Kitabı oku: «Das letzte Opfer», sayfa 2

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„Ja klar, ich könnte mal vorfühlen, aber du müsstest vorher bei den Brüdern nachfragen, ob das Haus Ende August, Anfang September überhaupt frei ist. Mitte Oktober muss ich jedenfalls wieder in Freiburg sein, die Galerie läuft dort ja auch nicht von alleine und Bernd kann sich nur begrenzt Urlaub nehmen.“

„Alles klar, ich rufe heute noch an und hoffe, dass Zaccharias am Telefon ist, mit dem kann man am besten reden, und, was ich fragen wollte“, Gerlinde wandte sich lächelnd ihrer Freundin zu: „Ist das jetzt was Festes, das mit dem Bernd? Ich dachte immer, dass du deinen speziellen Geheimdienstexperten nur angeheuert hast, um mehr über den Tod deiner Eltern zu erfahren.“

„Hör mal“, Laura setzte jetzt ein ernstes Gesicht auf, „ich bin keine, die mit Männern nur eine Beziehung eingeht, wenn sie sich davon einen Nutzen verspricht.“

Gerlinde blickte betroffen zu Boden und legte die Serviette, die sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte auf den Teller „Du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe, mir war nur nicht klar, wie eng eure Beziehung eigentlich ist. Aber egal, wenn das Haus frei ist, könnt ihr auf jeden Fall dort wohnen.“

„Also das mit der Beziehung“, Laura blickte den vorübereilenden Passanten nach, „ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht so sicher, ob daraus etwas Festes wird. Ich für meinen Teil habe mir gedacht, dass so ein Urlaub eine Art Generalprobe sein könnte. Natürlich weiß ich, dass zwei Wochen nicht ausreichen, um auf einen Heiratsantrag eingehen zu können, aber eigentlich möchte ich über dieses Thema jetzt gar nicht weiter mit dir sprechen. Wir würden einfach gern in Lentas unseren Urlaub verbringen, weil ich Bernd dort gerne zeigen wollte, was mich einmal so an der Archäologie interessierte. Er hielt mein Studium und er tut es immer noch für eine wenig sinnvolle Beschäftigung, dabei gräbt er selber in der dunklen Geschichte unseres Landes nach Erklärungen für menschliches Verhalten.“

„Bevor du mir jetzt einen längeren Vortrag hältst, möchte ich kurz, wenn du gestattest, zur Realität zurückkommen“, unterbrach sie Gerlinde. „Ich versuche mal einen der Delakis-Brüder ans Telefon zu holen, vielleicht haben wir ja Glück und können dann mit einem Gläschen Prosecco auf die schönsten Wochen des Jahres anstoßen.“

Laura nickte und freute sich, dass Gerlinde so hemdsärmelig auf ihre Anfrage eingegangen war. Gerlinde nahm ihr Handy, wählte eine Nummer aus ihrem Kontaktbuch und an ihrem Gesicht konnte Laura erkennen, dass sie eine Verbindung herstellen konnte. Sie hatte Stefanos, den Koch des El Greco an der Strippe. Laura konnte sich ein Lachen nicht verkneifen: An Gerlindes häufigen Wiederholungen auf Englisch und ihren umständlichen Umschreibungen in derselben Sprache merkte sie, dass die Verständigung auf beiden Seiten einige Probleme bereitete. Bevor Gerlinde ihr Handy wieder auf den Tisch legte, sagte sie noch, dass sie an Zaccharias eine Mail schicken wolle und dass sie auf baldige Antwort hoffe.

„Puh, das war jetzt gar nicht so einfach. Ich glaube nicht, dass der gute Stefanos wirklich verstanden hat, was ich von ihm wollte. Aber er wird mit seinen Brüdern reden und ich werde noch etwas Schriftliches hinterher schicken, damit wir sicher sein können, dass das mit dem Haus klappt. Stefanos hat jedenfalls gesagt, dass alles in Ordnung sei, ich nehme an, dass er damit auch das Haus meinte.“

„Ah, danke, lass‘ dich umarmen. Toll, dass du dich da gleich so reinhängst. Vielleicht wissen wir morgen schon mehr. Übrigens, benutzt du immer noch die Mailadressen, die dir Rudolf eingerichtet hat, als du die Galerie hier in Berlin aufgemacht hast?“

„Ja klar, er hat mir damals, das war einer seiner netteren Züge, die ganze Mailverwaltung für Galerie und Privatadressen eingerichtet. Ich habe ja auf diesem Gebiet keine Ahnung, ich weiß heute noch nicht, was ein Mailaccount oder ein Hoster ist.“

Laura schüttelte verständnislos den Kopf: „Das sollten wir schleunigst ändern, meine Liebe. Wenn Rudolf, oder wie auch immer er jetzt heißen mag, noch Teilhaber deiner Internetseite ist, weiß er bestens darüber Bescheid, was hier im Geschäft abläuft.“

Gerlinde schaute ihrer Freundin etwas irritiert ins Gesicht und fragte zweifelnd: „Meinst du wirklich?“ „Ja, das meine ich. Wenn ich aus dem Urlaub zurückkomme, werden wir die Domain der Firma und das damit verbundene System ändern.“

Als Gerlinde später noch in der Galerie vorbeischaute und ihren Computer hochfuhr, um nach den Mails zu schauen, entdeckte sie, dass eine Nachricht aus Lentas in ihrem Postfach angekommen war. Der gute Zaccharias hatte über seinen Bruder die Anfrage aus Berlin wohl richtig verstanden, denn er bestätigte in einem verständlichen Englisch, dass mit dem Haus alles in bester Ordnung sei und dass für den angefragten Zeitraum keine neuen Mieter eingetragen seien. Man freue sich auf den Besuch von Miss Laura und werde ihr das beste Essen von Lentas servieren und wenn nötig, auch persönlich ins Haus bringen. Die ganze Familie Delakis erwarte die schöne Frau Laura mit den größten Erwartungen. Von Bernd war in der Mail nicht die Rede.

Hauptkommissarin Helene Stumpf, KI 1, Kriminalpolizei Freiburg

Das war jetzt mal ein schönes Wochenende, dachte Helene, als sie von der Berliner Allee kommend in die Bissierstraße einbog. Der Scheibenwischer hatte ordentlich zu tun, um dem einsetzenden Platzregen Herr zu werden, aber am Tag zuvor hatte sie mit Thorsten eine herrliche Wanderung unternommen und dass sich der Himmel heute ganz in Grau zeigte, passte zu einem Tag, der nichts anderes als Arbeit zu verheißen vermochte.

„I can’t get no satisfaction“! Sie drehte das Autoradio auf volle Lautstärke. Genau so muss der Morgen beginnen, dachte sie. Ich kann nicht genug Arbeit bekommen. Einen Schreibtisch voller Akten und Kollegen, so träge wie Schildkröten, was kann ich mir Besseres wünschen. Sie trommelte zum Takt der Stones auf ihr Lenkrad.

Ja, der Sonntag war wirklich gelungen. Sie hatte sich mit ihrem Vorschlag, wandern zu gehen, durchsetzen können und der arme Thorsten durfte nicht an den dicht bevölkerten Titisee fahren. O.k., sie konnte ja ein gewisses Verständnis für ihn aufbringen: Er wollte unbedingt noch auf ein Surfbrett steigen, bevor es in den Urlaub gehen sollte. Aber das war doch Blödsinn, jetzt noch mit dem Surfen anzufangen! Sie waren nicht mehr die Jüngsten. War schon gut, dass er dem Wandern auf dem Kandel auch etwas abgewinnen konnte, es hätte sonst einen Ehekrieg gegeben. Aber was heißt Ehekrieg, sie waren ja gar nicht verheiratet. Noch nicht! Helene lachte laut auf, als sie daran dachte, dass ihr das gerade jetzt eingefallen war. Sie war heute etwas später dran und prompt fand sie keinen geeigneten Parkplatz vor dem Präsidium.

Das mit dem Heiraten, das muss er schon richtig wollen und bislang hatte er es ihr nicht so prickelnd zu zeigen vermocht und auch sonst müsste sich einiges ändern. Zum zweiten Male wollte sie sich eigentlich nicht mehr auf eine engere Beziehung mit einem Kollegen einlassen. Paare hatten im Polizeidienst, das zeigte auch die Statistik, eine geringe Halbwertszeit.

Es regnete noch immer. Auf der Treppe traf Helene Stumpf mit Kriminalrat Koch zusammen. Schöner konnte der Tag nicht beginnen, dachte sie, als er mit aufgespanntem Regenschirm am unteren Absatz der Treppe auf sie wartete. „Die zwei Stufen hätte ich auch noch ohne Ihren Schutz geschafft“, lachte sie und ergänzte, ohne rot zu werden: „Aber wenn jemand wie Sie schon auf mich wartet, kann ich nicht nein sagen.“

„Schön, dass Sie mit Humor Ihren Tag beginnen können, Frau Stumpf. Sind Sie im Fall Weber schon weitergekommen?“

„Wenn Sie darauf bestehen, Herr Kriminalrat, werden wir die Sache bis zum Wochenende abschließen. Es müssen nur noch ein paar Unstimmigkeiten zwischen einzelnen Zeugenaussagen bereinigt werden.“

„Ja gut, dann machen Sie mal. Ach, übrigens, wenn sich in den kommenden Tagen nichts Dramatisches ändert, können wir uns auch wieder mal einen der unerledigten Fälle rauspicken, das können Sie auch Ihrem jungen Kollegen Müller sagen. Wir müssen etwas an unserer Aufklärungsquote arbeiten, in Stuttgart will man von uns andere Zahlen sehen.“

Als sie im Eingangsbereich des Präsidiums in Höhe der Pforte angekommen waren und Koch einen geeigneten Platz für seinen tropfnassen Schirm suchte und Helene schon daran dachte, sich mit einem Hinweis auf die Toilette von Koch verabschieden zu können, sah sie den wachhabenden Beamten hinter der Glasscheibe winken. „Ich glaube, der will was von mir“, sagte sie und ließ Koch mit seinem Regenschirm stehen.

Der Polizeibeamte hatte tatsächlich sie gemeint: „Frau Hauptkommissarin, ein Herr Leber möchte unbedingt mit Ihnen sprechen. Ich habe ihn an den Kriminaldauerdienst verwiesen, aber er ließ sich einfach nicht abbringen, er wollte unbedingt zu Ihnen. Er sagt, er kann nur mit der Frau Hauptkommissarin sprechen, weil die auch im Fall Prager ermittelt hat. Ich habe ihn zusammen mit einem Kollegen ins Besprechungszimmer 101 geschickt.“ Helene nickte: „Ja danke, Baumann, ich werde mich gleich darum kümmern.“

Helene Stumpf zog wie immer auf ihrem Weg nach oben die Treppe dem Aufzug vor, man wusste ja nie, wem man in der engen Kabine noch begegnen würde.

Prager, dachte sie, der Fall war doch abgeschlossen oder etwa nicht! Naja, abgeschlossen war er im strengeren Sinne wohl nicht, er war im Archiv gelandet. Aber wer war dieser Herr Leber, hatte sie den Namen in diesem Zusammenhang schon mal gehört?

Auf dem Gang, der zu ihrem Büro führte, kam ihr der junge Kollege Müller mit zwei Leitz-Ordnern unterm Arm entgegen. „Na Richard, schon wieder auf dem Sprung?“ „Ich bin hier das Mädchen für alles“, klagte er. „Ich bitte Sie, Frau Hauptkommissarin, teilen Sie mir eine Aufgabe zu, die über den Transport von Akten hinausgeht.“

„Na, mal sehen, vielleicht kann ich was für dich tun, komm‘ in mein Büro, wenn du deinen Auftrag erledigt hast und übrigens, in meinem Laden reden wir uns mit „du“ an.“ „Zu Befehl“, grinste der schlaksige Richard Müller über beide Ohren, „ich bin gleich bei Ihnen, äh, ich meine, bei dir.“

Eva Beckmann, ebenfalls ein Neuzugang, der ihnen direkt von der Polizeischule kommend, erst letzte Woche ins Kommissariat gesetzt wurde, kam gerade aus der Toilette, sie sah Helene Stumpf auf dem Gang und steuerte direkt auf ihre Chefin zu: „Frau Stumpf, im Besprechungszimmer wartet ein Mann auf Sie, er hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt.“

„Hat mehrmals nach dir gefragt“, berichtigte ihr Kollege Müller. „Du kannst die Chefin mit du anreden.“

„Ja, äh, der Mann will jedenfalls was Wichtiges loswerden, mir will er ja nichts sagen.“

„Habe ich schon gehört“, sagte Helene Stumpf und betrat ihr Büro. Schon mit dem Rücken zur jungen Kollegin gewandt ergänzte sie: „Ich muss immer erst selbst ankommen, bevor ich Besucher empfangen kann. Bring‘ den Mann in zehn Minuten vorbei.“

Helene Stumpf hängte ihre Jacke auf, strich sich mit beiden Händen die langen, dunklen Haare nach hinten, drückte sie mit einer Spange fest, setzte sich an ihren Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und las die neuesten Mitarbeiter-Nachrichten des Polizeipräsidiums Freiburg, die von der Organisationsabteilung verfasst und jede Woche an alle Mitarbeiter versandt wurden. Meistens handelte es sich dabei um langweilige, bürokratische Regeln und Empfehlungen, Informationen zu Geburtstagen und Todesfällen von Ehemaligen – so auch heute.

Kollege Vogl, nur durch eine Glaswand mit milchigen Streifen von ihrem Büro getrennt, saß ebenfalls an seinem Computer. Vogl war in dieser Abteilung des Freiburger Polizeipräsidiums der Fels in der Brandung, nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen, nichts konnte ihn wegbewegen, keine Beförderung und auch sonst keine Affären. Auf ihn konnte man sich verlassen, er tat jedenfalls, was man von ihm verlangte, aber als Ideengeber bei schwierigen Ermittlungen war er ungeeignet.

Vogl sah auf, als sie zu ihm rüber schaute und grüßte, indem er mit einem Packen Papier wedelte, was so viel heißen sollte wie, „sieh mal, was ich heute schon wieder durchgearbeitet habe.“

Martin Vogl war aber auch ein geselliger Mensch und an Helenes Gesellschaft lag ihm besonders viel und so war es denn auch kein Wunder, dass er gleich in der Tür stand und einen „guten Morgen“ wünschte.

„Und, hast du dich durchsetzen können?“, fragte er und grinste übers ganze Gesicht. Helene wusste zunächst nicht, auf was er ansprach, doch dann erinnerte sie sich, was sie ihm am vergangenen Freitag erzählt hatte. Zum Thema Wochenende hatte sie ihn wissen lassen, dass sie mit Thorsten in den Schwarzwald zum Wandern fahren würde und dabei hatte sie nicht vergessen, zu erwähnen, dass ihr Freund nicht gerade von dieser Art der Fortbewegung begeistert war.

„Ja, wir sind von der Kandelpasshöhe über den Kandelhof zum Gipfel gewandert.“ „Dann habt ihr also auch die Hexe Kandela gesehen?“, fragte Vogl. „Ja, aber von der Walpurgisnacht erzähle ich dir ein anderes Mal, mein Lieber. Was ich dich fragen wollte, hast du Einsicht in die Patientenakte von diesem Schmitz im Fall Weber bekommen?“ „Bin gerade dabei, dauert aber noch eine Weile, bis ich mich durch das Fachchinesisch durchgearbeitet habe.“ „O.k., aber vergiss nicht, um elf wollen wir eine Besprechung ansetzen, Koch hat mich heute morgen schon dezent auf den noch ausstehenden Bericht hingewiesen.“ Vogl salutierte: „Das kriegen wir hin, Frau Hauptkommissarin, wir sehen uns.“

Helene zog die Schublade ihres Schreibtisches auf und holte den roten Schnellhefter heraus, der ihre letzten Notizen vom vergangenen Freitag enthielt. Hier hatte sie sich notiert, welche Zeugen im Fall Weber noch befragt werden mussten. Keine komplizierten Fälle, das konnte Müller zusammen mit der Beckmann erledigen. Auf dem Bild, das sie zwischen den Papieren herausfischte, lachte ihr die vermisste Frau aus vollem Hals entgegen. Ihre Augen waren halb geschlossen, in der rechten Hand hielt sie ein Sektglas. Mund offen, Augen zu, genau wie im Gebüsch am Waldrand und doch so völlig anders. Die Leiche hatte einen Namen: Luise Weber. Sie war Steuerberaterin in einer kleinen Freiburger Agentur und war vor zwei Wochen von ihrem Lebensgefährten als vermisst gemeldet worden. Man fand sie tot in einem Waldstück bei Littenweiler.

Helene dachte an den Mann dieser Frau, als sie ihm an der Tür seines Hauses sagen musste: „Wir haben leider schlechte Nachrichten für Sie, Herr Weber.“ „Kommen Sie herein“, hatte er nur gesagt und sie dann aufs Sofa gebeten. Er selbst war dann noch einmal aufgestanden und hatte ihnen ungefragt Wasser aus der Küche gebracht. Die Gläser in seinen Händen zitterten so stark, dass er die Hälfte verschüttete. Man hatte seine Frau beim Spazierengehen durch den Stadtwald abgepasst und erstochen. Die Täter, zwei junge Männer, die in der Nähe der Webers wohnten, hatten am Tatort ihre Zigarettenstummel hinterlassen. Es war keine große Sache, die beiden zu überführen, es gab Zeugen, die beide zur Tatzeit im Wald gesehen hatten und es gab DNA-Spuren, jetzt waren nur noch einige Berichte zu schreiben. Einer von den beiden war kurz vor der Tat aus der geschlossenen Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses entwichen, er war ein notorischer Sexualstraftäter.

Es klopfte an der Tür und Helene Stumpf verstaute den Schnellhefter wieder in ihrer Schreibtischschublade. Eva Beckmann steckte den Kopf herein und sagte: „Der Herr Leber wäre jetzt da.“

Helene Stumpf erhob sich von ihrem Schreibtischsessel und kam auf ihren Besucher zu. Typisch Rentner, dachte sie. Vor ihr stand ein Mann in hellbeiger Freizeitjacke und brauner Anzugshose, eine graue Schirmmütze hielt er in der Hand, unterm Arm klemmte eine abgewetzte Aktentasche. Er hatte ein Alltagsgesicht, keine besonderen Kennzeichen, so ein Gesicht würde sie nicht wiedererkennen, wenn sie dem Mann auf der Straße begegnen würde.

„Guten Morgen, Herr Leber.“ „Guten Morgen, Frau Hauptkommissarin.“ Sie gaben sich die Hand und Helene wies auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

„Bitte, setzen Sie sich doch. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.“ „Macht nichts“, sagte Leber, „das ist gewonnene Zeit.“ Anstatt zu fragen, was er damit meinte, sagte sie, was sie immer in solchen Situationen sagte: „Herr Leber, was kann ich für Sie tun?“

Leber legte seine Schirmmütze auf die Knie, platzierte darauf seine Aktentasche, die, wie man sehen konnte, schon ein bewegtes Leben hinter sich hatte, und kramte eine zusammengerollte Zeitschrift hervor. Er streifte den Gummi ab, der die Zeitschrift zusammenhielt und legte sie mit demonstrativer Geste auf Helenes Schreibtisch.

Er schaute dabei die Hauptkommissarin erwartungsvoll an und sagte: „Schauen Sie sich dieses Bild an!“

Er deutete mit seinem Zeigefinger auf ein Zeitungsbild, das zwei ältere Herren zeigte, die, mit einem Schnapsglas in der Hand, auf etwas anzustoßen schienen. Helene Stumpf las, was in dicken Lettern über dem Bild stand: „Taucher finden eine alte Kamera vor Antikythera“.

Helene Stumpf nahm die Zeitschrift in die Hand, blätterte und warf einen Blick auf den Umschlag. „Zeitschrift für Unterwasserarchäologie“ las sie laut vor und schaute ihren Besucher fragend an.

„Können Sie mir erklären, was ich damit anfangen soll? Unterwasserarchäologie ist nicht gerade mein Steckenpferd und... .“

„Das habe ich mir fast schon gedacht“, lächelte Leber nachsichtig, „wichtig für Sie ist zunächst nur das Bild. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie einen der beiden dort abgebildeten Herren kennen, aber ich will Ihnen hier keine Rätsel aufgeben. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich glaube, dass der linke Mann auf dem Bild mein verstorbener Kollege Rudolf Prager sein könnte.“

Helene schaute sich noch einmal das Bild an und wiederholte den gerade genannten Namen: „Rudolf Prager. „Sie meinen, der linke Mann sei Rudolf Prager, der Mann, der mit Hannah Prager verheiratet war?“

„Genau der“, sagte Leber. „Sie haben doch zusammen mit ihrem Kollegen Meier damals den Fall bearbeitet. Übrigens“, Leber setzte eine betrübte Miene auf, „nachträglich mein Beileid. Sie haben sich sicher gut mit Herrn Meier verstanden.“

Nach einer kleinen Pause sprach Leber weiter: „Die Frau meines Kollegen war ja, ich glaube drei Jahre ist das schon her, erstochen auf einem Waldweg bei St. Barbara gefunden worden und so viel ich weiß, wurde der Mord bis heute nicht aufgeklärt.“

Helene Stumpf nickte: „Warum sind Sie sich so sicher, dass auf dem Bild Ihr ehemaliger Kollege zu sehen ist?“

Leber lachte und lehnte sich zurück. „Ich weiß, was Sie denken, Frau Stumpf, die Wahrscheinlichkeit, hier einen Doppelgänger vor sich zu haben, ist sehr gering und ich sage auch nicht, dass es mein Freund Prager ist, aber die gegebenen Umstände sprechen dafür. Ich habe mich ein wenig umgesehen und einige Dinge überprüft. Die Daten waren mir nicht mehr so präsent, aber hören Sie: Rudolf ist, wie aus der Zeitung zu erfahren war, am 12. Oktober letzten Jahres mit dem Flugzeug abgestürzt. Seine Leiche wurde nicht gefunden. Ich glaube, seine jetzige Frau hat ihn bereits für tot erklären lassen. Die Absturzstelle befindet sich etwa 60 bis 70 Seemeilen südlich der Insel Antikythera. Normalerweise fliegen die Flugzeuge von Heraklion nach Frankfurt nicht über diese Insel, die Flugstrecke liegt weiter im Osten, aber bei diesem Unglücksflug hatte der Pilot, das habe ich nachlesen können, wegen irgendwelcher Turbulenzen einen Kurswechsel vorgenommen, die neue Route lag weiter westlich vom normalen Kurs. Etwa zehn Seemeilen vor Antikythera haben Ende Oktober des gleichen Jahres Taucher eine Digitalkamera vom Meeresboden heraufgeholt. Im Speicher der Kamera befand sich u. a. dieses Bild, das da vor Ihnen in der Zeitschrift zu sehen ist. Die Kamera hat das Aufnahmedatum festgehalten, das ist heute bei Digitalkameras ja so üblich. Demnach wissen wir, dass unser Bild am 13. Oktober, also einen Tag nach dem Flugzeugabsturz aufgenommen wurde. Hier kommen für mich also einige Sachen zusammen, die in der Kombination ein Muster ergeben und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir hier tatsächlich unseren verschollenen Herrn Prager sehen. Wissen Sie, ich bin Mathematiker, ich glaube nur, was ich berechnen kann, aber ich denke, dass man in diesem Fall nur eins und eins zusammenzählen muss.“

Helenes Interesse war während Lebers kleinem Vortrag beständig gewachsen und sie spürte auf einmal wieder die alte Wunde, die nicht heilen wollte. Der Fall Prager war einer der ungelösten Fälle, die wie ein Dorn im Fleisch zurückblieben, und sich schon bei der kleinsten Berührung in Erinnerung riefen. Trotzdem erschien es ihr einigermaßen unwahrscheinlich, dass Prager nun wieder aufgetaucht sein sollte, andererseits, - was dieser Leber ihr da auftischte, zog sie in einen Strudel von Gedanken, aus dem man sich nur schwer befreien konnte.

„Herr Leber“, unterbrach Helene Stumpf ihren Besucher, „ich glaube, wir hatten schon einmal das Vergnügen. Das war bei einer Befragung nach dem Mord an Hannah Prager. Wenn ich mich recht erinnere, trafen Sie sich an dem Tag, an dem Frau Prager getötet wurde, mit deren Mann in einer Bierkneipe.“

„Stimmt, Frau Hauptkommissarin, wir hatten an dem Tag Elternabend, das war der 18. Juli 2011, ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Wir wollten nach den leidigen Elterngesprächen noch im Franziskaner-Keller ein Bier trinken gehen. Normalerweise gehe ich solchen Zusammentreffen eher aus dem Wege. Aber der Vorschlag kam vom Kollegen Prager und er war ein netter Kollege, einer der wenigen, mit denen ich mich gut unterhalten konnte, außerdem war es kurz vor Schuljahresende. Da lässt man schon mal alle Fünfe gerade sein. Wissen Sie eigentlich, woher diese Redewendung kommt?“

Ohne eine Nachfrage abzuwarten, fuhr Leber fort: „Bei ‚Fünfe gerade sein lassen‘ ist es ja so, dass fünf eben eine ungerade Zahl ist, das heißt, wir nehmen es jetzt mal nicht päpstlicher wie der Papst, wir wollen dieses Mal keine Korinthenkacker sein. Ob jetzt die Redewendung auch auf unseren Fall hier anzuwenden ist“, Leber lächelte etwas schief, „das lässt sich so ohne Weiteres nicht sagen.“

Helene Stumpf nickte, wusste aber nicht genau, was Leber damit zum Ausdruck bringen wollte. Er war Mathematiklehrer gewesen, ein Fach, das sie nie besonders gemocht hatte. Sie schaute wieder auf das Foto in der vor ihr liegenden Zeitschrift.

„Haben Sie Prager eigentlich gleich erkannt, als Sie das Bild sahen“, fragte sie.

„Naja, ich habe zunächst gestutzt, mir dann aber gesagt, dass das ja eigentlich nicht sein könne. Ich wusste ja, dass Prager bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Aber wie gesagt, seine Leiche hat man nicht gefunden, es sei denn, Sie wissen darüber mehr als ich.“

Statt auf seine indirekte Frage weiter einzugehen, wollte Helene die Gelegenheit nutzen, mehr aus ihrem Laienermittler herauszubekommen. „Was haben Sie gedacht, als Sie das Bild sahen?“

„Ich fand das irgendwie witzig, mein ehemaliger Kollege wird in einer Fachzeitschrift für Unterwasserarchäologie abgebildet. Er war ja selber beinahe so was wie ein Archäologe. Mich hat der Beitrag interessiert, weil darin über den Mechanismus von Antikythera berichtet wurde; das habe ich ja schon im Inhaltsverzeichnis gesehen. Ich weiß nicht, ob Sie davon schon gehört haben, bei diesem Mechanismus handelt es sich um eine Kalendermaschine aus antiker Zeit; der Metallklumpen wurde bereits im Jahr 1900 von Schwammtauchern in einem zerfallenen Schiffswrack entdeckt. Mit diesem Mechanismus lassen sich mit Hilfe von über 70 Zahnrädern die Konstellationen von Himmelskörpern präzise anzeigen. Aus der Antike ist bislang kein Fund bekannt, der mit einer solch hochpräzisen Technik ausgestattet ist.

Aber ich will Ihnen sagen, warum dieser Artikel für mich oder sagen wir besser für Sie ganz besonders interessant sein könnte. Erstens: ich sehe auf dem veröffentlichten Bild einen Mann, der mir bekannt vorkommt und mich an meinen ehemaligen Kollegen Prager erinnert. Zweitens: die Kamera, auf der dieses Bild gefunden wurde, ist von Tauchern ans Tageslicht gebracht worden, die in einem für die Unterwasserarchäologie sehr interessanten Gebiet vor der Insel Antikythera auf Tauchgang gingen. Man hoffte dort weitere Teile des sog. ‚Mechanismus‘ zu finden. Übrigens“, Leber lächelte, „man dachte zuerst, dass die geborgene Digitalkamera ein weiteres Teilstück des ‚Mechanismus‘ sein könnte. Interessant, nicht wahr?“

Helene Stumpf nickte, bei jedem weiteren Wort Lebers verspürte sie das altbekannte Kribbeln.

„Drittens“, fuhr Leber fort, „mein ehemaliger Kollege Prager ging nach seiner vorzeitigen Pensionierung sozusagen als Privatgelehrter nach Kreta. Wie ich lesen konnte, hat er sich dort selbst zum Spezialisten für die römische Geschichte der Insel gemacht. Lesenswert ist beispielsweise sein Artikel über die Bedeutung der Purpurschnecke in der Antike. Ich selbst habe den Beitrag nicht gelesen, aber ein Kollege vom Friedrich-Gymnasium hat ihn über alle Maßen gelobt. Selten, sagt er, sei in so gekonnter Weise eine Verbindung von Biologie und Geschichte hergestellt worden. Und viertens“, Leber hob beschwörend die Arme in die Höhe, „alles, was ich gesagt habe, steht in einem ungewöhnlichen Sachzusammenhang. Bild, Datum und dazugehörige Ereignisse – das muss doch zu denken geben, finden Sie nicht auch, Frau Hauptkommissarin?“

„Ja, das klingt schon interessant“, sagte Helene Stumpf etwas ausweichend. „Ich werde darüber nachdenken, was Sie mir erzählt haben. Aber, was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie selbst schon in der Sache ermittelt?“ Sie fragte, weil sie das Gefühl beschlich, dass dieser Mann nicht nur den Artikel gelesen hatte, sondern darüber hinaus auch schon tätig geworden war.

„Wann haben Sie den Artikel gelesen, Herr Leber?“ „Letzten Donnerstag.“ Leber schien in sich hineinzulachen, er benahm sich wie ein Schuljunge, der bei einer Unregelmäßigkeit ertappt wurde. „Der Polizei kann man nichts verbergen“, sagte er verschmitzt lächelnd und schaute auf das Bild in der aufgeschlagenen Zeitschrift für Unterwasserarchäologie. „Ja, ich habe bei der Redaktion angerufen und mir die Adresse des Artikelschreibers geben lassen. Ein Herr Eder, ich glaube so heißt er, hat mir erzählt, dass der rechts abgebildete Mann sehr wahrscheinlich der Yachtbesitzer sei, ein adeliger Brauer aus Niederbayern, der sich mit einem Einhandsegler wohl einen Lebenstraum erfüllt hat. Mehr wollte oder konnte er mir nicht sagen, Personenschutz, Sie wissen schon. Das Bild zeigt die beiden Männer übrigens in der sog. Pantry einer Segelyacht, das ist mit anderen Worten die Kombüse.“

Als Leber gegangen war, stand Helene Stumpf eine Zeitlang am Fenster und sah hinüber zu den dunklen Höhenzügen des Schwarzwaldes. Der Himmel war inzwischen blauschwarz geworden, aber hellere Wolken zogen immer noch eilig nach Norden. Ein bisschen Regen würde dem Land nicht schaden, dachte sie. Sie roch förmlich den Duft frischen Grases, sie sah das dampfende Wasser über dem Boden aufsteigen. Frische Luft, das wäre jetzt schön und Zeit haben, um seine Gedanken zu ordnen.

Sie dachte daran, was Leber gesagt hatte, als sie sich bei ihm entschuldigte, dass er so lange warten musste. „Macht nichts, das ist gewonnene Zeit“, hatte er geantwortet. Er hatte die Wartezeit, als kleine private Nische in der Zeit erlebt, das war für ihn, den Mathematiker, nicht berechnete Zeit, so etwas bräuchte sie jetzt auch.

Sie ging wieder an ihrem Schreibtisch, sah dort noch die Zeitschrift liegen und dachte: „Was dieser Mann mir da erzählt hat, könnte einen Cold Case wieder heiß werden lassen.“

Es klopfte, Vogl steckte seinen Kopf herein. „Helene, hast du einen Moment Zeit. Die KTU hat uns noch eine schöne Zutat nachgeliefert.“ Helene machte eine einladende Handbewegung und Vogl setzte sich auf den Stuhl, auf den eben noch ein Herr Leber Platz genommen hatte. „Erzähl‘“, forderte sie ihren Kollegen auf.

„Ja, stell‘ dir vor, man hat in Tatortnähe auch noch Spermaspuren gefunden, die eindeutig den beiden Jungs zugeordnet werden können. An der Leiche der jungen Frau konnte man übrigens solche Spuren nicht feststellen. Eckinger nimmt nun an, dass sich die beiden nach der Tat vor der Leiche einen runtergeholt haben.“

Helene Stumpf verzog angewidert den Mund: „Wie gruselig ist das denn?“ Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch und nahm die Zeitschrift in die Hand, die Leber ihr zurückgelassen hatte. „Martin“, sagte sie mit einem gewissen Ernst in er Stimme, „kannst du dich an den Fall „Prager“ erinnern? Ich glaube es gibt eine Fortsetzung.“

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