 bereits »soziologisch«: »Wenn ein Land eines Mittelpunkts entbehrt, so spricht sich auch die zentrifugale Tendenz des Egoismus nirgends stärker aus als bei seinen Einwohnern«. Das Fehlen eines politischen und kulturellen Zentrums war für ihn auch die Ursache, dass in Deutschland keine »öffentliche Meinung« entstehen könne. Vor dem Hintergrund seiner Paris-Erfahrung konstatierte er resigniert, dass es »die Deutschen zu keinem Stile bringen, weil sie einzeln stehen«. Börnes Vorschlag an die Deutschen war, mit den Franzosen einen »Einheitsstaat« zu bilden, in dem Paris den fehlenden deutschen Mittelpunkt ersetzen sollte. Im 20. Jahrhundert haben Völkerpsychologen und Historiker ähnlich wie Börne die »Wildheit« des deutschen Charakters aus der nationalspezifischen Zerrissenheit abgeleitet. Die aus den alten gentilen und tribalen Teilungen herrührende territoriale Uneinheitlichkeit habe auch eine moralische Uneinheitlichkeit zur Folge gehabt. Besonders beispielhaft zeigt sich der Widerspruch von Text und Territorium in der deutschen Interpretation des Abendlandes als »Reichsidee«. Über einen Zeitraum von fast tausend Jahren waren Abendland und »Heiliges Römisches Reich« im deutschen Bewusstsein das gleiche. Was die Kultur des Abendlandes von anderen Zivilisationen unterschied, war ihr missionarischer Charakter, der von Anfang an durch ein widersprüchliches Beziehungsgeflecht von Orient und Okzident geprägt war. Wesentliche Grundlage des europäischen Bewusstseins bildeten das Imperium Romanum und die katholische Kirche. Obwohl die Religionskriege einen Erosionsprozess auslösten, blieb das europäische Bewusstsein bis zum 17. Jahrhundert christlich dominiert. Der Ausschließlichkeitsanspruch der abendländischen Glaubenswahrheit und Bildungstradition ließ sich auch gut mit dem elitären Lebensgefühl des deutsch-germanischen Mythenkreises verbinden. Erst im 18. Jahrhundert setzte die Bewegung der Aufklärung neue Akzente und forderte Toleranz, die Achtung der Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit.
Die »modernen« Europapläne waren und sind nicht vorstellbar ohne ihre positiven Vorläufer in der Literatur, in Texten, deren Ideen die Katastrophen überlebt haben. So ist zum Beispiel Thomas Manns »Zauberberg« nicht nur ein Roman, sondern auch ein symbolischer Ort für das »Werden« der Moderne. Vor dem Ersten Weltkrieg bot das elitäre Forum solcher Bergsanatorien einer gebildeten und vermögenden jungen Generation die Möglichkeit, sich körperlich und geistig über die widersprüchliche Sphäre des europäischen »Flachlandes« zu erheben. Ein solches Forum wurde am Ende des 19. Jahrhunderts auch in Riva am Gardasee von dem aus einer alten Wiener Ärztedynastie stammenden Christoph von Hartungen gegründet. Die besondere Anziehungskraft des Gardasees, von dem schon Vergil und Dante schwärmten, begründete sich durch seine uralte Verbindung von südlichem Naturerlebnis, Heilklima und humanistischer Kulturtradition. Von herausragender historischer und kultureller Bedeutung ist der am nördlichen Ufer liegende größte Ort der Region. Zahlreiche archäologische Funde zeugen von der Besiedlung Rivas und seiner Umgebung schon seit der Jungsteinzeit. Nacheinander lösten sich Römer, Goten, Langobarden und Franken in der Herrschaft ab. Danach war Riva eine von den fürstlichen Bischöfen Trients, den Venezianern, dem Mailänder Visconti-Geschlecht, sowie den Scaligern aus Verona umkämpfte Region. Die Rivaner akzeptierten die geistige »Schutzherrschaft« der Scaliger, wie sie später auch Napoleon und die Bayern als Besatzer dulden mussten, bevor sie zum Zankapfel zwischen Italien und Österreich wurden. So entwickelte sich Riva während und nach der Renaissance zu einem multikulturellen Zentrum Mitteleuropas, und das Sanatorium Hartungen wurde ein attraktiver Treffpunkt für prominente Denker, Künstler und Diplomaten.
Neben Thomas und Heinrich Mann verkehrten in Riva auch andere Schriftsteller wie Franz Kafka und Max Brod, Hermann und Clara Sudermann, Christian Morgenstern, Rudolf Steiner, Carl Dallago oder Peter Rosegger, Psychoanalytiker wie Sigmund Freud, der Turiner Kriminalanthropologe Cesare Lombroso und der Berliner Sexualtherapeut Magnus Hirschfeld, Komponisten und Maler wie Eugen d’Albert, Hermione von Preuschen, Hans Lietzmann oder Max Oppenheimer, Schauspielerinnen und Schauspieler wie Alexander Girardi und Katharina Schratt (eine enge Freundin von Kaiser Franz-Josef). Fast alle haben in ihren Werken, Briefen oder Tagebüchern Rivaner Reminiszenzen anklingen lassen und kulturpolitische Visionen für Europa entworfen. Thomas Mann fand hier vorübergehend eine geistige Lebensform zur Regulierung seines inneren Nord-Süd-Konfliktes. Seine innere Spannungslinie verlief nämlich nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen dem Norden und Süden Europas, zwischen dem deutschen Gefühl und römischem Milieu. Noch 1926, in »Lübeck als geistige Lebensform«, charakterisierte er seine Entwicklung als die des »Ohrenmenschen« mit der »Sensibilität des Nordens«, im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich, dem »Augenmenschen« mit der »Empfänglichkeit des Südens«. Anfänglich machte die »ganze belleza« des »Mittelmeerländischen« Thomas Mann und seine nordische Künstlerseele »nervös«. Später beeindruckten ihn positive literarische Reiseerlebnisse. Sich mit Goethe vergleichend, kam er zu der Erkenntnis, »dass das urbane Genie, der erzogene Titan, der europäische Deutsche, welcher der Welt zwar ein ausgeprägt deutsches, der eigenen Nation aber ein europäisches Antlitz zuwendet, in Italien fertig wurde.« Auch in Christoph von Hartungens Familienchronik spiegeln sich widersprüchliche Visionen. Die Aufzeichnungen (»Krieg und Frieden«) beginnen im »alten Österreich« um 1900 und enden mit dem Jahr 1946. In der Empfindung des Autors erscheinen die beiden Weltkriege und die dazwischen liegenden Jahre als zusammenhängende Katastrophenzeit Mitteleuropas.
Doch was war mit der Formel »Mitteleuropa« gemeint, einem Gebiet, das politisch, kulturhistorisch oder naturräumlich definiert werden kann? In Deutschland erhielt sie im 19. Jahrhundert eine überwiegend politische Bedeutung: Publizisten, Ökonomen und Politiker schienen mit dem »Projekt Mitteleuropa« ein ideales Gegengewicht zu den Großmachtansprüchen Frankreichs und Russlands gefunden zu haben. Dabei ging es meist um die Vision eines von Deutschland dominierten Staatenbundes von Triest bis Polen. Einige träumten auch vom Zusammenschluss ganz Österreich-Ungarns mit Deutschland zu einem »70-Millionen-Reich«. Als sich dann 1870/71 Bismarcks »kleindeutsche« Lösung durchsetzte, entwickelten die Österreicher eine spezielle Gegenideologie, die den eigenen Vielvölkerstaat als die organische Basis »Mitteleuropas« betrachtete. Trotz seiner imperialen Gesten, farbenprächtigen Militärparaden und religiösen Prozessionen erwies sich die kaiserliche und königliche Doppelmonarchie Österreich-Ungarns nicht als überzeugender Kandidat für ein neues heiliges Reich zwischen Okzident und Orient. Wie künstlich und fragil das Bündnis war, sollte spätestens das Attentat von Sarajewo und seine Folgen zeigen. In seinem Roman »Radetzkymarsch« hat Joseph Roth die Endphase der Habsburger Monarchie beschrieben: »Sie zerfällt, sie ist schon zerfallen! Ein Greis, dem Tode geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach und durch das Wunder, dass er auf ihm noch sitzen kann. Wie lange noch, wie lange noch? Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich selbständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehen nicht mehr in die Kirche. Sie gehen in die nationalen Vereine.« Der Kurort Riva am Gardasee war in dieser Situation eine der letzten progressiven Oasen mit Aufbruchsstimmungen und alternativen Umgangsformen zwischen Geist und Macht. Der Hartung‘sche Salon blieb bis zuletzt nicht nur ein Ort »mitteleuropäischer« Kulturdebatten, sondern auch eine »Börse« für diplomatische Kontakte. Selbst der österreichische Kaiser schien die »Neutralität« der Region zu akzeptieren. Die »diplomatischen« Sonderbeziehungen der Familie von Hartungen begannen bereits in Wien, als der spätere Sanatoriumsgründer Christoph von Hartungen (Senior) Arzt und Freund des russischen Botschafters und Ministers Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow wurde. Auch die engen Kontakte zwischen den Familien von Hartungen und Bismarck/von Arnim waren von Bedeutung, ebenso die Korrespondenz mit der polnischen Dichterin Kazimiera Illakowicz, die als Privatsekretärin des Marschalls Jozef Pilsudski tätig war und im Warschauer Außenministerium arbeitete. Die Kontakte zwischen den Stammgästen des Sanatoriums und Politikern aus verschiedenen Ländern gingen über die k.u.k-Dimension hinaus. Das galt auch für Heinrich Manns geistige und persönliche Beziehung zu dem späteren Gründer und Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Tomás Carrigue Masaryk. Doch der Erste Weltkrieg schnitt eine tiefe Zäsur in die Epoche. Ihr Verkünder am Gardasee hieß Gabriele d’Annunzio. Sein rauschhafter Ästhetizismus nahm das politische Programm des Hitler-Freundes Mussolini vorweg.
Thomas Mann hat diesen Rausch, der auch ihn erfasste, später um seiner eigenen Läuterung willen als Seelendrama einer Generation beschrieben und analysiert. Heinrich Manns radikale Kritik an den Intellektuellen seiner Zeit, die zum Bruderstreit führte, zielte vor allem auf das deutsche Verhältnis von Geist und Macht in der Zwischenkriegszeit: »Niemals trifft geistige Macht zusammen mit der öffentlichen Gewalt von Minderwertigkeiten. Das Furchtbarste, das Absterben der Intellektualität, ist schon geschehen, bevor das Leben selbst niedrig wird, unansehnlich wird und sich schließlich ausdrückt in der Trefflichkeit, mit der man es vernichtet.« Nach der ersten Weltkriegskatastrophe schienen »Verlierer« und »Gewinner« in Europa gleichermaßen orientierungslos, und eine apokalyptische Stimmung breitete sich aus. Genau diesen Ton traf ein deutsches Buch mit dem suggestiven Titel »Der Untergang des Abendlandes«, dessen erster Teil unmittelbar nach Kriegsende erschien und innerhalb kürzester Zeit in mehreren Sprachen zum Bestseller wurde. Der Autor, Oswald Spengler, der bis 1914 noch ein unbedeutender Gymnasiallehrer und Privatgelehrter war, galt nun in ganz Europa als verheißungsvoller Nachkriegsprophet. Die Absicht des Geschichtsphilosophen war es, nicht nur die Vergangenheit Europas zu beleuchten, sondern auch Prognosen für die Zukunft zu erstellen. Ausgehend von der Analyse verschiedener Hochkulturen mit dem Schwerpunkt Antike und Abendland, entwarf er eine »Morphologie der Weltgeschichte« mit dem Anspruch, »biografische Urformen« und Entwicklungsgesetze freizulegen. Unter Berufung auf Goethes Formenlehre versuchte er, Naturerkenntnisse auf die Geschichtsforschung zu übertragen. Demnach müssten alle europäischen Kultursysteme, ähnlich wie biologische Zyklen die Entwicklungsstadien »Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall« durchlaufen. Und die Kultur des Abendlandes habe bereits im 19. Jahrhundert die Blüte ihrer Entwicklung überschritten. Dieses Stadium des Verfalls sei identisch mit dem Wesenskern der »Zivilisation«. Dabei sei der Widerspruch zwischen »Kultur« und »Zivilisation« nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein geografischer, nämlich der zwischen Deutschland und dem Westen. Entsprechend seines konstruierten Zeitschemas erwartete Spengler schon bald eine neue despotische Weltherrschaft, das Zeitalter der »Cäsaren«. Das System des Nationalsozialismus, das Spengler noch drei Jahre erlebte, vor allem dessen Rassenideologie, lehnte er ab, sah aber im frühen faschistischen Italien Mussolinis seine Ideen verwirklicht. Als im September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann und sich Mussolini bald darauf an Hitlers Seite stellte und Frankreich und Großbritannien im Sommer 1940 den Krieg erklärte, da ließ Thomas Mann seine Romanfigur Serenus Zeitblom im »Doktor Faustus« erkennen, dass die Achse Berlin-Rom nicht ein Höhepunkt der »europäischen Gesittung« sei, sondern deren Ende.
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