Kitabı oku: «Wolfsmedizin - eBook», sayfa 3

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Während der letzten Eiszeit, vor rund fünfzehntausend Jahren, war der Meeresspiegel weltweit um etwas mehr als hundert Meter niedriger als heutzutage, sodass eine Landverbindung, so breit wie das heutige Frankreich, zwischen Kamtschatka und Alaska entstand. Mammutelefanten, Wildpferde, Hirsche, Wisente und andere Herdentiere konnten deswegen ungehindert die Beringstraße überqueren (Flannery 2001:206ff). Ihnen folgten selbstverständlich die Raubtiere: der Braunbär, Wölfe – und der paläolithische Mensch. Diese Jäger und Sammler trugen ihr gesamtes kulturelles Wissen mit sich, auch das Wissen um die Heil- und Zauberkräuter. Einige der ihnen bekannten Pflanzen, wie etwa der delikate, silbergraue Eisbeifuß oder »Frauenbeifuß« (A. frigida) wächst zirkumpolar von Nordeuropa über Asien bis nach Nordamerika und wurde weiterhin wie gewohnt verwendet. Wo aber die einwandernden Großwildjäger die ihnen bekannten Heilpflanzen in der Neuen Welt nicht vorfanden, übertrugen sie Brauchtum und traditionelle Anwendungen auf ähnliche nordamerikanischen Arten, wie etwa auf den Steppenbeifuß (A. tridentata,

A. ludoviciana). Andere Arten wiederum, wie der Estragon (A. dracunculus, englisch tarragon), ein verdauungsförderndes, entkrampfendes und entzündungshemmendes Würzkraut, könnte, wie einige Ethnobotaniker vermuten, auch von den altsteinzeitlichen Einwanderern in die Neue Welt mit eingeschleppt worden sein.

Die Nomenklatur der rund fünfhundert Arten der Gattung der Artemisias ist verhältnismäßig kompliziert, teilweise überschneidend und oft konfus. Häufig werden Unterarten oder Varietäten als eigene Arten (Spezies) gelistet oder umgekehrt werden nah verwandte Arten in einen Topf geworfen. Es kommt darauf an, ob man als Botaniker taxonomisch ein Splitter (Aufteiler) oder Lumper (Zusammenleger) ist.

Ich zähle mich eher zu den Zusammenlegern. Die traditionellen Heiler sind zwar genaue Beobachter, aber keine pingeligen Haarspalter, ihnen sind die kleinen botanischen Unterscheidungen egal, Hauptsache die Pflanze wirkt heilend.

Einige in der Mongolei und Sibirien vorkommende Beifußarten

Artemisia adamsii: Diese auf überweideten, degradierten Böden wachsende Beifußart ist äußerst bitter und wird von weidenden Tieren gemieden. Sie enthält ein aromatisches ätherisches Öl, bestehend vor allem aus Thujon (65 Prozent) und Beta-Thujon (7,1 Prozent), das antibakteriell wirkt und in der mongolischen Heilkunde verwendet wird. Thujon ist bekanntlich ein Nervengift, das einst im Absinthwein, dessen wichtigste Zutat der Wermut (A. absinthium) war, in der Belle Époque, im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Künstlerelite in den kreativen Rausch versetzte.

Der Einjährige Beifuß (Artemisia annua).

Artemisia annua: Der Einjährige Beifuß, der in England den schönen Namen Sweet Annie trägt, hat hellgrüne, aromatische, gefiederte Blätter. Diese, Qinghao genannt, wurden schon lange in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) als Leber-Qi-stärkend und als kühlendes, feuchte Hitze ausleitendes Fiebermittel verwendet. Auch gegen Wechselfieber kam es zum Einsatz. Diese Anwendung fand wissenschaftliche Bestätigung. 2015 erhielt die chinesische Pharmakologin Tu YouYou den Nobelpreis für Medizin für den Beleg, dass sich das in diesem Beifuß enthaltene Artemisin sowie dessen Derivate als hoch wirksam gegen Malaria-Plasmodien erweisen, auch bei solchen, die chloroquinresistent sind. Im Vergleich zu anderen Malariamitteln zeigen sich nur wenige Nebenwirkungen. Nicht nur gegen Malaria wirkt dieses Heilkraut, sondern es soll auch bei Krebserkrankungen, Borreliose, viralen Infektionen und Pilzerkrankungen helfen.

Der Einjährige Beifuß kommt gelegentlich auch in Mitteleuropa, etwa an der Elbe, wildwachsend vor.

Artemisia dracunculus: Diese Artemisia-Art ist der wohlbekannte Estragon. Wir kennen ihn im Essig, als Würze für Fisch- und Geflügelspeisen und als eine der berühmten französischen Fines herbes. In der europäischen Volksheilkunde gilt Estragon als wassertreibend bei Wassersucht, galletreibend, verdauungsfördernd und appetitanregend. Schwangere sollten das Kraut meiden, da es abtreibend wirkt.

Der Name Estragon, wie auch die englische Bezeichnung tarragon, gehen auf das persische und arabische Tarchun (»kleiner Drache«) zurück, was seinerseits vermutlich ein Lehnwort vom altgriechischen Drákōn (»Drache«) ist. Er heißt entweder so, weil seine Blätter angeblich an die Haut eines Reptils erinnern, oder weil er gegen Schlangen- und Basiliskenbisse verwendet wurde. Namen wie das holländische slangekruid, das italienische dragoncella oder das französische herbe dragonne deuten das an. Mit unserer heutigen materialistischen Sichtweise denken wir an biologische Reptilien, aber wahrscheinlicher ist es, dass nicht physische, sondern astrale Schlangen- oder Drachenwesen gemeint waren, also Krankheitsdämonen aus Parallelwelten. Auch in China heißt die Pflanze Drachen-Beifuß (long hao) und gilt als entspannend für das Qi.

A. dracunculus ist in der Mongolei und in Sibirien endemisch. Händlerkarawanen trugen die Würzpflanze in den islamischen Nahen Osten. Nach Europa kam sie im 13. Jahrhundert, entweder durch die Kreuzritter oder durch die Mongolen, die damals ihr Reich bis nach Osteuropa ausgedehnt hatten. In Deutschland wurde sie wohl erst im 16. Jahrhundert bekannt.

Nach Amerika kam die Pflanze viel früher. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Medizinleute der Paläosibirier bzw. der ersten Indianer diese wichtige Heilpflanze, zusammen mit der Magenwurz (Acorus calamus) mit im Gepäck hatten, als sie die Landbrücke Beringia überquerten. Vermutlich haben sie – aber eher unabsichtlich – auch die Große Brennnessel mit eingeschleppt (Wolters 2000:19). Estragon wird auch mit in den Schwitz- oder Dampfbädern der Indianer verwendet. 55 Prozent aller in der indianischen Schwitzhütte angewendeten Pflanzenarten und -gattungen – Beifuß, Aster, Schafgarbe, Wacholder, Kiefer, Fichte, Engelwurz, Kirsche (Rinde), Nelkenwurz, Minze, Ampfer, Brennnessel, Läusekraut, Holunder, Waldrebe, Tragant, Kalmus und andere – wachsen zirkumpolar; das heißt, man kannte sie schon in der Alten Welt (Wolters 2000:22). In Wyoming und der kargen Steppe östlich der Rocky Mountains gedeiht der wildwachsende Estragon sehr gut. Die Indianer dort benutzen das Kraut als Heilmittel bei Magen-Darm-Beschwerden, bei exzessiver Monatsblutung und anderen Frauenbeschwerden; Abkochungen der Wurzeln werden in der Schwitzhütte verdampft bei Rheuma und steifen Gelenken, sowie »um alte Leute stärker zu machen«.

Der Eisbeifuß oder Frauenbeifuß (Artemisia frigida).

Artemisia frigida: Als ich auf den Weideflächen in der Mongolei und in Burjatien die weitläufigen Bestände des sogenannten Eisbeifußes oder Frauenbeifußes (englisch fringed sagewort) entdeckte, freute ich mich sehr. Auch wenn seine Verbreitung ein Zeichen der Überweidung ist, schenkte mir das filigrane, silbergraue, nach Kampfer duftende Kräutlein eine gute Erinnerung, denn beim allerersten Mal, als ich die Pflanze sah, war ich mit Bill Tallbull in der Karststeppe am Rande der Big Horn Mountains unterwegs. Der alte Cheyenne Medizinmann zeigte mir an dem Tag die verschiedenen Artemisia-Arten, die auf den trockenen, karstigen Böden wuchsen. Darunter den, bis zu einem Meter hoch wachsenden, hellgrauen Großen Steppenbeifuß (A. tridentata, englisch big sagebrush), dessen Blattenden an drei Schneidezähne erinnern und der von den Indianern als Mittel bei Fieber und Magen-Darm-Beschwerden verwendet wird (Moerman 1999:101).

Vor allem war es ihm wichtig, mir den Weißen Steppenbeifuß (A. ludoviciana, syn. A. gnaphalodes) zu zeigen, den die Cheyenne Hētăn’ i wān ōts (hētăn’, »Mann«; wān’ōts, »Beifuß«), also »Männerbeifuß« nennen. Die weißen Amerikaner nennen diesen Beifuß white sage (»weißen Salbei«), silver wormwood, western mugwort oder einfach nur sage7. Für die Cheyenne ist es eine der heiligsten Pflanzen überhaupt. Sie wird in allen Zeremonien zur Reinigung und Weihung verwendet:

• In den zeremoniellen Hütten und Schwitzhütten werden seine Zweige auf dem Boden ausgelegt, sodass die Spitzen in Nord-Süd-Richtung und die Richtung des Feuers deuten. Die gesammelten Heilkräuter werden auf diesen Beifuß gebettet (STORL 2014a: 162).

• Mit Büscheln aus Männerbeifuß wird das Wasser auf die glühenden Steine in der Schwitzhütte gesprengt.

• Vor dem Sonnentanz werden die Tänzer mit dem Kraut frottiert.

• Beim Fasten und der Visionssuche in den Bergen setzen sich die Männer auf Unterlagen aus diesem Beifuß.

• Sakrale Körperbemalung wird mit Büscheln dieses Krauts abgewischt.

• Mit den Zweigen wird, zur Verehrung der Geister, Wasser in die vier Himmelsrichtungen versprengt.

• Waffen, die getötet haben, werden damit abgerieben. Ebenso Pferde, die aus Versehen von einer Donnerlanze – damit wird auf magische Weise Blitz und Gewitter herbeigeführt – berührt wurden, oder Menschen, die ein Tabu verletzt haben, werden so behandelt.

• Mit dem Männerbeifuß wird geräuchert, um schlechte Träume oder böse Geister zu vertreiben. (Manchmal wird der Räuchermischung etwas getrocknetes Christophskraut (Actea rubra, Cheyenne Mots’ iun, »süße Medizin«8) beigemischt.

Als wir über das Vulkangestein beim Lake DeSmet liefen, entdeckte ich eine andere Artemisia-Art, die Tallbull einfach zu ignorieren schien.

»Was ist das für eine Pflanze?«, wollte ich wissen.

»Die geht uns gar nichts an«, sagte er. »Es ist He’ evano’ estse, der Frauenbeifuß. Eigentlich sollten wir ihn gar nicht anschauen; er ist nur für Frauen.«

Mehr wollte er nicht sagen. Als wir wieder in der Siedlung waren, fragte ich die Frau von Elkshoulder, was es mit dem hübschen Beifuß auf sich hatte.

»Woher weißt du etwas darüber?«, fragte sie, wobei sie im Gesicht rot wurde. »Wer hat dir darüber erzählt?«

»Bill Tallbull«, antwortete ich.

»Der Narr!«, war alles, was sie sagte.

Später erfuhr ich, dass der Frauenbeifuß, nicht nur bei den Cheyenne, sondern auch bei den Sioux, Omaha, Pawnee, Ponca und den Schwarzfußindianern wichtiger Teil der weiblichen Kultur ist.

Er wird als Tee zur Regulierung der Menstruation getrunken; auch als Badezusatz wird er von den Frauen verwendet. Zur Reinigung nach den vier Tagen in der abgesonderten Menstruationshütte wird die Frau mit dem Kraut beräuchert.

Andere Indianerstämme kennen den Frauenbeifuß als Hilfsmittel bei Erkältungen und Verdauungsbeschwerden. Die Chippewa räuchern Patienten damit, die an Krämpfen und Gallenkoliken leiden.

Auch die Mongolen, die den Frauenbeifuß Agi Sharalj nennen, räuchern – zusammen mit Quendel (Thymian) und Wacholder – mit diesem angenehm herb duftenden Kraut, um die Atmosphäre und die Seele zu reinigen und um gute Geister anzulocken. Orgilmaa erzählte uns, dass man die Räucherschale mit dem schwelenden Kraut drei Mal im Uhrzeigersinn um den Bauch (Solarplexus) kreisen lassen soll. Medizinisch verwendet man es auch bei abnormer oder unregelmäßiger Menstruation, als galletreibendes Mittel und bei Glieder- und Gelenkreißen. Auch bei Wurmbefall wird es angewendet.

Artemisia gmelinii (Synonyme oder Varietäten: Artemisia sieversiana, A. sacrorum,

A. racemilifera, A. hedinii, A. vestitas): Der Gmelin-Beifuß oder Heiligenbeifuß

(englisch Russian wormwood), der von dem Chemiker und Botaniker Johann Friedrich Gmelin (1748–1804) entdeckt wurde, fühlt sich in Sibirien und der Mongolei wohl.

Der Zwergstrauch hat zarte, aromatische, fiederschnittige Blätter und blüht im August. Die Blätter werden in diesen Ländern als Gewürz verwendet und volksmedizinisch bei Leberproblemen, Kopfschmerzen und Bauchschmerzen eingesetzt. Die Droge wirkt wurmwidrig, antibakteriell, pilzwidrig und galletreibend. In Nepal wird mit dem getrockneten Kraut beim Puja, dem Ritual zur Verehrung der Götter, geräuchert. Der Rauch vertreibt auch Mücken und lästige Insekten.

Artemisia macrocephala (syn. A. griffithiana, A. akbaitalensis): Diese Beifußart fällt durch ihre großen Blüten auf, die einen kamilleartigen Duft haben. Der englische Name ist large flowered wormwood, der chinesische da hua hao; einen deutschen Namen scheint diese Pflanze noch nicht gefunden zu haben. In der Mongolei wird sie als heiß und bitter eingestuft und wird vor allem bei Halsentzündung, Bauchweh und Zahnschmerzen verwendet, auch bei Lungenerkrankungen und »Fieber, das von Tumoren kommt«. Auch sie hat eine wurmtreibende Wirkung.

Artemisia vulgaris (Unterarten: Artemisia vulgaris var. mongolica; Artemisia integrifolia;

A. argyi, A. chinensis): Mehr als alle anderen Artemisia-Arten ist der Gewöhnliche Beifuß, wie auch seine vielen Unterarten, das Schamanenkraut schlechthin. Überall auf der Welt, wo er wächst, wird mit ihm geräuchert und gezaubert. Als Beispiel:

Kein schamanisches Heilritual (Chinta) ist in Nepal möglich, ohne dass ein Strauß des heiligen Krauts mit auf dem Altar steht.

Am oberen Teil des Stängels werden die Blätter schmal und spitz und nehmen die Gestalt eines Dreizacks an. Daher ist die Pflanze Shiva, dem Gott der Götter (Mahadev) und Herrn der Schamanen geweiht. Der Dreizack ist übrigens in ganz Asien, auch in der Mongolei und in Sibirien, ein Symbol des Schamanentums.

Auch im germanischen Kulturkreis wurde das Kraut schamanisch verwendet. Im angelsächsischen Kräutersegen wird es als das »Älteste der Wurze« (also der Heilkräuter) angesprochen, »mit Macht gegen Drei und gegen Dreißig, gegen fliegendes Gift und gegen das Übel, das über das Land dahinfährt«. In den heiligen Festen dieser Völker, der Sommersonnwende und den Wintersonnwendnächten, spielt es eine zentrale Rolle. Es wurde beim Springen über das Mittsommerfeuer als Sonnwendgürtel getragen – deswegen heißt es auch »Gürtelkraut« oder »Sonnwendkraut« –, zu Weihnachten diente es als Räucherkraut (zusammen mit Wacholder) zur Reinigung und Weihung von Haus und Hof. Es wurde auch zum Würzen der Weihnachtsgans genommen, einer totemischen Mahlzeit – deswegen wird es vielerorts »Gänsekraut« genannt. Die Gans war für die Germanen, Slawen, wie auch die Sibirier ein Symbol der fliegenden Seele. Schamaninnen flogen meistens in Gänsegestalt in die Anderswelt hinaus.

Viele glauben, dass der Name Beifuß darauf hindeutet, dass das Kraut »bei Fuß« wächst oder in die Schuhe gelegt wurde, wenn die Füße beim Wandern müde wurden. Das ist volksetymologisch zwar interessant, stimmt aber nicht. Beifuß geht auf das althochdeutsche Wort bîbôz zurück, verwandt mit bôzzen (schlagen, stoßen), wie beim anabôz (Amboß) oder dem Butzen oder Butzemann (ein »Klopfgeist«). Es ist also das Kraut, mit dem die unholden Klopfgeister oder Poltergeister vertrieben wurden, und wie Jakob Grimm vermutet, wurden mit ihm Verhexte geschlagen, um sie vom Zauber zu befreien (Marzell 1943:434f). Beifuß wird auch Besenkraut genannt. Mit Besen fegte man nicht nur Staub und Dreck aus dem Haus, sondern auch die unguten Geister, die sich darin verstecken.

Die Pflanze ist aber nicht nur ein Schamanenkraut, sondern auch ein Hebammen- und Frauenkraut. »Weiberkraut« ist einer seiner vielen Namen. Es wird eingesetzt bei Unregelmäßigkeiten der Periode, zur Geburtserleichterung bei stockenden Wehen, es reinigt bei zu lange zurückgebliebener Nachgeburt und es wird ebenfalls bei Wechseljahrbeschwerden angewendet.

Auch in der ostasiatischen Medizin spielt Artemisia argyi (chinesisch Ài yè), eine Unterart der A. vulgaris, eine wichtige Rolle als uteruserwärmendes Frauenheilmittel. Es wird sogar bei instabiler Schwangerschaft und drohendem Abort eingesetzt (Hempen 2007:597). Beifuß gilt als bitter, warm und scharf und wirkt bei Yang-Mangel in den Funktionskreisen von Leber, Milz und Nieren.


Der Gewöhnliche Beifuß (Artemisia vulgaris) am Baikalsee.

Bei einer Steißlage des Kindes erfolgt heutzutage die Geburt meistens durch Kaiserschnitt. Die traditionelle chinesische Heilkunde kennt jedoch eine Methode, das Kind in die richtige Richtung zu drehen, den Kopf nach unten, und zwar mithilfe des Beifußes. Eine Moxazigarre wird für zehn bis zwanzig Minuten an der Außenseite der kleinen Fußzehe, an den sogenannten Zhijin-Punkt (Blasenmeridian 67) gehalten, sodass es die Schwangere spürt. Dabei kniet sie und stützt sich auf die Ellenbogen. In mindestens der Hälfte der Fälle dreht sich das Baby.

Mit Beifuß lässt sich auch ein Kranker aus dem Koma holen. Dabei wird der Bauchnabel des komatösen Patienten mit Kochsalz gefüllt, darüber wird eine frische Scheibe Ingwerwurzel gelegt und darauf ein Beifußkegel angezündet. Der durch die Wärme ausgelöste Reiz bringt den Patienten wieder zu sich (FAZZIOLI 1989:79).

Owoos und Kultstätte

Kurz nachdem wir die Hauptstadt in Richtung Norden verlassen hatten, entdeckten wir auf einer kleinen Anhöhe am Rande der Straße ein Owoo, eine Steinanhäufung, aus deren Mitte Äste und Stöcke ragten, die mit bunten, vor allem blauen Seidenstreifen umwunden waren. Das Blau der Stoffstreifen (Chadak) steht für den »ewig blauen Himmel«, den mächtigen, alles überspannenden Tenger, den Gefährten der Mutter Erde. Auch andere Farben waren vertreten: Rot für Erde oder Feuer, Weiß für die Wolken und die Reinheit, für Sonnenlicht oder Milch; Gelb für die Erde und die Weisheit, Grün für das Wasser und das Leben.

Um eine gute Reise zu haben, riet uns Orgilmaa, den Owoo drei Mal sonnenläufig zu umwandeln und drei Steine, einige Münzen oder eine andere Gabe daraufzulegen. Auf dem Steinhaufen lagen auch Schädel von geopferten Horntieren und Pferden, Wodkaflaschen, Zigaretten, zu Briketts gepresster Schwarztee sowie abgelegte Krücken und Bandagen. Für unkundige Touristenaugen sah es fast so aus wie eine wilde Deponie. Das Aufhängen von kleinen bunten Stoffstreifen brachte mir einen ähnlichen Brauch der Cheyenne-Indianer in den Sinn. Auch sie hängen solche »Decken für die Geister« an Bäumchen oder Zäune.

Genauso sehr wie die sakrale Kultstätte selbst faszinierten mich die Pflanzen, die da rund um den Steinhaufen wuchsen. Mir fiel als Erstes ein Kraut mit sattgrünen gefiederten Blättern auf, welche die hungrigen Weidetiere offensichtlich in Ruhe ließen. Als ich die Pflanze neugierig anfasste, biss sie zurück – Autsch! Es war eine Brennnessel, genauer gesagt, die Sibirische Hanfnessel (Urtica cannabina). Die Mongolen essen die jungen Blätter als ein vitamin- und mineralstoffhaltiges Spinatgemüse oder in Suppen. Ebenso wie die Große Brennnessel (Urtica dioica) in Europa, verwendet man diese Nesselart in Sibirien und der Mongolei als Faserpflanze zur Herstellung von Garnen, Stricken, Netzen und sogar Textilien. Die Samen sind ölhaltig und können zu Kochöl oder Lampenöl gepresst werden.



Oben: Owoo, eine schamanische Kultstätte. Unten: Die Sibirische Hanfnessel.

In der mongolischen Heilkunde gilt die als Sugod bekannte Pflanze als »heiß«, »ölig« und »bitter« im Geschmack. Sie gilt als wundheilend, blutstillend, harntreibend und wird bei Lymphschwellung und Zuckerkrankheit eingesetzt.

Auch Salzkraut (Salsola spp.) wuchs dort. Es war noch im grünen Zustand, aber wenn die Samen reif sind, vertrocknet es, bricht an den Wurzeln ab und rollt vom Wind getrieben als »Steppenroller« über die Erde, wobei es seine Saat ausstreut. Es ist das tumbleweed, das in manchen Cowboyfilmen (Western) geisterhaft über die Prärie rollt. Dabei ist die Pflanze gar nicht einheimisch in Amerika, sondern kam als Neophyt um 1870 mit einer Lieferung russischer Flachssamen in die Neue Welt. Der Medizinmann Bill Tallbull sagte mir, dass die Geister manchmal in den rollenden Gebüschen übers Land reiten.

Buddhistisches Heiligtum, zahme Rehe und Gewitter

Die Fahrt ging weiter in den Norden, über holprige, zerfurchte, von Geländewagenreifen gnadenlos ausgefräste, mehrspurige Pisten, durch eine endlos weite, aber auch völlig überweidete Grassteppenlandschaft. Pitt fragte sich, wie die Fahrer ohne Kompass, Landkarten oder Verkehrsschilder die so weit auseinanderliegenden Ziele fanden.

Offensichtlich hatte es lange nicht geregnet. Das Gras war kurz und sah recht welk aus. Wegen der Trockenheit wirbelten dichte Staubwolken hinter den Geländewagen auf. An einem etwa hundert Kilometer von Ulan Bator entfernten buddhistischen Heiligtum, dem Aglag-Tempel und -Kloster, machten wir Halt. Das Kloster, das sich auf einer von Kiefern und Lärchen bewaldeten Anhöhe befindet, war neu; es wurde erst nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft von einem Künstler und buddhistischen Lama namens Gankhüügiin Pürevbat gegründet und aufgebaut.

Der Weg in den heiligen Tempelbezirk führte zuerst über eine kurze offene, mit grauem Beifuß bewachsene Strecke, zwischendrin ragten hier und da Türkenbundlilien, Feuerlilien und gelb blühende Kreuzblütler hervor. Die meisten unserer Gefährten eilten voraus, um das berühmte Kloster zu sehen; Marianne Ruoff, eine ethnobotanisch interessierte Ärztin aus Bern, und ich waren da viel langsamer; die Pflanzen hielten uns fest.

Der Pfad führte entlang eines knochentrockenen Bachbettes, an dessen Rändern Birken, Espen und einige Weiden wuchsen, weiter oben standen Lärchen. Auch dieser Hain war trocken; schneeweiße Stämme abgestorbener Birken lagen, wie erschlagene Krieger, verstreut auf dem Boden. Die Dürre hatte ihnen zugesetzt.

Als wir neugierig botanisierend den trockenen Bach entlangliefen, gesellte sich plötzlich ein hellfarbenes Reh zu uns. Das schöne Tierchen zeigte keine Angst; wie ein braves Hündchen folgte es uns den Berg hinauf zum Tempel. Sicherlich hatten es die Mönche gezähmt, denn Rehe haben im Buddhismus eine besondere Bedeutung. Sie symbolisieren den unruhigen Intellekt, das sprunghafte menschliche Denken (Sanskrit: Vritti), das unaufhörliche Kopftheater, welches das absolute Bewusstsein verhüllt und das man mittels Meditation unter Kontrolle bringen sollte. Ein zahmes Reh dagegen ist das Bild des gebändigten, zur Ruhe gekommenen Geistes. Rehe gelten den Anhängern Shākyamunis (Buddha) als besonders heilig, da – wie es in den Jātaka-Erzählungen heißt – Buddha selbst eine seiner früheren Inkarnation als Rehbock in Sārnāth, einem Hain nahe dem Ganges, verbracht hat. Am selben Ort, nicht weit von der Stadt Varanasi, hielt der historische Buddha seine erste Predigt und setzte »das Rad der Lehre (Dharma-Chakra) in Bewegung«.

Das Kloster, das von vielen Pilgern, auch von neugierigen Touristen aus der benachbarten chinesischen Volksrepublik besucht wird, machte mit seinen bunt bemalten Gebäuden und Götterstatuen einen heiteren Eindruck; es hatte etwas von einem buddhistischen Disneyland. Überall grüßten die in Graniturgestein und -felsen gemeißelten mystischen Tiere und Gottheiten: Ein steinerner Gecko, ein Skorpion und der Adler Garuda hielten Wache; Krokodile, ein Einhorn, Schildkröten und andere Geschöpfe der Anderswelt verzauberten die Besucher.

In einem Teich neben dem Devotionalienladen tummelte sich eine Menge Frösche und viel zu dicke Fische; recht fette Enten und auch Gänse schwammen ebenfalls in dem nicht mehr ganz so sauberen Wasser. Indem sie die Tiere füttern, können sich die Pilger in der Tugend der Mildtätigkeit üben, im Glauben, dadurch ihre eigene karmische Bilanz aufbessern zu können. Eigentlich taten mir die überfütterten Tiere leid. Offensichtlich fehlte bei den meisten Pilgern das Verständnis für das wahre Wesen dieser Geschöpfe. Die Fische und Vögel taten mir genauso leid wie die Katzen und andere fleischfressende Tiere, die überzeugte Buddhisten zur Tugend der Barmherzigkeit erziehen und karmisch unterstützen wollen, indem sie sie vegetarisch ernähren.



Oben: Abgestorbene Birken. Wie gefallene Krieger liegen sie da. Unten: Bilsenkraut, mit dem Adler Garuda und einem Tempel im Hintergrund.

Weiter oben auf der Höhe, vor dem kunstvollen Haupttempel wucherten beeindruckend vitale, stattliche Bilsenkraut-Pflanzen (Hyoscyamus niger). Verwendeten die Mönche dieses hochtoxische Nachtschattengewächs medizinisch? In der mongolischen Heilkunde soll es ja wegen seiner schmerzstillenden Eigenschaften und auch bei Gebärmutterleiden Anwendung finden. Oder benutzten sie die Samen etwa, wie die tibetanischen Bön-Schamanen, als Rauschmittel, um Kontakt mit wilden Geistern aufzunehmen, oder in tantrischen Ritualen? Vielleicht aber sind die vielen kräftig wachsenden Giftpflanzen auch Ausdruck des seelischen Giftes, das die Pilger dort abgeleget hatten.

Derweil hatten die Fahrer unten auf dem Parkplatz im Tal zwischen den Geländewagen Klapptische und -stühle aufgestellt und diese mit einer Plane überdacht. Der mitreisende Koch zauberte eine warme Mahlzeit herbei.

Ehe das Essen fertig war und alle eingetrudelt waren, legte ich mich abseits auf den trockenen, rissigen Boden, schaute hinauf in den Himmel und vergegenwärtigte mir Tenger (auch Tengri), die alles überspannende Himmelsmacht, die einst auch die Indoeuropäer als Dyaus, Dios, Theos und die Germanen als Tius verehrten. Während ich sinnend da lag, kam ein Wind auf. Er wurde immer stärker und trieb brodelnde Gewitterwolken herbei, die von einem Augenblick zum anderen dunkler wurden. Das Wetterleuchten, das den Horizont erhellte, rückte rapide näher. Es war, als würde ich fliegen, als berührte meine Seele die wirbelnden, grauschwarzen Wolken. Irgendwas in mir verlangte nach Regen. Himmelswasser sollte das ausgedörrte Land laben, durchtränken – wahrscheinlich war es die dürstende Erde selbst und die schmachtenden Gräser und Kräuter, deren Hoffnungen durch meinen Geist flossen. Die immer schwärzer werdenden Wolkengebilde nahmen die Gestalten von ringenden, sich windenden, schwarzen Drachen und Schlangenkreaturen an. Aus ihren Mäulern züngelten die Blitze als grelle Feuerzungen, die dann donnerkrachend auf die Erde einschlugen. Und dann, urplötzlich, begann ein wolkenbruchartiger Niederschlag. Im Nu pitschnass geworden, suchte ich Zuflucht unter der zwischen den Wagen gespannten Plane.

Der immer stärker werdende Sturmwind und der niederprasselnde Regen machte es für unsere Gruppe unmöglich, fertig zu essen. Die Plane flatterte wild und drohte davonzufliegen; die Teller und Becher fielen vom Klapptisch und rollten vom Wind gepeitscht über den Platz. Schleunigst suchten wir in den Fahrzeugen Schutz. Gerade als wir losfuhren, trommelte heftiger Hagel auf die Fahrzeugdächer. Im Nu bedeckte sich die rollende Steppenlandschaft mit einer Schicht eisiger Hagelkörner; die Hügel und Täler färbten sich winterlich weiß, derweil sich Nebelschwaden erhoben und geisterhaft über den Boden zogen. Schließlich verwandelte sich der Hagel wieder in einen wolkenbruchartigen Regen. Schlammige Sturzbäche rissen das überweidete Gelände auf, fraßen sich in die Erde hinein, tobten über die Lehmpisten hinweg und rauschten in die Täler. Wir kamen nicht weit. An einem braune Erde mit sich reißenden, wühlenden Sturzbach waren wir gezwungen anzuhalten. Man konnte nicht wissen, wie tief das vorbeiflutende Schlammwasser war. Zwanzig Meter weiter unten sahen wir einen leichten Pkw, den der Malstrom mitgerissen hatte. Unsere stoischen Fahrer beobachteten die Situation genau, fassten schließlich Mut, gaben Gas und schafften es ohne Probleme durch die reißende Flut. Das Zelten konnten wir an diesem Abend getrost vergessen, alles war viel zu nass, der vorgesehene Lagerplatz stand unter Wasser.

Merkwürdigerweise folgten uns Wetterleuchten, gelegentlicher Regen und Gewitter überall, wo wir uns in den nächsten Tagen aufhielten. Es war, als seien uns die Gewittergötter auf den Fersen. Aber wir freuten uns, es tat gut zu sehen, wie die Erde wieder lebendiger und grüner wurde.

Ulmen und Eschenahorn in Erdenet

Wir hatten keine andere Wahl, als auf einer der wenigen Asphaltstraßen weiter als geplant nach Norden zu fahren, und zwar in die Kupferbergbaustadt Erdenet, wo wir uns ein Hotel nahmen. Für die meisten von uns war der Hotelaufenthalt gar nicht so unwillkommen, denn da konnte unsere »lausige Gesellschaft« erst einmal duschen und etwas Geld wechseln. Am Abend dann gab es ein recht feudales Essen im Speisesaal, wobei jeder einen mit Spiritusflamme geheizten Topf mit Brühe bekam, in dem er sich nach Belieben Gemüse, Fleisch, Pilze und dergleichen garen konnte. Die kulinarischen Köstlichkeiten wurden mit Dschingis-Khan-Wodka und Dschingis-Khan-Bier heruntergespült.

Von Erdenet selbst sahen wir nicht viel, denn schon am nächsten Tag, gleich nach dem Frühstück, fuhren wir weiter. Unser Anliegen war ja die Natur und die Heilkunde und weniger Städtebesichtigungen. Dennoch bekamen wir einen Eindruck von dieser Stadt, die mit fast neunzigtausend Einwohnern die zweitgrößte Metropole des Landes ist. Die Stadt ist neu, und die Landflucht trägt dazu bei, dass die Bewohnerzahl rapide wächst. Erdenet wurde erst 1975 aus dem Boden gestampft, nachdem man dort unter der Erde riesige Kupfervorkommen entdeckte und der Abbau des Erzes als Joint-Venture zwischen der Sowjetunion und der Mongolischen Volksrepublik in Betrieb kam.9 Eine Stadt vom Reißbrett: fantasielose Plattenbauten und andere unästhetische Betonkästen im sowjetischen Stil dominieren das Stadtbild. Am Rande der grauen Stadt befinden sich kleine Häuser mit bunten Dächern und einige Jurten. Riesige Abräumhalden, so groß wie Berge, überschatten die Stadt; dahinter befindet sich eine Mondlandschaft mit Aufbereitungsanlagen, die angeblich mit giftigen Schwermetallen belastet sind.

Die Frühaufsteher unter uns ließen es sich nicht nehmen, die wilde Vegetation auszukundschaften, die an Straßenrändern und in den staubigen Gassen rund um das Hotel wuchs. Da entdeckten wir verschiedene Beifußarten, die Cannabisblättrige Brennnessel, den mongolischen Löwenzahn, verschiedene Gänsefußarten und einige gelb blühende Korb- und Kreuzblütler.

Die sozialistischen Stadtplaner hatten viele Sibirische Ulmen (Ulmus pumila), auch als Zwergulme bekannt, zur Begrünung der Straßen angepflanzt. Dieser zähe, schnellwüchsige Baum erträgt das extreme Kontinentalklima der Mongolei, wo die Temperaturen zwischen minus vierzig Grad Celsius im Winter und plus vierzig Grad im Sommer schwanken können; auch Trockenheit ist für den zähen Baum kein Problem. Gegen das Ulmensterben ist er gefeit. Mir war diese zähe Ulmenart gar nicht unbekannt. In der Prärie im Westen der USA wurde sie nach den verheerenden Staubstürmen (Dustbowls) der 1930er-Jahre in breiten Bändern als Heckengehölz zum Windschutz angepflanzt. Ihre Aufgabe sollte es sein, weitere Winderosion zu verhindern; inzwischen jedoch wird die Pflanze als aggressiver Neophyt (invasive alien) eingestuft. Sie hybridisiert auch mit der amerikanischen Rotulme (Ulmus rubra, englisch slippery elm), was Naturpuristen verärgert. Im Mittelmeerraum ist das Bäumchen inzwischen ebenfalls gelegentlich anzutreffen; auch da bildet es Bastarde mit den dort einheimischen Ulmen.

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