Ruhelos

Abonelik
0
Yorumlar
Parçayı oku
Okundu olarak işaretle
Yazı tipi:Aa'dan küçükDaha fazla Aa

William Boyd

Ruhelos

Roman

Aus dem Englischen von Chris Hirte

Kampa

für Susan

Wir sagen wohl, die Stunde des Todes sei ungewiss, aber wenn wir es sagen, stellen wir uns diese Stunde in weiter, vager Ferne vor, wir denken nicht daran, dass sie irgendeine Beziehung zu dem bereits begonnenen Tage haben und dass der Tod – oder sein erster partieller Zugriff, nach dem er uns nicht mehr loslassen wird – am gleichen Nachmittag noch erfolgen könne, der uns so gar nicht ungewiss schien, für den der Gebrauch der Stunden bereits im Voraus festgelegt war. Man hält an seinem Spaziergang fest, um im Monat die erforderliche Menge an frischer Luft zusammenzubekommen, man hat sich bei der Wahl des Mantels verweilt, den man mitnehmen will, oder des Kutschers, der geholt werden soll, man sitzt im Wagen, der Tag liegt vor einem und erscheint kurz nur aus dem Grunde, weil man zurzeit wieder zu Hause sein möchte, um eine Freundin zu empfangen; man wünschte, es wäre morgen schön, und man ahnt nicht, dass der Tod, der auf einer anderen Ebene schon selbst durch undurchdringliches Dunkel wandelnd, zu einem gelangt ist und gerade diesen Tag für seinen Auftritt gewählt hat, die nächsten Minuten schon …

Marcel Proust, Guermantes

1 Ins Herz von England

Wenn ich als Kind frech war, widersprach oder mich irgendwie schlecht benahm, wies mich meine Mutter zurecht, indem sie sagte: »Eines Tages kommt jemand und bringt mich um. Dann wird es dir leidtun.« Oder: »Sie kommen aus heiterem Himmel und holen mich ab – was sagst du dann?« Oder: »Eines Morgens wachst du auf, und ich bin weg. Einfach verschwunden. Wart’s nur ab!«

Es ist merkwürdig, aber man denkt nicht ernsthaft nach über diese Drohungen, wenn man jung ist. Doch wenn ich heute auf die Ereignisse des Sommers 1976 zurückblicke, als England unter einer nicht enden wollenden Hitzewelle ächzte und stöhnte, weiß ich genau, wovon meine Mutter sprach: Heute kenne ich die dunkle Unterströmung der Angst unter der glatten Oberfläche ihres Alltags, die auch nach vielen Jahren friedlichen Dahinlebens nicht versiegte. Heute weiß ich, dass sie ständig Angst hatte, umgebracht zu werden. Und das aus gutem Grund.

Es begann, wie ich mich erinnere, in den ersten Junitagen. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr, aber es muss ein Samstag gewesen sein, weil Jochen nicht in der Vorschule war und wir beide wie gewöhnlich nach Middle Ashton fuhren. Auf der Fernstraße von Oxford nach Stratford bogen wir in Chipping Norton nach Evesham ab, dann noch einmal und noch einmal, als wollten wir die Rangordnung der Straßen in abfallender Folge durchfahren; Fernstraße, Provinzstraße, Landstraße, Verbindungsstraße, bis wir uns auf dem befestigten Feldweg befanden, der durch den dichten und hohen Buchenwald in das schmale Tal hinabführte, in dem das Dörfchen Middle Ashton lag. Diese Fahrt machte ich mindestens zweimal die Woche, und jedes Mal war es so, als würde ich in eine versunkene Welt eintauchen, ins Herz des alten England – ein grünes, vergessenes Shangri-La, wo alles älter, modriger und baufälliger war als anderswo.

Middle Ashton war vor Jahrhunderten um Ashton House herum entstanden, ein jakobinisches Landhaus, das noch immer von einem entfernten Verwandten der einstigen Eigentümer bewohnt wurde. Deren Vorfahr, Trefor Parry, ein zu Wohlstand gekommener walisischer Wollhändler des siebzehnten Jahrhunderts, hatte, um mit seinem Reichtum zu protzen, seine großartige Domäne ausgerechnet im tiefsten England errichtet. Jetzt, nach vielen Generationen verschwenderischer Parrys und beharrlicher Vernachlässigung, fiel das Gutshaus, nur noch von ein paar wurmstichigen Balken gestützt, in sich zusammen und überantwortete seine ausgedörrte Seele der Entropie. Durchhängende Planen bedeckten das Dach des Ostflügels, rostende Gerüste kündeten von vergeblichen, längst aufgegebenen Sanierungsvorhaben, und der weiche gelbe Cotswold-Sandstein der Außenmauern blieb, wenn man ihn berührte, an den Händen kleben wie nasser Toast. Nahebei befanden sich die kleine Kirche, ein feuchtes, düsteres Bauwerk, beinahe erdrückt von dichten schwarzgrünen Eiben, die das Tageslicht aufzusaugen schienen; dann der trübsinnige Pub, The Peace and Plenty, wo man mit dem Kopf die fettige, nikotingebeizte Decke streifte, wenn man an die Bar ging; sowie das Postamt mit Lebensmittel- und Spirituosenverkauf; schließlich die verstreuten Cottages, manche strohgedeckt und grün bemoost, aber es gab auch ansehnliche alte Häuser mit großen Gärten. Die Dorfstraßen waren von mannshohen wilden Hecken gesäumt, die zu beiden Seiten wucherten, als hätte sie der Verkehr vergangener Zeiten in kleine Täler verwandelt und sich wie ein reißender Bach mit jedem Jahrzehnt einen Fuß tiefer eingeschnitten. Die riesigen und uralten Eichen, Buchen und Kastanien versenkten das Dorf während des Tages in einen immerwährenden Dämmer und vollführten des Nachts ihre atonale Sinfonie aus Knarren, Flüstern und Seufzen, wenn der Wind durchs dichte Geäst strich und das alte Holz zum Stöhnen und Klagen brachte.

Ich freute mich auf das wunderbar schattige Middle Ashton, denn es war wieder ein brütend heißer Tag – jeder Tag kam einem heiß vor in jenem Sommer –, aber die Hitze ging uns noch nicht so auf die Nerven wie später. Jochen saß hinten und blickte aus dem Rückfenster – er sah gern zu, wie sich die Straße »abspulte« –, und ich hörte Musik im Radio, als er mir eine Frage stellte.

»Wenn du zum Fenster sprichst, kann ich dich nicht hören«, sagte ich.

»Entschuldige, Mummy.«

Er drehte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf meine Schulter und sprach mir leise ins Ohr.

»Ist Granny deine richtige Mummy?«

»Natürlich. Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht … Sie ist so seltsam.«

»Jeder ist seltsam, bei Lichte besehen«, sagte ich. »Ich bin seltsam, du bist seltsam …«

»Das stimmt«, sagte er. »Ich weiß.« Er legte den Kopf auf meine Schulter, bearbeitete den Nackenmuskel über meinem rechten Schlüsselbein mit seinem spitzen kleinen Kinn, und mir kamen sofort die Tränen. Ab und zu machte er so etwas mit mir, Jochen, mein seltsamer Sohn – und brachte mich damit fast zum Heulen, aus Gründen, die ich mir selber nicht richtig erklären konnte.

Am Dorfeingang, gegenüber dem Peace and Plenty, hielt ein Brauereifahrzeug und lieferte Bier. Es blieb nur eine schmale Lücke, durch die ich mich quetschen musste.

»Hippo kriegt Schrammen«, warnte mich Jochen. Mein Auto war ein Renault 5 aus siebter Hand, himmelblau mit karminroter (weil ausgetauschter) Motorhaube. Jochen hatte ihn taufen wollen, und ich schlug Hippolyte vor, weil ein französisches Auto meiner Meinung nach einen französischen Namen brauchte (aus irgendeinem Grund hatte ich gerade Taine gelesen), und so wurde Hippo daraus – zumindest für Jochen. Ich persönlich kann Leute nicht ausstehen, die ihren Autos Namen geben.

»Nein«, sagte ich. »Ich passe schon auf.«

Ich hatte mich beinahe durchmanövriert, Zentimeter um Zentimeter, als der Bierfahrer aus dem Pub kam, sich in den Weg stellte und mich mit theatralischem Gefuchtel vorwärts dirigierte – ein ziemlich junger Kerl noch. Sein dicker Bauch zerdehnte das Morrell-Logo auf seinem Sweatshirt, und seine rot glänzende Biervisage wurde von breiten Koteletten eingerahmt, die einem viktorianischen Dragoner alle Ehre gemacht hätten.

»Weiter, weiter, ja, gut so, du kriegst es hin, Schätzchen.« Genervt winkte er mich durch und knurrte abschätzig: »Ist ja wohl kein Sherman-Panzer.«

Als ich neben ihm war, kurbelte ich lächelnd die Scheibe herunter und sagte: »Wenn Sie Ihre Wampe einziehen würden, wäre es ein ganzes Stück leichter, Sie dummes Arschloch.«

Ich gab Gas, bevor er wusste, wie ihm geschah, und beim Hochkurbeln des Fensters spürte ich, dass meine Wut verflog, so schnell, wie sie gekommen war – ein köstlich kribbelndes Gefühl. Ich war nicht gerade in Hochstimmung, wohl wahr, weil ich mir an dem Morgen bei dem Versuch, ein Poster im Arbeitszimmer aufzuhängen, mit slapstickartiger Zwangsläufigkeit und Ungeschicklichkeit mit dem Hammer auf den Daumen – der einen Wandhaken festhielt – geschlagen hatte. Charlie Chaplin wäre stolz auf mich gewesen, so wie ich jaulte und hüpfte und mit der Hand wedelte, als wollte ich sie abschütteln. Mein Daumennagel unter dem hautfarbenen Pflaster war nun pflaumenblau, und ein kleines Schmerzzentrum in meinem Daumen pulsierte wie eine organische Uhr, die die Sekunden bis zu meinem Ableben zählt. Aber während ich davonfuhr, spürte ich den adrenalinbefeuerten Herzschlag, den Freudentaumel über meine Dreistigkeit; in Momenten wie diesen war aller Ärger in mir begraben – in mir und unserer ganzen Spezies.

»Mummy, du hast ein schlimmes Wort benutzt«, sagte Jochen sanft, aber unnachsichtig.

»Tut mir leid, der Mann hat mich echt aufgeregt.«

»Er wollte doch nur helfen.«

»Nein, er wollte mich bevormunden.«

Jochen saß da und kaute eine Weile an dem neuen Wort, dann gab er auf.

»Endlich sind wir da«, sagte er aufatmend.

Das Cottage meiner Mutter stand inmitten dichter, üppiger Vegetation und wurde von einer unbeschnittenen, ausufernden Buchsbaumhecke umgeben, die von Kletterrosen und Klematis durchwuchert war. Der büschelige und handgeschnittene Rasen war von einem geradezu unanständigen Sattgrün, das der gnadenlosen Sonne hohnsprach. Aus der Luft, dachte ich, mussten Cottage und Garten aussehen wie eine grüne, wild wuchernde Oase – wie eine Aufforderung an die Behörden, sofort ein Rasensprengverbot zu erlassen. Meine Mutter war eine passionierte, aber eigensinnige Gärtnerin: Sie pflanzte eng und schnitt kurz. Wenn ein Busch gut gedieh, ließ sie ihn gewähren und scherte sich nicht darum, ob er andere Pflanzen erstickte oder zu viel Schatten erzeugte. Ihr Garten, verkündete sie, sollte eine kontrollierte Wildnis sein – da sie nicht einmal einen Rasenmäher hatte, schnitt sie das Gras mit der Gartenschere –, und sie wusste, dass sich andere im Dorf darüber ärgerten, weil hier schmucke und ordentliche Gärten als wichtigste Vorzeigetugend galten. Aber niemand konnte sich beschweren, dass ihr Garten vernachlässigt und ungepflegt war; keiner im Dorf verwendete so viel Zeit auf den Garten wie Mrs Sally Gilmartin, und die Tatsache, dass sie mit ihrem Fleiß auf üppigen Wildwuchs abzielte, konnte man vielleicht kritisieren, nicht aber verurteilen.

 

Wir nannten es Cottage, aber in Wirklichkeit war es ein kleines zweigeschossiges Haus aus Cotswold-Sandsteinquadern und Feuersteindachziegeln, das im achtzehnten Jahrhundert umgebaut worden war. Im Obergeschoss gab es noch die alten Flügelfenster, und die Zimmer waren dunkel und niedrig, während das Erdgeschoss Schiebefenster und einen hübsch geschnitzten Eingang mit ionischem Ziergiebel und gekehlten Halbsäulen besaß. Irgendwie hatte sie Huw Parry-Jones, dem dipsomanischen Eigentümer von Ashton House, das Cottage abgeluchst, als er noch betrunkener gewesen war als sonst, und die Rückseite grenzte an die bescheidenen Überreste von Ashton House Park – nun eine ungemähte und unbeweidete Wiese und alles, was den Parrys von den Hunderten Hektar Hügelland, die sie in diesem Teil von Oxfordshire besessen hatten, geblieben war. Seitlich stand ein Holzschuppen mit Garage, der fast vollkommen von Efeu und wildem Wein überwachsen war. Ich sah ihr Auto dort stehen, einen weißen Austin Allegro, also war sie zu Hause.

Jochen und ich öffneten die Pforte und hielten Ausschau nach ihr. Jochens Ruf »Granny, wir sind da« wurde sofort von einem lauten »Hip-hip, hurra!« erwidert, das hinter dem Haus hervorkam. Und dann kam sie selbst, im Rollstuhl über den Plattenweg. Sie hielt an und streckte die Arme aus, als wollte sie uns beide miteinander umarmen, aber wir blieben wie angewurzelt stehen.

»Warum in aller Welt sitzt du im Rollstuhl?«, fragte ich.

»Schieb mich rein, Liebes«, sagte sie, »und alles klärt sich auf.«

Als ich sie mit Jochen ins Haus schob, sah ich, dass eine kleine Holzrampe zur Türschwelle hinaufführte.

»Wie lange sitzt du da schon drin, Sal?«, fragte ich. »Du hättest mich anrufen sollen.«

»Oh, zwei, drei Tage«, sagte sie. »Nicht der Rede wert.«

Weil meine Mutter so auffallend gesund aussah, spürte ich nicht die Betroffenheit, die ich vielleicht hätte empfinden müssen. Ihr Gesicht war leicht gebräunt, ihr dichtes graublondes Haar glänzte und war frisch geschnitten. Und wie um diese Schnelldiagnose zu bestätigen, entstieg sie, kaum hatten wir sie hineingeschoben, dem Rollstuhl, beugte sich mühelos vor und gab Jochen einen Kuss.

»Ich bin gestürzt«, sagte sie und zeigte auf die Treppe. »Die letzten zwei oder drei Stufen – gestolpert, gefallen, und hab mir am Rücken wehgetan. Der Rollstuhl ist eine Empfehlung von Doktor Thorne, damit ich nicht so viel herumlaufe. Vom Laufen wird es nämlich schlimmer.«

»Wer ist Doktor Thorne? Was ist mit Doktor Brotherton?«

»Der hat Ferien. Doktor Thorne ist die Vertretung – war die Vertretung … Netter junger Mann«, fügte sie hinzu. »Jetzt bin ich ihn wieder los.«

Sie ging voraus zur Küche. Ich suchte in ihrer Haltung, ihrem Gang nach Anzeichen für einen schmerzenden Rücken, konnte aber nichts entdecken.

»Er ist wirklich nützlich«, sagte sie, als spürte sie meine wachsende Verunsicherung, meine Ungläubigkeit. »Der Rollstuhl, meine ich, beim Wirtschaften. Nicht zu glauben, wie viele Stunden am Tag man auf den Beinen ist.«

Jochen schaute in den Kühlschrank. »Was gibt’s zu Mittag, Granny?«

»Salat«, sagte sie. »Zum Kochen ist es zu heiß. Gieß dir was zu trinken ein, mein Schatz.«

»Salat ess ich gern«, sagte Jochen und nahm sich eine Dose Coca-Cola. »Was Kaltes hab ich am liebsten.«

»Guter Junge.« Meine Mutter zog mich beiseite. »Ich fürchte, heute kann er nicht bleiben. Das wird mir zu viel, wegen des Rollstuhls und überhaupt.«

Ich unterdrückte meine Enttäuschung und meine egoistischen Regungen – die Samstagnachmittage für mich zu haben, während Jochen den halben Tag in Middle Ashton verbrachte, war mir zur lieben Gewohnheit geworden. Meine Mutter ging ans Fenster und spähte unter vorgehaltener Hand hinaus. Von der Essecke sah man in den Garten, und der Garten grenzte an die Wiese, die nur sporadisch gemäht wurde, manchmal in Abständen von zwei oder drei Jahren, daher war sie voller Wildblumen und bestand aus unzähligen Grassorten und Unkraut. Und jenseits der Wiese begann der Wald, der aus irgendeinem vergessenen Grund Witch Wood hieß – ein uralter Bestand aus Eichen, Buchen und Kastanien, nur die Ulmen fehlten natürlich oder gingen gerade ein. Ich fand es merkwürdig, dass sie so angestrengt hinausblickte. Das passt nicht zu ihren üblichen Marotten und Eigenheiten, sagte ich mir. Ich legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Ist alles in Ordnung, altes Haus?«

»Hmm. Es war nur ein Sturz. Ein Schock für den Organismus, wie es heißt. In ein, zwei Wochen bin ich wieder auf dem Posten.«

»Sonst ist nichts? Du würdest es mir doch sagen, oder?«

Sie wandte mir ihr hübsches Gesicht zu und bedachte mich mit dem offenherzigen Blick, den ich so gut kannte – große blassblaue Augen. Aber inzwischen, nach allem, was ich hinter mir hatte, konnte ich diesem Blick standhalten, ich ließ mich nicht mehr so leicht ins Bockshorn jagen.

»Was soll denn sein, meine Liebe? Glaubst du, ich werde senil?«

Ungeachtet dessen bat sie mich, sie im Rollstuhl durchs Dorf bis zur Post zu fahren, um unnötigerweise eine Flasche Milch und eine Zeitung zu kaufen. Mit Mrs Cumber, der Postfrau, redete sie ausführlich über ihren schlimmen Rücken, und auf der Rückfahrt ließ sie mich halten, um über den Steinwall hinweg mit dem jungen Bauunternehmer Percy Fleet und seiner langjährigen Freundin (Melinda? Melissa?) zu plaudern, während die ihren Gartengrill anheizten – eine Ziegelkonstruktion mit Schornstein, die sich stolz auf der Betonfläche vor dem neuen Wintergarten erhob. Sie bedauerten meine Mutter: Ein Sturz, das war wirklich das Schlimmste. Melinda führte das Beispiel ihres alten, von Schlaganfällen heimgesuchten Onkels an, der nach einem Sturz im Badezimmer wochenlang verwirrt gewesen war.

»So was will ich auch, Percy«, sagte meine Mutter und zeigte auf den Wintergarten. »Sehr schön.«

»Ein Voranschlag kostet nichts, Mrs Gilmartin.«

»Wie hat es Ihrer Tante hier gefallen? Hat sie sich amüsiert?«

»Meiner Schwiegermutter«, berichtigte Percy.

»Ach ja, natürlich. Ihrer Schwiegermutter.«

Wir verabschiedeten uns, und ich schob sie unwillig die holprige Straße entlang, während in mir Ärger darüber hochstieg, dass sie mich zur Mitwirkenden in dieser Theatervorstellung gemacht hatte. Überhaupt kommentierte sie ständig das Kommen und Gehen der Leute, als würde sie alle überwachen und jedes Mal die Stechuhr betätigen wie ein übereifriger Vorarbeiter, der seine Untergebenen schikaniert – das machte sie schon, solange ich denken konnte. Reg dich nicht auf, sagte ich mir. Nach dem Essen fahre ich mit Jochen zurück, er kann im Garten spielen, wir können in den Parks der Uni spazieren gehen …

»Du darfst mir nicht böse sein, Ruth.« Sie blickte über die Schulter zu mir auf.

Ich hörte auf zu schieben und zündete mir eine Zigarette an. »Ich bin dir nicht böse.«

»O doch, das bist du. Lass mich einfach sehen, wie ich zurechtkomme. Nächsten Samstag ist vielleicht alles wieder in Ordnung.«

Als wir zurück waren, sagte Jochen mit Grabesstimme: »Vom Rauchen kann man Krebs kriegen.« Ich fuhr ihn an, und wir aßen unsere Mahlzeit in ziemlich angespannter Stimmung mit langen Schweigephasen, die meine Mutter ab und zu mit heiter-banalen Bemerkungen über das Dorf unterbrach. Sie überredete mich zu einem Glas Wein, und ich wurde etwas lockerer. Ich half ihr beim Abwasch und trocknete ab, während sie die Gläser im heißen Wasser spülte. Mutter-Tochter, Tochter-Mutter, sucht die Tochter in der Butter, reimte ich vor mich hin, plötzlich froh, dass Wochenende war, ohne Unterricht, ohne Studenten, und dachte mir, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, einmal ein wenig Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Da sagte meine Mutter etwas Merkwürdiges.

Sie hielt wieder die Hand über die Augen und blickte zum Wald hinüber.

»Was ist?«

»Siehst du jemanden? Ist da jemand im Wald?«

Ich schaute. »Niemand, den ich sehen würde. Warum?«

»Mir war, als hätte ich jemanden gesehen.«

»Wanderer, Spaziergänger – heute ist Samstag, die Sonne scheint.«

»Na klar: Die Sonne scheint, und die Welt ist in bester Ordnung.«

Sie ging zur Anrichte, holte das Fernglas, das dort immer lag, und richtete es auf den Wald.

Ich ignorierte ihren Sarkasmus, machte mich auf die Suche nach Jochen, damit wir losfahren konnten. Demonstrativ setzte sich meine Mutter in den Rollstuhl und fuhr zur Haustür. Jochen erzählte ihr vom Bierfahrer und meinem schamlosen Gebrauch von Schimpfwörtern. Meine Mutter nahm sein Gesicht in die Hände und lächelte ihn liebevoll an.

»Deine Mutter kann sehr wütend werden, wenn sie will, und dieser Mann war ganz bestimmt sehr dumm«, sagte sie. »Deine Mutter ist eine zornige junge Frau.«

»Na, vielen Dank auch, Sal«, sagte ich und beugte mich über sie, um sie auf die Stirn zu küssen. »Ich ruf dich heute Abend an.«

»Tust du mir einen kleinen Gefallen?«, sagte sie, und dann bat sie mich, es in Zukunft zweimal klingeln zu lassen, aufzulegen und neu zu wählen. »Dann weiß ich, dass du’s bist«, erklärte sie. »Mit dem Rollstuhl komm ich nicht so schnell durchs Haus.«

Jetzt machte ich mir zum ersten Mal wirklich Sorgen. Waren das nicht schon Wahnvorstellungen oder Anzeichen geistiger Zerrüttung? Aber sie sah den Blick in meinen Augen.

»Ich weiß, was du denkst, Ruth«, sagte sie. »Du liegst falsch, völlig falsch.« Sie erhob sich aus dem Rollstuhl und stand plötzlich hoch aufgereckt und starr da. »Warte einen Augenblick«, sagte sie und stieg die Treppe hinauf.

»Hast du Granny wieder geärgert?«, fragte Jochen mit leisem Vorwurf.

»Nein.«

Meine Mutter kam die Treppe herunter – ohne Anstrengung, wie mir schien – und trug einen dicken gelbbraunen Schnellhefter unter dem Arm. Sie hielt ihn mir hin.

»Ich möchte, dass du das liest«, sagte sie.

Ich nahm ihr den Hefter ab. Er schien etliche Dutzend Seiten zu enthalten – verschiedene Papiersorten und Formate. Ich schlug ihn auf. Es gab eine Titelseite: DIE GESCHICHTE DER EVA DELEKTORSKAJA.

»Eva Delektorskaja«, sagte ich verdutzt. »Wer ist das?«

»Ich«, erwiderte sie. »Ich bin Eva Delektorskaja.«