Kitabı oku: «Ich war ein Roboter», sayfa 2
Koblenz, 1955 +++ Die Familie war inzwischen vom hessischen Frankfurt nach Koblenz gezogen, der Stadt am Deutsche Eck, spitz eingezwängt zwischen Mosel und Rhein, umrahmt vom Karthäuser Bergrücken und der gegenüber liegenden Festung Ehrenbreitstein. Das berühmte Denkmal auf dem nördlichsten Zipfel der Stadt, wo sich die beiden europäischen Flüsse treffen, hatte damals noch nicht wieder seine im zweiten Weltkrieg zerstörte Kaiser-Wilhelm-Reiterstatue in Bronce zurückerhalten. Das Bauwerk war noch bis 1993 nur ein steinerner Sockel, und der sah wie ein Zahnstumpf aus, dem oben was fehlte.
In Koblenz hatte mein Vater eine bessere berufliche Stellung als Augenoptiker angenommen. Hier hatte mir meine Patentante einmal eine Hohner Mundharmonika mitgebracht, die mein ständiger Begleiter wurde. Das Instrumentchen hatte mich regelrecht mit Musik infiziert. Es zu spielen war schnell gelernt, und da es klein war, konnte ich es immer in meiner Hosentasche bei mir tragen. Auf sonntäglichen Spaziergängen, die unsere Eltern oft mit uns durch die Rheinwiesen nach Braubach und Schloß Stolzenfels machten, habe ich gern kleine Melodien gespielt, die oft von einer leidenschaftlichen Melancholie geprägt waren. Meinem Zwillingsbruder gefielen sie anscheinend besonders gut, denn er prophezeite mir schon im Alter von acht Jahren: »Du wirst bestimmt einmal weltberühmt, Wolfgang.« Da konnte ich mir überhaupt nichts drunter vorstellen, was das ist - berühmt sein.
Größten Spaß hatten wir Jungs auch, wenn wir nach dem Zubettgehen noch im Radio spannenden Hörspielen lauschen durften. Das Licht war in unserem Zimmer bereits gelöscht; nur die magisch grüne Glasscheibe mit den Radiosendern und dem Pegelanzeiger des Empfängers beleuchtete schwach die Kommode, auf der er stand. Die Dunkelheit ließ unsere Vorstellungskraft aufblühen, während wir den Stimmen der Darsteller und den Geschichten lauschten. Heute weiß ich, dass das besser war als jedes Fernsehen, weil wir uns die Figuren, die Landschaften und Geschehnisse allesamt in unseren Köpfen selbst ausmalen mussten.
Dämmerlicht und zarteste Geräusche liebte ich besonders beim samstäglichen Beichtgang in unserer katholischen St.-Joseph-Kirche. Dem neugierigen Kaplan im intimen Beichtstuhl meine Sünden der Woche zu verraten, war hingegen für mich immer äußerst beschämend. Aus Wut log ich ihm deshalb oft schlüpfrigste Verfehlungen gegen den christlichen Katechismus vor, so dass ihm hinter dem aus Holz geschnitzten Gesichtsgitter die Schweißperlen auf die Stirn traten. Wir hatten die perfekte Symbiose. Er wollte ausführlichst ›diese Schmiersachen‹ gebeichtet bekommen, ich dagegen wollte eine lange Bestrafung erreichen. Zehn ›Vaterunser‹ und noch einmal zehn ›Gegrüßet seist Du, Maria‹ waren das Mindeste, was ich als Buße suchte. Dann flitzte ich zufrieden aus dem Beichtstuhl und suchte mir auf der Frauenseite eine Alte, die sich dort zum Gebet niedergelassen hatte. Ich kniete mich ganz nah neben sie in die Bank und faltete meine Händchen, kaum fähig über die Kirchenbank zu reichen. Ich schloß meine Augen und konzentrierte mich ganz auf das Geräusch ihrer flüsternden Lippen. Die Frauen beteten ganz leise ihren Rosenkranz, der aus Glasperlen aufgefädelt war. Das leise Klickern der Perlen und ihr Flüstern war es, was ich suchte. Im spätnachmittäglichen Halbdunkel der Kirchengewölbe und im Anblick des rubinroten ewigen Lichts auf dem Hochaltar und berauschender Farben der buntgläsernen Kirchenfenster hatte ich es einmal erlebt, wie eine Frau, nachdem sie ihren Mittelfinger zärtlich an der Zungenspitze beleckt hatte, so sanft das Seidenpapier ihres kleinen, goldumrandeten Gebetbuches umblätterte, dass mir das zarte Knistern der hauchdünnen Seiten eine genüßliche Gänsehaut und einen steifen Penis bereitete. Ich suchte mir immer wieder diese lustvolle Gelegenheit aus Klickern, Knistern und leisem Geflüster. Wohlige Schauer liefen mir jedesmal den jungen Rücken herunter, und ich konnte nicht genug davon bekommen. So war ich immer froh, wenn ich lange Buße tun durfte, konnte ich mich doch immer wieder dieser sündigen Lust aus zartem Hören hingeben und vor allem länger draußen bleiben.
Mit zehn entdeckte ich die weite Welt des Transistors. Mein großer Bruder hatte von der Schule ein paar Teile mitgebracht, einen Kristalldetektor, eine Diode, eine kleine Spule und ein Potenziometer, mit denen man ein funktionierendes Radio zusammenlöten konnte. Über eine simple Antenne war das Gedrähte tatsächlich fähig, Radiowellen aus dem Äther einzufangen, die man dann per Kopfhörer in die Lauscher schicken konnte. Ich glaube, wir bekamen nur Mittel- oder Langwelle herein, und die kratzte und rauschte ganz schön. Aber mit Geduld und Fingerspitzengefühl am Poti gedreht, konnte man durchaus etwas Hörbares erreichen. Das war höchst spannend. Mit solch wenigen Teilen ein eigenes kleines Radio zu bauen und richtig Töne zu hören, die von irgendwoher weit draußen kamen, das haute mich echt um, das brachte meine Fantasie zum blühen. Ich wollte nun unbedingt, wie das bei Geschwistern ja immer so ist, ein eigenes ›Spion-Radio‹ haben, wie ich es nannte. Kurz darauf, das war so um 1957, entdeckte ich dann auf dem Schulweg im Schaufenster eines Radiohändlers die Perfektion der physikalischen Hausaufgabe meines Bruders - ein modernes japanisches Transistorradio. Es hatte sogar schon einen kleinen eingebauten Lautsprecher und eine verchromte Teleskopantenne. Auf dieses Kästchen hatte ich es abgesehen wie wild. Ich weiß noch ganz genau, dass es etwas mehr als zehn Mark gekostet hat - eine Unmenge Geld für mich - und es war aus weißem Plastik mit einem gerasterten Tuningrad hinter einer im Deckel eingelassenen Lupe, auf der man die vergrößerten Frequenzzahlen der Sender ablesen konnte. An einer hübsch geflochteten Schnur hielt man das kleine Gerät in der Hand und ich konnte so schön damit angeben, wenn ich draußen herumlief. Das war modern und es schmückte mich vor meinen Freunden. Zusätzlich besaß es noch einen Ohrhöhrer, mit dem ich abends unter meiner Bettdecke, verborgen vor meinen Brüdern, die Sender durchforsten konnte. Am liebsten hörte ich die Kurzwelle. Da kamen fremde Sprachen und neue Klänge aus aller Welt herein. Dabei entdeckte ich, dass ich viel Spaß hatte an Musik unterschiedlichster Art. Im abgelegensten Winkel des großen Gartens meiner Oma hatte ich mir hinter den Stachelbeersträuchern eine Geheimecke ausgesucht, in der ich mich sonntagnachmittags stundenlang aufhielt und am Pegelrad drehte, immer auf der Suche nach einem fremden Klang. Menschliche Stimmen hatten es mir besonders angetan. Die hatten was zu melden, selbst wenn ich es inhaltlich oft nicht verstand.
Einmal war ich erkältet und musste mit hohem Fieber im Bett bleiben, während mein Zwillingsbruder ohne mich zur Schule ging. Im Kinderzimmer hörte ich in unserem großen Radio Marke Saba in der Fieberhitze Aram Khatchaturians ›Säbeltanz‹ aus dem Monolautsprecher. In meiner blühenden Fantasie sah ich die Derwische auf ihren Pferden durch die Puszta wirbeln und mit den Säbeln rasseln. Die Komposition hatte etwas gerührt in mir, das meiner Seele nah war. Was ich spürte, wollte ich immer wieder spüren. Eine Schallplatte musste auf mein heftiges Drängen hin besorgt werden, und von da an nervte ich meine Geschwister mit dem ständigen Abspielen des ungestüm dramatischen Epos auf unserem Phillips-Plattenkoffer, den mein älterer Bruder im Kinderzimmer zum Hören seiner Schlagerplatten benutzte.
Khatchaturians Komposition gefiel mir viel besser als der nachgeäffte Rock‘n‘Roll des Schlagersängers Peter Kraus, den mein Bruder gerne hörte. Gregor hatte schon früh ein Telefunken-Tonbandgerät. Mit diesem TK 17 haben wir bald unsere eigenen Hörspiele inszeniert und mit Geräuschen ausgeschmückt. Alles was sich mit dem Mikrofon aufnehmen ließ, sammelten wir ein, und wir erzählten selbst erfundene Geschichten mit verstellter Stimme. Mein Interesse an Klängen wuchs ständig. Ich wollte bald ein Instrument spielen. Eine Trompete sollte es anfangs sein, weil die so laut war. Dann wollte ich ein Klavier haben, später wiederum eine Gitarre. Aber bei meinen konservativen Eltern fand ich zunächst kein Gehör für derlei Zeitvertreib. Außerdem verdiente mein Vater damals nicht so viel Geld, als dass er mir meine ständig wechselnden Instrumentenwünsche ohne Weiteres hätte erfüllen können.
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VOM BEATNIK ZUM MOD
Düsseldorf, April 1958 +++ Meine Familie zog vom Deutschen Eck in der grünen Rheinlandpfalz in die gläserne Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen, und als ich vier Jahre später getrennt vom Zwillingsbruder auf einer der Realschulen Düsseldorfs war, unterstützte unsere blonde Englischlehrerin die Musizierlust ihrer Jungs mit Begeisterung und Weitsicht. Wir mochten die attraktive Menzen, die uns pubertierenden Bengels so gern ihre scharfe Figur präsentierte. Dazu setzte sie sich beim Abfragen der Vokabeln vor der ganzen Klasse auf das Lehrerpult und schlug ihre wohlgeformten Beine übereinander. Ihr enger Kostümrock rutschte dabei oft gefährlich hoch und ich nahm das reibende Geräusch ihrer Nylonstrümpfe wahr, das mir eine wohltuende Gänsehaut bereitete. Durch den erotischen Einfluss unserer hübschen Lehrerin waren wir alle sehr gut in Englisch, denn wir liebten ihren ungezwungenen Unterricht. Die Menzen gewann uns dafür, eine Band zu gründen, um die Lieder zu begleiten, die wir in ihren Stunden manchmal zusammen sangen. Korrekte englische Aussprache sollte dabei geübt werden. Gospels wie, ›Swing Low, Sweet Chariot‹ oder ›My Bonny Is Over The Ocean‹ waren beliebte Übungen. Mein Banknachbar Rüdiger spielte dabei eine Klampfe, unser Klassensprecher Hans-Peter rasselte mit Vaters Rumbakugeln, der hübsche Jürgen spielte Banjo und ich meine Mundharmonika, der wir hinten ein Mikrofon angeklebt hatten und sie damit über den Plattenspielereingang unseres Radios verstärkten. Wir hatten unsere erste Combo gegründet - die Bellows. Im Radio spielte gleichzeitig der erste Beatlessong ›Love me Do‹.
Und noch etwas Aufregendes geschah 1962: An einem milden Märzabend hörte ich zum ersten Mal den sensationellen neuen Stereoton. Es war die revolutionäre Erfindung genialer Toningenieure, welche das zukunftsweisende Medium in jenem Jahr auf der Berliner Funkmesse der Welt präsentierten. Gregor, mein älterer Bruder, war durch seine Messdienertätigkeit in unserer St. Rochus Pfarrei mit dem jugendnahen Pfarrer befreundet, und dieser hatte bald den ersten Stereo-Kofferplattenspieler von Dual gekauft, auf dem er uns Jungs im Versammlungszimmer des Pfarrhauses die ›Nussknackersuite‹ von Peter Iljitsch Tschaikowsky und Bedrich Smetanas ›Die Moldau‹ vorspielte. Mann, war das ein ergreifendes Erlebnis! Kann sich heute kaum noch einer vorstellen, wie wir früher immer Mono gehört haben. Und nun konnte man im Panorama zwischen zwei in reichlich Entfernung von einander aufgestellten Lautsprecherboxen richtig orten, wo die einzelnen Instrumente im Orchester platziert waren. Die musikalisch-technische Demonstration war ein Hochgenuss für uns Jugendliche und sie beeindruckte mich so nachhaltig, dass ich den Erfindern auf meinem Time Pie-Album sogar einen Song widmete - ›Stereomatic‹.
Meine Eltern hatten in Düsseldorf-Lohhausen einen Schrebergarten. Einmal kam ich auf dem Weg von dem Gelände am Vereinshaus der Gartenanlage vorbei, da probte dort, gut sichtbar hinter einer großen Glasscheibe, eine elektrisierende Gitarrenband. Es waren schon erwachsene Musiker, die professionelle Klangverstärker und ein komplettes Schlagzeug hatten. Songs von den Spotniks wurden gespielt und von anderen damals aktuellen Gitarrenbands. Das klang so perfekt, so knackig elektrisch, und der Gitarrist spielte sein Instrument mit einem tollen Echoeffekt im Stereo-Panorama. Völlig fertig machte mich das, wie eingeübt und modern die klangen.
Als ich im Keller unserer Schule den Proberaum einer Skiffle-Band mit einem Schlagzeug entdeckte, war es endgültig um mich geschehen. Die Trommeln hatten solch einen tollen Knall, dass ich augenblicklich Schlagzeuger werden wollte. Es dauerte aber noch eine Weile, bis mein strenger Vater meinem Zwillingsbruder und mir erlaubte, während der Schulferien in der gegenüberliegenden Altbierbrauerei Dietrich zu arbeiten, um ein wenig Geld zu verdienen. Als Sechzehnjähriger konnte ich so 1963 mein erstes kleines Schlagzeug kaufen und mit Freunden aus meiner Schule die Beathovens gründen – Rüdiger Kornblum/Rhythmusgitarre, Detlev Henschek/Sologitarre, Heinz Peitzker/Bass und ich selbst am Schlagzeug. So gut es ging, kopierten wir die Beatles und andere Gruppen aus England, die wir zu jener Zeit ständig im Radio hörten. Wir machten es zum samstäglichen Ritual, uns bei Rüdiger zu Hause zu treffen und nachmittags um vier Uhr die britische Top-Twenty-Hitparade bei 1604 Megaherz auf dem Mittelwellenband von Radio Luxemburg, unserem absoluten Lieblingssender, zu analysieren.
Im November 1965 ging ich jedoch einmal fremd. An einem trostlosen Samstagnachmittag hörte ich gelangweilt mit mir selbst, bei uns zu Hause ausgerechnet im englischen Besatzersender BFBS im Wohnzimmer unserer selten freien Wohnung einen Song der topneuen Gruppe The Who, während ich mir voller achtzehnjähriger Leibeslust genüsslich einen runterrieb, um dem grauen Tag noch etwas fröhliches abzuringen. Da stotterte doch tatsächlich einer seinen Text im Radio und versuchte sich immer wieder an den Worten ›my ge-ge-ge-generation‹. Aufgewühlt von der Fremdartigkeit des Songs und stöhnend vor Lust, spritzte ich im wertvollsten Zimmer meiner Eltern mit befreiender Wohltat mein Sperma bogenweise über das edle Rokkokosofa, auf dem ich mit heruntergelassener Hose saß, nicht ahnend, dass der Song die bedeutendste Teenagerhymne aller Zeiten werden würde. Nicht zu fassen war für mich, dass man jetzt auch schon Stotterer in die Plattenstudios ließ und ihre Sprachübungen in den Äther sendete. Die revolutionäre Band war vollkommen neu für mich und warf alles über den Haufen, was ich bis dahin für gute Popmusik gehalten hatte. Wir waren doch sehr geprägt vom Schöngesang der Beatles mit ihren frühen Simpeltexten. Hier aber brüllte eine Gruppe ihren ganzen jugendlichen Zorn und ihre Frustration auf die Bürgerlichen heraus, die so gar kein Verständnis für spermaverklebte Polster ihrer Repräsentationsmöbel hatten. Ich hatte noch meinen zuckenden Liebling in der Hand, als mich während des süßen Leerlaufens Genugtuung überfiel angesichts des frisch besudelten Stoffes. Am liebsten hätte ich noch viel mehr der dekorativen Einrichtung im Schönzimmer meiner Eltern verdorben, dessen Pflege und Instandhaltung sie mehr Energie und finanziellen Aufwand widmeten als der Talentförderung von uns Kindern. Ich hatte jedoch nichts mehr im ›Tank‹ und außerdem befürchtete ich die Entdeckung meiner Frevelstat. Der Rest des Nachmittags ging deshalb auch weniger lustvoll mit dem Abwaschen, Bürsten und Trocknen des edlen Damaststoffes drauf. Die wuchtige Musikalität der Who indes tat mir gut, und gerade das revoltierende Ende von ›My Generation‹ war wie eine Offenbarung für mich, der ich selbst so viel Wut auf meinen Vater in mir hatte, von dem ich nie hörte, dass er mich liebt, der nicht zu mir hielt, der mir hinterhältig meine erste große Liebe zerstören wollte und von dem ich immer nur zu hören bekam »aus dir wird ja doch nichts«, wenn es zu Hause um meine in seinen Augen nutzlose Musik ging. Die Who sprachen krass meine Sprache in der freien Übersetzung ihres Songs:
MEINE GENERATION
Menschen, versuchen uns zu unterdrücken
rede über meine Generation ...
nur, weil wir zurechtkommen und uns mucken
rede über meine Generation ...
Sachen, die sie machen, schrecklich kalt
rede über meine Generation ...
hoffentlich sterb‹ ich, bevor ich alt
rede über meine Generation ...
Das ist meine Generation
Das ist meine Generation, Baby
Warum verzieht Ihr euch nicht alle?
rede über meine Generation ...
und versucht nichts, kriegt nichts auf die Schnalle
rede über meine Generation ...
’nen großen Aufstand draus machen - nicht meine Option
rede über meine Generation ...
ich rede nur über meiner Generation
meine Generation
rede über meine Generation ...
meine Generation
das ist meine Generation, Baby
Rüdiger, unser Gitarrist, besorgte uns immer die interessantesten Songs als Single-Schallplatte aus einem Plattenladen an der oberen Königsallee, wo er in der Nähe seine Ausbildung als Bankkaufmann machte. Dann übten wir diese Lieder in einem kleinen Beat-Keller des Hauses eines unserer Klassenkameraden in der Kapellstrasse ein. Dort war unser Reich. Dort probten wir, dort träumten wir, dort rauchten wir Zigaretten wie die Irren. In kurzer Zeit entwickelten sich The Beathovens zu einer der besten Coverbands in Düsseldorf und Umgebung. Wir spielten auf wüsten Schulfeten, in dubiosen Clubs und auf Privatfesten. Alles, was wir dabei verdienten, steckten wir akribisch in unsere Anlage, die wir auf Teilzahlung beim Düsseldorfer Musikhaus Jörgensen gekauft hatten.
Zu einer festen Einrichtung wurden unsere samstäglichen Heimspiele im ›Youth Club‹ der englischen Rheinarmee. Der Club war die beliebteste Adresse der Düsseldorfer Jugend, die sich an den Wochenenden austoben wollte. Mitten im Nordpark lag das flache Gebäude der Militärbesatzer, direkt neben ihrem eigenen Globe-Kino und Warenhaus auf britischem Territorium. Die Kinder der Engländer und der Düsseldorfer hatten hier einen Treffpunkt, wo sie sich bei Musik und Tanz kennen lernen und vergnügen konnten. Wir Beathovens avancierten schnell zur beliebten Hausband, da wir immer aktuellste Beat-Musik spielten. Zum Abkühlen und Knutschen konnten die Paare zwischen den Tänzen direkt nach draußen in den Park laufen. Während der warmen Sommernächte war gegenseitiges Befummeln und Petting in den buschigen Grünanlagen sehr angesagt, allerdings störten patroullierende MPs oft die Pärchen mit ihren starken Taschenlampen und jagten die Aufgeschreckten aus den Sträuchern. Da ich immer trommeln musste, konnte ich leider nicht mitmachen, hätte mich aber auch gerne mit meiner damaligen Freundin in die Sträucher verdrückt.
Mit einem abgewrackten VW-Bus machten wir während der Schulferien 1966 und 1967 Tourneen an die Nordküste. Wir spielten im Ostseebad Dahme in einem Strandcafe nachmittags zum Tanztee und kürten unsere ›Miss Beathovens‹, eine androgyne Pariserin mit süßem Courrège-Haarschnitt, die immerhin schon zehn Jahre älter war als ich. Spitz wie der Eiffelturm vernaschte sie mich sofort danach - très delicat - auf ihre ganz französische Art in ihrem Zimmer, das sie als Hauswirtschafterin in einem Hotel hatte, und sie gab mir Unerfahrenen ›leçons erotique‹, dass ich heiße Ohren und was sonst noch alles bekam ...
Ich hatte meinen ersten weiblichen Fan und die kokette Mademoiselle reiste mir später sogar nach Düsseldorf hinterher, um sich bei meinen Eltern vorzustellen und um ihre Besitzansprüche an mich geltend zu machen. Mann, war mir das peinlich! Eine erwachsene Frau stand im scharfem Chanelkostümchen, Pelzkäppi und schlanksten Beinen in spitzen Lackpumps im Flur unserer Wohnung und hielt charmant selbstbewusst vor den Anwesenden um meine Hand an. Im Erdboden wäre ich am liebsten versunken. Sie wollte mich doch tatsächlich heiraten, das zuckrige Dämchen. Aber ich und heiraten? Da lachten ja die Hühner, ‘ne Krise bekam ich vor so was!
Weil keiner von uns Musikern den Führerschein hatte, musste mein älterer Bruder Gregor unseren VW-Bus fahren, den wir ›Flummi‹ tauften, weil er keinerlei funktionierende Stoßdämpfer mehr besaß und auf der Straße schlicht wie ein Gummiball hüpfte. Absolutes Highlight der Beathovens, deren Namen Rüdiger und ich übrigens während einer Chemiestunde kreiert hatten, war unser Auftritt als Vorgruppe eines Konzerts der deutschen Lords und der englischen Who mit ihrem immer noch stotternden Roger Daltrey in der Düsseldorfer Rheinhalle. Wir hatten uns für diesen Auftritt sogar extra beim exklusiven Herrenausstatter Seelbach orangefarbene Feincordjacketts gekauft und traten elegant mit weißen Hemden und schwarzen Krawatten auf. Es war uns sehr wichtig, dass das Bild der Beathovens auf keinen Fall rockerhaft wirkte. Die Who zertrümmerten damals nach jedem Konzert ihre Anlage und ihre Gitarren. Ich hatte aber bei den Proben nachmittags auf der Bühne dazugestellte leere Lautsprecherboxen und Marshall-Verstärker neben den echten entdeckt. Es war also nur ein Fake, alles nur Show.
Die Who zelebrierten einen ultralauten, anarchischen Auftritt, der mein ganzes Weltbild von Gehorchen, keine Widerworte geben und nicht Aufmucken erschütterte. Nun bekam ich selbst Mut, meine Wut rauszulassen. Unzweifelhaft hatte diese frühzeitliche englische Punkband mir dabei geholfen, dass ich mir in Zukunft nichts mehr gefallen lassen wollte. Die Who zertrümmerten an jenem Abend nur Leergehäuse und Billiginstrumente, die sie am Ende ihrer Show schnell ausgewechselt hatten. Einen Frevel an ihren teuren Verstärkern und den feinen Gitarren hätte ich damals auch nicht verstanden oder akzeptiert. Was die Who da so symbolisch zerschlugen, hatte ich aber schon verstanden und es war ein deutliches Zeichen für mich, meinen musikalischen Weg nun auch gegen den Willen meiner Eltern zu gehen. Nach dem Konzert kam der Schlagzeuger der Lords in unsere Garderobe und lobte uns: »Jungs, ihr habt ja richtig Format.« Wir waren überglücklich. Wie wichtig war uns doch ein Lob, dazu von jemandem, der uns auch beurteilen konnte.
Eine richtige Beat-Szene hatte sich in der Stadt gebildet, und die lokalen Zeitungen berichteten immer öfter über uns und die konkurrierenden Gruppen. Ich gründete bald darauf mit Freunden die wesentlich wüstere Band Fruit. Wir hatten die sanften Beathovens auflösen müssen, weil unser Gitarrist, vor seiner Einberufung zum Wehrdienst nach Kanada geflohen war. Ohne Rüdiger war der Geist aus den Beathovens raus, es war nicht mehr gut ohne ihn. Mit Fruit waren wir allerdings zur schärfsten Konkurrenz für die noch chaotischeren Harakiri Whoom geworden, deren Sänger ein noch unbekannter Schauspielersohn war, Marius Müller-Westernhagen. Auch Harakiri Whoom spielten Musik der englischen und amerikanischen Bands nach. Marius war ein vortrefflicher Imitator von Rod Stewart und Steve Marriott, und wie ich finde, hört man das auch heute noch ganz gut heraus.
Erst mit den Spirits of Sound, meiner letzten Amateurband, begann Ende der 60er Jahre eine Ära, in der wir eigene Songs entwickelten. Mit dabei waren der begnadete Gitarrist Michael Rother und der Sänger Wolfgang Riechmann, ein charismatischer und humorvoller Musiker, der später Opfer eines Mordanschlags wurde, tragischerweise kurz bevor sein wunderbares Debütalbum Riechmann Wunderbar auf Sky Records veröffentlicht wurde. Es war die Zeit der Hippies und der Twiggy-Mode, und wir spielten als Spirits auf der legendären ›Teenage-Fair‹, einer Jugendveranstaltung der Düsseldorfer Messe, neben englischen Stars wie Steve Marriot, Eric Burdon, den Small Faces und Humble Pie mit Peter Frampton. Der berühmte deutsche Filmregisseur Kurt Hoffmann entdeckte uns dort auf dem Gelände und verpflichtete uns zur Mitwirkung bei seinem wohl unnötigsten und erfolglosesten Film, Ein Tag ist schöner als der andere, mit der Schauspielerin Vivi Bach.
Trommeln war mein ganzes Leben geworden, und ich verprügelte mein Schlagzeug nun ebenso schlimm wie Keith Moon von den Who. Je wütender ich war, desto besser spielte ich Schlagzeug, und bei Liebeskummer, den ich in jenem Alter nur all zu oft hatte, schlug ich meine ganze Traurigkeit in die teuren Felle. Oft ging ich nach nächtelangen Sessions in viel zu engen Clubs und nach viel zu vielen Zigaretten klatschnass durchschwitzt und mit blutenden Händen nach Hause. Ich war so dünn damals, hatte kaum Substanz und nahm regelmäßig in solchen Nächten noch Kilos ab. Es war eine extrem ungesunde, aber kameradschaftliche Zeit, die ich danach nicht mehr so haben sollte. Meine Musikerfreunde ersetzten mir die Familie, von der ich mich zunehmend unverstanden fühlte und immer mehr absonderte. Meinen Eigensinn konnte man dort nicht als etwas Wertvolles und Förderungswürdiges erkennen. Ich entwickelte mich zum Rebellen und setzte gnadenlos und oft jähzornig meine Ziele durch, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die mich Quergeist immer weniger erziehen konnten. Ich war anstrengend und unbequem geworden, lehnte einfach alles ab, was mit ihren Werten und ihren bürgerlichen Bindungen zu tun hatte. Ich wollte nicht ihre Zeiten einhalten, konnte schon gar nicht ihre übertriebene Ordnung nachvollziehen, musste unbedingt alles anders machen und ständig provozieren. Ein Beatnik war ich mit all meiner jugendlichen Kraft, und ich wollte das auch zeigen. Also lief ich mit schwarzem Rollkragenpullover, schwarzer Slop-Hose und dunkler Sonnenbrille herum, obendrein mit immer länger werdenden Haaren. So gefiel ich mir. So fühlte mich verbunden mit den Musikern der englischen Pop-Szene. So gefiel ich aber gar nicht mehr meiner Mutter, die in der Öffentlichkeit immer mehr Abstand zu mir hielt, weil ich ihr einfach zu peinlich geworden war.
Mit 21 Jahren ging es nicht mehr weiter mit unserem Zusammenleben in der eng gewordenen Brüderbude. Noch immer hatten wir nur ein einziges Zimmer für uns und natürlich keinerlei Privatsphäre. Die einstmals geliebte Gemeinschaft erdrückte mich und ich beschloss, auszuziehen. An einem Sonntag im Frühjahr 1968 um sechs Uhr morgens hatte ich mich mit meinen Freunden verabredet. Sie warteten pünktlich unten auf der Straße mit unserem VW-Bully, während ich mich leise anzog und meine wenigen Habseligkeiten zusammenpackte. Meine beiden Brüder schliefen noch und ich versuchte, niemand zu wecken. In der Diele kam mir allerdings meine Mutter im Morgenmantel entgegen und erkundigte sich aufgeregt flüsternd, wo ich so früh am Sonntag hinwolle. Sie hatte ein mütterliches Gespür für die Situation und ahnte eine schmerzliche Veränderung für die Familie. Als ich ihr sagte, dass ich gehen würde, fing sie an zu weinen und wollte mich daran hindern, die Wohnungstür zu öffnen. Es wurde laut zwischen uns. Meine Brüder waren aufgewacht und verstanden nicht so recht, was los war. Mein Vater blieb bequem in seinem Bett. Und stumm. Er wollte von meinem Fortgang nichts wissen. Er nahm mich sowieso nicht wahr. Zuletzt hatte ich ihm nur noch Zettelchen hingelegt, wenn ich ihm etwas mitzuteilen hatte. Mit Tränen in den Augen schob ich meine geliebte Mutter hart beiseite und tat, was ich tun musste - meinen eigenen Weg gehen.
In einem kleinen Appartement, das ich heimlich mit finanzieller Unterstützung einer Bankiersfrau, der Mutter eines meiner Bandfreunde der Spirits, an der Heinrichstraße angemietet und mir spärlich eingerichtet hatte, gingen das Leben und seine Schwierigkeiten erst einmal richtig los. Aber ich war endlich für mich. Ich war stolz darauf, obwohl oft unglücklich, weil ich mich von meiner Familie so unverstanden fühlte und weil ich mich gezwungen sah, meiner Mutter solches Leid anzutun. Doch ich hatte meine Band und Brigitte, meine erste große Liebe, sowie deren Familie, die mich liebevoll behandelten wie ihren eigenen Sohn.
Danach begann ich alsbald ›Ersatzdienst‹ zu leisten, wie das damals hieß. Im medizinischen Labor einer mitten im Wald gelegenen Diabetesklinik lernte ich menschliche Blut- und Urinproben chemisch zu analysieren. Dieser Dienst gefiel mir gut, denn ich wurde gefördert, was das Zeug hielt. Leberwertfeststellung mittels Elektrophorese und Blutzuckerprüfungen am ›Eppendorf‹ wurden weitere Arbeitsfelder. Ich hätte mir damals durchaus vorstellen können, mich für die klinische Labordiagnostik ausbilden zu lassen und MTA zu werden, denn in die Laborchefin war ich vollkommen verknallt. Leider war sie verheiratet, obwohl ich mir sicher bin, dass auch sie mich wollte.
Militärdienst, gleich welcher Art, wäre nie für mich in Frage gekommen, da ich mich als hundertprozentiger Humanist fühlte. Einfach war das damals nicht, den Kriegsdienst zu verweigern, obwohl die Möglichkeit dazu schon im Grundgesetz verankert war. Eine langwierige und entwürdigende Prozedur mit einem strengen richterlichen Prüfungsverfahren war Voraussetzung dazu. Als ich schließlich den Prozess gewonnen hatte, hatte ich auch meinen ersten Kampf für mein Gewissen und gegen Vater und die Allmacht eines ungeliebten Staates bestanden, der mich durch seine ungeheuerliche Geschichte selbst zu einer Art Kriegsgeschädigten gemacht hatte. Für meine Gesinnung wäre ich im Falle einer Ablehnung auch ins Gefängnis gegangen, das hatte ich mir vorher schon ausgemalt und fest eingeplant.
Nach dem Ersatzdienst begann ich 1971 ein Studium der Innenarchitektur an der Werkkunstschule und machte außerdem ein Praktikum in Ladenbau bei einem Architekten, der in der Zeitung nach einem jungen Mann gesucht hatte, der das Fach von der Pike auf erlernen wollte. Es war genau das richtige für mich, da ich dabei auch etwas Geld verdienen konnte für die Miete meiner Bude.
Ich muss allerdings gestehen, dass mir das Studium gar keinen richtigen Spaß machte. Es war ja doch mehr die Idee meiner Eltern gewesen, dass aus ihrem Wolfgang mal ein guter Architekt wird. Nach vier Semestern schmiss ich genervt das Studium hin und konzentrierte mich ganz auf das Praktikum und meine Band - die Spirits of Sound. Uwe Fritsch, Ralf Ermisch, Michael Rother und unser Menthor Rolf Kauffeld besuchten mich oft in meinem Appartement an der Heinrichstraße, im selben Haus, wo auch die Mutter von Monika Dannemann wohnte, der deutschen Freundin von Jimi Hendrix, den wir vollkommen verehrten. Wir hatten den Psychedelic-Rock für uns entdeckt, rauchten Kif und hörten bei Kerzenschein Platten von King Crimson, Santana, Jefferson Airplane, den Byrds oder Emerson, Lake & Palmer, die schon ansatzweise einen Synthesizer verwendeten, von dem ich damals noch gar nicht wusste, was das ist. Meine eigene Gruppe bekam jedoch bald einen vernichtenden Schock durch die harte Abwerbung unseres geliebten Gitarristen Michael Rother. Die Kraftwerker hatten sich angemeldet.