Kitabı oku: «Hightech-Kapitalismus in der großen Krise»

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Titel

Wolfgang Fritz Haug

Hightech-Kapitalismus

in der Großen Krise

Argument

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie

Band 14

Copyright

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© InkriT 2012

www.inkrit.de

© für diese Ausgabe Argument Verlag 2012

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Jan Loheit

Umschlag und Satz: Martin Grundmann, Hamburg

ISBN 978-3-86754-930-1

1.Digitale Auflage 2012

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

Inhalt

Einleitung

1. Worum es geht

2. Was hat sich seit dem ersten Buch verändert?

3. Zum Problem philosophischer Gegenwartsgeschichte

4. Arbeiten an künftiger Erinnerung im Material der Zeit

Danksagung

Teil I - Die Finanzkrise

Erstes Kapitel - Erscheinungsformen der Krise

1. Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs

2. Neoliberalismus – momentan »mit null multipliziert«

3. Wiederkehr des Interventionsstaats

4. Die Finanzmacht interveniert in den Staat

5. Düstere Aussichten und ein Arbeitsprogramm dagegen

Zweites Kapitel - Theoretisches Intermezzo: Marxsche Krisenbegriffe

1. Marx als Kritiker des Kapitalismus

2. Kritik als Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus zu denken

3. Alltagsverstand der Krise – populistisch ausbeutbar

4. Die Vorstellung vom »anständigen Kapitalismus« der »Realwirtschaft«

5. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (I)

6. Überkapazitäten oder Kapital-Überproduktion?

6.1 Extraprofit als Magnet der Produktivkraftentwicklung

6.2 Die These vom tendenziellen Fall der Profitrate

6.3 Das Überakkumulationsgesetz

7. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (II)

8. Ein Blick über die Grenze des Kapitalismus

Drittes Kapitel - Was ist neu an dieser Krise?

1. Was genau ist in Krise geraten?

2. Naturgrundlage und Epochenspezifik

3. Produktivkräfte und Möglichkeitsräume von Herrschaft

Viertes Kapitel - Die Zeit der Spekulation

1. Attraktion und Repulsion von Arbeitszeit

2. Zirkulation ohne Zirkulationszeit

3. Spekulation als raum-zeitliches Differenzgeschäft

4. Mannlose Spekulation

5. Hochfrequenz-Werbung

6. Die Spekulation verschlingt ihre Zeit

Fünftes Kapitel - Was meint »Finanzialisierung«?

1. Industriekapitalismus und Finanzspekulation

2. Finanzmarktkapitalismus

3. Finanzialisierter Kapitalismus

4. Kreditbasierter Konsumkapitalismus?

5. Paradoxe Keynesianismen

6. »Rentenfonds-Kapitalismus«

7. Der Schuldenanstieg nährt das fiktive Kapital

8. Die Triebkraft hinter der Finanzgetriebenheit

Sechstes Kapitel - Flucht aus der Geldform in die Geldwarenform

1. Wertzeichen und Selbstwert

2. Gold im Tollhaus der Preise

3. Gold als Geldware

Teil II - Die Hegemoniekrise

Siebtes Kapitel - Imperium oder Imperialismus

1. Vom Namen zum Begriff

2. Imperialismus – ein verschwundener Begriff taucht wieder auf

3. Imperialismus und Imperium im Lichte der Hegemoniefrage

4. Widersprüchliche Kompatibilität von Imperium und Freiheit

5. Die USA erfahren eine erste Form der Herr-Knecht-Dialektik

6. Exkurs über die »Kazikisierung« der Nationalstaaten und den Machtkampf zwischen ›Ökonomie‹ und ›Politik‹

7. Widersprüche und Scheitern des »Amerikanischen Jahrhunderts«

Achtes Kapitel - Rekonstruktion der US-Hegemonie unter Obama?

1. Hegemoniales Vorspiel: Obamas Wahlkampf

2. Ein Trümmerfeld als neuer Ausgangspunkt

3. »Clintons Witwen« hatten nie aufgehört, den US-Hegemon zurückzuverlangen

4. Das hegemoniale Opfer

5. Zurück zur Ausgangsfrage nach Imperium oder Imperialismus

Neuntes Kapitel - Hegemoniekämpfe im eigenen Land

1. Erwartungen vs. Aufgaben: Obamas Zwickmühle

2. Die blockierte Einlösung der Wahlversprechen

3. Die wirtschaftliche Hauptaufgabe

4. Obama vs. Tea Party – ein Präsident, der nicht kämpft, verliert die Hegemonie

5. Dyshegemonie im eigenen Land

6. Obama kämpft

Zehntes Kapitel - Chimerika – das amerikanisch-chinesische Paradox

1. Chinas Großer Widerspruch – Widerspruch im Marxismus

2. Eine Sub-Ökonomie der USA?

3. Die USA erfahren eine zweite Form der Herr-Knecht-Dialektik

4. Rückwirkungen

4.1 Das südkoreanische Beispiel

4.2 Rückwirkung auf die Metropolen

4.3 Rückwirkungen auf China

5. Chimerika in der Krise

Elftes Kapitel - China und die Welt nach Chimerika

1. Weltkapitalistische Perspektiven

2. Chinas Herausforderungen

2.1 Politik

2.2 Ökologisierung

2.3 Ökonomie

3. Die USA in der Finanzprofitfalle

4. Europa unter deutsch-französischer Hegemonie im Neugründungszwang

4.1 Grundwiderspruch der europäischen Konstruktion

4.2 Das Merkozy-Regime

5. Re-Industrialisierung als Sinisierung im Westen

Zwölftes Kapitel - Hightech-Antikapitalismus und Krise der Demokratie

1. Virtuelle Vergesellschaftung übers Handy

2. Die Rebellion, die aus dem Netzwerk kam

3. »Fuckyouwashington« als Vorspiel

4. Besetzt die Wallstreets der Welt!

5. Krise des »demokratischen Kapitalismus«

6. Grenzen des Kapitalismus

7. Exkurs über den globalen Gesamtarbeiter und die Welt-Arbeiterklasse

8. Ist die geschichtliche Produktivität des Kapitalismus erschöpft?

Nachwort in Erwartung geschichtlicher Diskontinuität

Anhang

Drucknachweise

Siglen

Literaturverzeichnis

Namensregister

Weitere Schriften von W. F. Haug

Einleitung
Einleitung
1. Worum es geht

Nie zuvor in der neueren Geschichte fiel eine Rezession mit so immensen geopolitischen Veränderungen zusammen.

Javier Solana(2012)

Den transnationalen Hightech-Kapitalismus hat seine Große Krise1 im gleichen Alter ereilt wie achtzig Jahre zuvor den Fordismus die seine. Und wie damals dieser hat er seine Potenziale noch nicht ausgereizt. Eher als das von manchen vermutete Endspiel des Kapitalismus stehen die Weiterbildung seiner Ordnungsmuster im Weltmaßstab und seine innergesellschaftliche Einbettung an. Noch ist nicht gesagt, ob und wie diese krisengetriebene geschichtliche Agenda mit Erfolg abgearbeitet werden wird. In den Jahren nach 1929 gebar die Große Depression in Deutschland die Ungeheuer des Nazismus, der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkriegs. In den USA verhinderte der New Deal »allenfalls politische und soziale Aufstände […]. Niemand bekam in den 1930er Jahren die Krise wirklich in den Griff.« (Hobsbawm 2009) Erst aus der mit Schulden finanzierten Kriegswirtschaft, dem Sieg der Alliierten sowie in den vom Krieg hinterlassenen Trümmern und in der antagonistischen Ordnung des Kalten Krieges konnten die knapp drei ›goldenen Jahrzehnte‹ des Fordismus mit seinem Sozialstaatskompromiss hervorgehen – parallel, bei allen Unterschieden, im Westen und Osten des geteilten Europa.

1 Unter »Großer« im Unterschied zu »konjunktureller Krise« verstehe ich mit Elmar Altvater eine »strukturelle« oder »Formkrise« (1983, 94), die als solche nie nur eine ökonomische, sondern immer auch eine gesellschaftliche Krise ist und die Formen stört, »in denen sich Hegemonie reproduziert« (97). Sie leitet einen umfassenden Restrukturierungsprozess ein, der »alle gesellschaftlichen Bereiche, das Insgesamt von Politik und Ökonomie und infolgedessen die Strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung« betrifft (ebd.).

Wir können nicht wissen, was aus der neuen Großen Krise folgt. Aber wir können Triebkräfte, Strukturen, Bewegungsformen und Tendenzen der computerbasierten Produktionsweise und der von ihr in den Veränderungssog gezogenen Staatenwelt studieren.

Unsere Benennung dieser Produktionsweise als transnationaler Hightech-Kapitalismus zieht zwei Einwände auf sich. Der erste bezieht sich auf den Begriff des Transnationalen. Ist nicht der Nationalstaat nach wie vor ein durch nichts ersetzbarer Akteur? Und sind nicht die tonangebenden Konzerne, auch wenn trans­national aktiv, nach wie vor primär national verankert, und haben sie nicht in ›ihrem‹ Staat – in Europa allenfalls der EU – die Instanz, die ihnen im Zweifelsfall national oder auch gegenüber anderen Staaten beispringt? Überdies scheint die Globalisierung ins Stocken gekommen und die Entwicklung auf Regionalisierung oder auch »Kontinentalisierung« (Zinn) in einer multizentrischen Welt zuzulaufen. Das hat alles seine Richtigkeit. Dennoch ist »ein kohärenter Zusammenhang von Produktion, Verteilung und Konsumtion auf nationaler Ebene weniger denn je gegeben«, und vieles deutet darauf hin, dass man »im Grunde […] von einem globalen Akkumulationsregime sprechen« muss (Sablowski 2009, 118). Freilich kann dieses an Dichte und Standardisierung dem noch nationalstaatlich geprägten Regime des Fordismus nicht gleichen. Unzweifelhaft aber ist die nationale Ebene für den Einsatz der Produktivkräfte und mehr noch für die epochal dominanten Kapitale zu eng, und die Weltmarkt­akteure zögern nicht, andere Standorte gegen ihren angestammten auszuspielen.2 Der Begriff des Transnationalen ist bescheidener als der des globalen Regimes. Er ist offen dafür, die globale Ordnung als unfertig und nur partiell umfassend und innerhalb ihrer die Verschachtelung relativ selbständiger, ja sogar in gewissen Grenzen rivalisierender Regime zu denken.

2 Die drei großen US-Hightech-Konzerne Apple, Google und Microsoft fakturieren ihre außerhalb der USA anfallenden Umsätze (mehr als zwei Drittel ihres Gesamtumsatzes) in Ländern wie Puerto Rico, Singapur und Irland, wodurch sie ihrem Stammland den Löwenanteil der dort fälligen Gewinnsteuer entziehen. Entsprechend Inditex, einer der wenigen der mitten in der Krise weltweit erfolgreichen Konzerne Spaniens, der in Irland fakturieren lässt. Es bedurfte eines nationalen Skandals, um Inditex dazu zu bringen, wenigstens die innerspanischen Umsätze im Inland zu fakturieren und damit auch zu versteuern. Auch den Regulierungen ­pflegen die Weltmarktakteure auszuweichen. So 2012 der BASF-Konzern, der auf das EU-Verbot von Freilandversuchen mit gen-veränderten Pflanzen kurzerhand mit der Verlagerung seines damit befassten Betriebsteils in die USA antwortete.

Ein zweiter Einwand hakt beim Begriff der Hochtechnologie ein mit dem bereits im ersten Buch (HTK I, 12f) erörterten Argument, die Höhe einer Technologie sei etwas Relatives. In der Tat mag einer künftigen Epoche das Niveau unseres technischen Arsenals und seiner Anwendungen einmal niedrig vorkommen. Auf medizinischem, generell biotechnischem Gebiet etwa hat die hochtechnologische Zukunft erst begonnen. So unbestreitbar das ist, muss es uns nicht daran hindern, die aus dem Sprachgebrauch der Gegenwart aufgegriffene Hightech- oder Hochtechnologie-Kategorie zum Begriff auszuarbeiten.3 Denn die Informationstechnologie hat einen qualitativen Niveausprung der Produktivkräfte ausgelöst, dessen Reichweite und verändernde Wirkung auf Basis, Überbau und Lebenswelt der Gesellschaften noch kaum absehbar sind. So wenig Marx sich den Computer vorzustellen vermochte, so wenig können wir Heutigen uns schon einen weiteren Produktivkraftsprung vorstellen, der die Entwicklung über das in der Breite und Vielfalt seiner künftigen Anwendungen und Umwälzungsfolgen noch unauslotbare Prinzip der mikroelektronisch gestützten und informationstechnisch erschlossenen Produktivkräfte hinausheben könnte.

3 Die im Vergleich zu Buch I veränderte Schreibung (statt ursprünglich »High-Tech« nun »Hightech«) trägt der zwischenzeitlichen Einbürgerung des Ausdrucks und seiner Schreibung in einem Wort Rechnung. So findet er sich nicht nur in Wikipedia, sondern auch auf der Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Fortschritt, wo die Bundesregierung erklärt, Ziel ihrer »Hightech-Strategie« sei es, »Deutschland zum Vorreiter bei der Lösung globaler Herausforderungen zu machen« <www.hightech-strategie.de/de/81.php>. »Vorreiter« steht für die Fähigkeit, die Konkurrenz der anderen Länder zu schlagen.

Wie in der Produktion die Arbeitsmittel in Wechselwirkung mit den Produktionsverhältnissen Epoche machen, so in der Geschichte der zwischennationalen politisch-ökonomischen Beziehungen die organisatorisch-kommunikativen Techniken und Apparate in Wechselwirkung mit den militärischen und politisch-kulturellen Kräfteverhältnissen. Die »informatischen ›Metamaschinen‹, die wir Computer nennen und die zur revolutionären Allgemeinmaschine geworden sind« (KV II, 169), haben nicht nur die Welt der Produktion, sondern auch den Weltmarkt, seine kapitalistischen Akteure, Verkehrsformen und Ordnungselemente umgepflügt. Die mit diesen Entwicklungen einhergehende tektonische Verschiebung der globalen Konkurrenz- und Kräfteverhältnisse wird nicht zuletzt mit technologischen Innovationen ausgefochten. Die Fragen von Hegemonie und Herrschaft, von Imperialismus oder Imperium stellen sich seither neu. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit den hochtechnologisch basierten Bewegungsformen der Krise befassen, um uns dann den Veränderungen der inneren und äußeren Hegemonieverhältnisse der USA, sodann den Formen und Folgen des chinesischen Aufstiegs und schließlich der europäischen Krisendynamik zuzuwenden.

Ungeachtet dieser Abfolge geht es uns gerade um den Zusammenhang der Geschehensebenen. Da hierfür jenes Zusammenhangsdenken benötigt wird, das Theorie genannt wird, beschäftigen uns auf dem Weg durch die Ereignisfolgen immer auch die im Umlauf befindlichen und auf diese Realebene sich beziehenden Analysen und ihre theoretischen Konzepte. Wenn im ersten Teil geläufige Diagnosen wie »Finanzialisierung« oder »finanz(markt)getriebener Kapitalismus« auf den Prüfstand rücken, so im zweiten Teil der gramscianische Hegemoniebegriff in seinem Verhältnis zu Theorien imperialistischer vs. imperialer Herrschaft, wobei die Konkretisierung und Weiterbildung der damit zusammenhängenden Begrifflichkeit am Material eine der durchgängigen Linien bildet.

2. Was hat sich seit dem ersten Buch verändert?

Wenn in Zeiten weltgeschichtlicher Umwälzungen zu einem Gegenwartsthema im Abstand von einem knappen Jahrzehnt ein zweiter Band erscheint, ist ein Blick auf seither eingetretene Veränderungen fällig. Die Verschiebungen in den politisch-ökonomischen Weltverhältnissen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind kaum weniger dramatisch als die 1989 vom Fall der Berliner Mauer besiegelten. Dieser Einschnitt schloss die erste Phase des aufsteigenden Hightech-Kapitalismus ab und leitete die Epoche der beschleunigten kapitalistischen Globalisierung ein, deren virtuelle Infrastruktur in den 1990er Jahren erdumspannend zusammenschoss. In Gestalt des Internet dient sie seither nicht nur der Wirtschaft und den Staaten, sondern begleitet den Alltag von Milliarden von Menschen.

Indem das Ausscheiden des staatssozialistischen Systemkonkurrenten die USA als einzige Supermacht übrig ließ, schuf es die Voraussetzung des Projekts eines »American Century«, für dessen militärisch akute Phase die Terrorakte vom 11. September 2001 das Signal gaben. Inzwischen ist die daraus hervorgegangene Politik des Griffs nach »Herrschaft ohne Hegemonie« unter George W. Bush gescheitert und hat einer Rückkehr zu einer Politik multilateraler Aushandlung Platz gemacht. Der Zusammenbruch des Finanzmarkts, der das militärische Fiasko der USA im Irak und in Afghanistan überlagerte, trieb die Verschiebungen unerbittlich voran. Der »Konsument letzter Instanz« laborierte am Rande zur Zahlungsunfähigkeit, und das noch immer mit großem Abstand mächtigste Land der Welt, dessen Präsidenten seit dem Zusammenbruch des Systemantagonisten immer zugleich eine informelle Weltpräsidentschaft zufällt, rang kraft der Obstruktionspolitik des republikanischen Extremismus mit innenpolitischer Lähmung. Auch die europäische Gemeinschaft taumelte in die von der Rezession unterlegte Hegemoniekrise. Der Widerspruch zwischen transnationaler Vereinheitlichung von Markt und Geld bei nationaler Zersplitterung von Wirtschafts- und Finanzpolitik stellte sie vor die Notwendigkeit eines nachholenden politischen Integrationsschubs bei Strafe des ökonomischen und politischen Auseinanderbrechens. Kaum beeindruckt von der Wirtschaftskrise, entwickelte sich der ostasiatische Wirtschaftsraum zum neuen Gravitationsfeld des Weltkapitalismus, mit China als dem »hauptsächlichen neuen Wachstumszentrum der Weltwirtschaft als solcher« (Gowan 2007, 169).

Explosiv gewachsen seit dem ersten Buch unserer Analysen zur hochtechnologischen Produktionsweise ist weltweit die Rolle der sozialen Netzwerke. Was das Ambient-Marketing nutzt (vgl. KdWÄ, 273f), nutzen auch die politisch Unzufriedenen, vor allem die Angehörigen derjenigen Generationen, denen in ihren besten Jahren der Kapitalismus kaum Perspektiven bietet. Während die Arbeiterbewegung, traditionell die wichtigste Kraft des sozialen Protests, zumindest im Westen noch immer geschwächt ist, nachdem der Umbruch der Produktionsweise und die Globalisierung die Kräfteverhältnisse zu ihren Ungunsten verändert hatten, ist dem Kapitalismus eine nach klassischen Kriterien schwer fassbare Hightech-Rebellion erstanden. Ihr Medium ist das Internet, in dem sich ihre Informations-Guerilleros wie Fische im Wasser bewegen und ihre Scharen sich durch die elektronische Buschtrommel zur Aktion zu rufen gelernt haben.

Emblematisch für eine andere Form netzbasierter Gegenmacht ist die 2006 ans Netz gegangene Enthüllungsplattform Wikileaks. Wenn die gemeinnützig betriebene Wikipedia mit ihrer netzgeborenen Kooperationsform, die auch vom kommerziellen »Crowd Sourcing« genutzt wird, Allgemeinwissen frei zur Verfügung stellt, so verteilt dieser Robin Hood des Netzes geheimen Informationsreichtum der Herrschaftsmächte an die Allgemeinheit. Er tut dies in ständigem Räuber-und-Gendarm-Spiel mit den Internet-Polizeien, die unterm Mantel der Verfolgung von Kinderpornographie und des Schutzes intellektueller Eigentumsrechte der Kontrolle des Netzes zustreben. Die Staatsgeheimnisse, die hier, solange sich im Netz noch Freiräume dafür finden lassen, ans Licht kommen, entstammen dem Archiv jenes verdeckten staatlichen Handelns, das in Walter Benjamin angesichts des Nazismus die Erkenntnis aufblitzen ließ, die »Tradition der Unterdrückten« belehre uns, »dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist« (GS I/2, 697). Die staatliche Nutzung der Informationstechnologie hat mit der digitalen Archivierung der gegenwartsnahen Dokumente, die den Zugang der Staatsmacht ortsunabhängig machte, auch den Einbruch ins Archiv und das Zuspielen der Dokumente an die Medien ins Netz verlagert. Wie die digitale Naturalform der Informationsgüter die Warenform dieser Güter in die Krise stürzte (HTK I, 81ff), so hier ihre Geheimhaltungsform. Als Ende 2010 der US-Geheimdienst den Wikileaks-Zugang blockierte, stellten dessen Unterstützer binnen Tagen Hunderte, ja Tausende Spiegelserver auf die Beine, wo US-Verschluss-Sachen offengelegt waren.

Die Geheimhaltungskrise der US-Diplomatie erschütterte Hegemonieverhältnisse weltweit. Vor allem (aber nicht nur) in den mit diktatorischer Gewalt von Kleptokratien regierten Klientenstaaten des Westens fügte sie der objektiven Schande das Bewusstsein der Schande hinzu. Jetzt genügte ein letzter Übergriff, um das Maß des von den Bevölkerungen Ertragenen voll zu machen und den Protest auszulösen, der die Situation zum Kippen brachte. In der arabischen Welt war es der Selbstverbrennungstod des 26jährigen Tunesiers Mohamed Bouazizi, der sich und seine Angehörigen als Gemüsehändler mit einem fahrbaren Stand durchzubringen versuchte und dem die Polizei dieses sein Subsistenzmittel genommen hatte. »Seine Tat war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat.« (Ibrahim ­al-Koni)4 Im zivilen Aufstand für Demokratie, Rechtstaat und soziale Gerechtigkeit erwuchs dem Dschihadismus, den die USA einst gegen die Sowjetunion hochgerüstet und nach deren Verschwinden zum neuen Weltfeind Nr. 1 erklärt hatten, eine kraftvolle Konkurrenz. Der Selbstmordrebell entkleidete den Selbstmordattentäter des reaktionären Antiimperialismus seiner Aura. Die sozialen Netzwerke machten den Anfang, und das Satellitenfernsehen ermöglichte vollends, dass »die Bevölkerungen der gesamten [arabischen] Region ›virtuell‹ am ägyptischen Aufstand teilnahmen: alle waren sie auf Kairos Tahrir-Platz«, und wenn die Repression die TV-Kameras außer Funktion setzte, traten die Handy-Kameras ungezählter Demonstranten an ihre Stelle, deren Bildmaterial über YouTube an die Weltöffentlichkeit ging; so hingen markante Züge dieser revolutionären Demokratiebewegung »direkt mit der globalen informatischen Revolution zusammen« (Achcar 2012). Der so aufgestoßene neue öffentliche Raum sah »die fluchbeladene Dreiheit der arabischen Politik (Klasse, Geschlecht, Religion)« auf dem Rückzug (Gómez García 2011, 648). Die Fronten des Weltkrieges gegen den islamistischen Terror begannen zu veralten, wie die der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts veraltet waren.

4 Tagesspiegel, 1.3.2011.

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