Kitabı oku: «Der Scheich», sayfa 2

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Nun ist aber auch den gewöhnlich gut informierten Menschen am Golf bewusst, dass Verschwindenlassen und Inhaftierung ohne Anklage im Rechtssystem der freien Welt nicht zulässig sind. Und an dieser Stelle droht die größte Gefahr, denn jetzt greift unweigerlich der Mechanismus einer Scham-und-Schuld-Kultur. Da man in ihr kaum selbst schuld sein und nicht zugeben kann, dass Kerker ohne Anklage ein Verstoß gegen die Menschenrechte ist, und man von der Kanzel oft genug gehört hat, dass den kuffar, den »Ungläubigen«, ohnehin nichts Besseres geschehen könne, lässt man den Corpus delicti verschwinden. Habeas corpus? Exit corpus! Dieses Schicksal erleiden immer wieder Frauen, die in den Emiraten vergewaltigt werden und diese Tat anzeigen. Sie werden dafür inhaftiert oder unschädlich gemacht, indem man sie verschwinden lässt, damit den Männern die ungeheure Last genommen wird, sich schuldig zu bekennen.14

Und in dieser verhängnisvollen Klemme sitzen auch die verschwundenen Prinzen. Ihr Vergehen heißt in der Scharia fitna und meint Unruhe, Chaos, sozialen Unfrieden stiften. Im Westen schwerlich ein Straftatbestand, im obrigkeitsorientierten Islam ein Kapitalverbrechen und von Mohammed, der es nicht mochte, wenn man ihm widersprach, eigentlich als das höchste aller Vergehen eingeordnet. Salman Rushdi, der Verfasser der »Satanischen Verse«, und Kurt Westergaard, der Zeichner der Mohammed-Karikatur, das sind zwei schwere Fälle von fitna. In einem islamischen Staat hat der Herrscher den göttlichen Auftrag, für Harmonie und Frieden zu sorgen. Wer dem zuwiderhandelt, muss aus der Gemeinschaft entfernt werden. Das widerfuhr den aufmüpfigen Prinzen, das kann aber vor der Welt nicht verhandelt werden. Dass fitna in den eigenen Reihen auf tritt und dass der Herrscher sich deswegen gezwungen sieht, Familienmitglieder zu kidnappen: Schande über Schande auf der einen, nicht kommunizierbare Scham auf der anderen Seite. Exeunt regis filii.

Über die Privilegien der Prinzen und Scheichs wird noch ausführlicher zu sprechen sein. Wir werden aber auch weiterhin und angeregt durch die zuletzt angerissenen Fälle die These verfolgen, dass die Prinzen, sprich Scheichs, hervorragend als Phänotypen ihrer Epoche und ihrer Kultur taugen. Denn an ihnen wird exerziert, was jedem anderen zustoßen kann. Spurlos verschwinden z. B. Und sie tun Dinge, die für ihre Zeit- und Altersgenossen ebenfalls höchst charakteristisch sind oder von diesen sehr gerne getan würden: im Exzess leben, aber auch Widerstand leisten. Oder – und auch davon wird zu sprechen sein – Vorrechte zum eigenen Vorteil missbrauchen.

Wenn die saudischen Prinzen entführt und weggesperrt wurden, dann lässt sich das als Symbol einer Entwicklung zur totalen Überwachung und Repression lesen. Die Geheimpolizei Mabahith schien den Wüstenstaat immer schon stasimäßig im Griff zu haben, aber in Reaktion auf den Arabischen Frühling hat man doch eine neue »Sicherheitsarchitektur« erarbeitet, die in jeder Hinsicht state of the art ist. Gemeint sind die Künste der Überwachung, Kriminalisierung, Folterung und Bestrafung. Die Saudis hatten seit den neunziger Jahren für ein staatenübergreifendes Überwachungssystem der Ölmonarchien geworben, was die anderen Golfstaaten aber abgelehnt haben, weil sie darin einen weiteren Machtgewinn Riads voraussahen. Nach 2011 wurden diese Widerstände aufgegeben.15 »Big Brother« wacht nun über die ganze Region, und die Taktik der Null-Toleranz ist Standard. Die 500 000 Mitarbeiter des saudi-arabischen Innenministeriums, davon etwa ein Drittel für die innere Sicherheit zuständig, wollen beschäftigt werden. 2014 trat ein Anti-Terrorismus-Gesetz in Kraft, das die Reichweite des Tatbestands Terror weit in die Sphäre der fitna ausdehnt und damit fern von Gewaltverbrechen ansiedelt.16 Es reicht, Paragraph 8 zu zitieren, der des Terrorismus für schuldig befindet, wer »versucht das Gewebe des sozialen Zusammenhalts zu erschüttern oder zu Sit-ins, Protesten, Versammlungen oder Gruppenstatements gleichwelcher Art aufruft, an ihnen teilnimmt oder sie fördert oder die Einheit und Stabilität des Königtums durch irgendwelche Akte verletzt«. Wer solche Taten im Ausland begeht, macht sich gleichfalls schuldig. Das würde also für die königsuntreuen und politisch andersdenkenden Prinzen gelten. Wir wollen diese hier nicht zu Opfern des Widerstands stilisieren. Es ging hier lediglich darum, das Argument zu stärken, dass sich am Umgang mit den Prinzen sehr charakteristische Entwicklungen ablesen lassen.

2016 wurde zum ersten Mal seit 1975 wieder ein Prinz enthauptet. Turki bin Saud al-Kabir Al Saud, der vierte auf unserer Liste, hatte nicht wie sein Vorgänger den König ermordet, sondern »nur« einen Freund im Streit erschossen. Sein Fall erregte wie auch das Verschwinden seiner drei Prinzenkollegen kein großes Aufsehen. Ganz anders die Hinrichtung der 19-jährigen Prinzessin Mishaal bint Fahd bin Mohammed Al Saud im Jahr 1977. Zwangsverheiratet mit einem älteren Cousin, hatte sie eine Beziehung mit einem Diplomatensohn angefangen. Sie wurde erschossen, ihr Geliebter enthauptet – nach ihr und neben ihr, auf einem Parkplatz in Dschidda, nicht auf der offiziellen Richtstätte, dem sogenannten Chop-Chop-Platz in Riad. Die Angelegenheit wurde offenbar in aller Eile, ohne Gerichtsverfahren und von einem Stümper als Scharfrichter geregelt – die These, dass eine Stammesfehde ausgetragen und nicht nur das Paar bestraft werden sollte, hat viel für sich.

Auch die zweifache Entführung von Prinz Sultan darf man in den Kontext interfamiliärer Machtspiele und Rachefeldzüge einordnen: Unter den hochprivilegierten »Sudairi-Sieben« war sein Vater Turki der Geächtete, das übliche schwarze Schaf, das es etwa 2010 gewagt hatte, seiner Familie und der regierenden Klasse zu empfehlen: »The only door open is now the exit door of no return. Let us go before it closes.«17 (Das Statement wurde widerrufen. Der Prinz kehrte nach Riad aus dem Exil zurück.)

Mit dem Gemetzel am 15. Juli 1977 war der Fall der Prinzessin Mishaal nicht zu Ende. Das darauf aufbauende Dokudrama »Death of a Princess«, das die BBC in England und PBS in den USA 1980 ausstrahlten, hatte die Ausweisung des britischen Botschafters und die Rückholung von 400 saudischen Royals aus England zur Folge, die, so alt wie die hingerichtete Prinzessin, an englischen Universitäten und Militärakademien studierten. Mobil Oil versuchte die Ausstrahlung des Films auf PBS zu verhindern und prangerte in einer ganzseitigen Anzeige in der »New York Times« die geschäftsschädigende Wirkung des Streifens an. Des Prinzen Turki Enthauptung im Jahr 2016 hatte auch einen Sinn über die Sühnung seines Verbrechens hinaus. Wurde an der Prinzessin vermutlich eine Art von stammesinterner Blutrache verübt, so ermöglichte das Todesurteil für Prinz Turki dem neu an die Macht gekommenen König Salman, seiner Familie gegenüber die harte Linie zu signalisieren und gleichzeitig nach außen den Anschein eines überparteilich gerechten Monarchen zu erwecken.

Man trifft auf Islamversteher, welche die Exekutionen überhaupt nur als Zeichen gedeutet wissen wollen, als Warnung an die einheimischen Eliten, die sich dem Westen anzunähern versuchen und dann erfahren, wie tief der Westen den Islam und damit auch sie verachtet, wenn er von diesen Bluttaten hört.18 In der Kirche der Diskurstheoretiker und der Zeichengelehrten ist das die Freisprechung des »Islam«. Es sind allerdings ziemlich viele Zeichen, die da ausgesendet werden. Prinz Turkis Enthauptung am 18. Oktober war die 135. und nicht die letzte Hinrichtung im Jahr 2016.

Halloween in Dschidda

WIKILEAKS hat uns zu treuen Händen eine Datensammlung übergeben, welche die Organisation etwas keck mit »Public Library of US Diplomacy« überschrieben hat. Die »Library« enthält etwa zwei Millionen »cables«, Depeschen der US-amerikanischen Botschaften und Konsulate an das State Department in Washington. Sie reichen von 1973 bis 2010. Die Depeschen aus der Kissinger-Ära waren schon vor 2013 deklassifiziert worden, die späteren wurden durch WikiLeaks 2010 sukzessive freigegeben (Cablegate, Cables Leak) und zusammen mit dem älteren Material in einer großen Datenbank vereinigt. Die Library besteht mehrheitlich aus monatlichen Lageberichten, aus Hintergrundinformationen und Protokollen von Begegnungen auf höchster Ebene.

Man hat das gewaltige Material der Depeschen schnell auf »Stellen«, auf »dirty details« durchgesehen, so wie man einen erotischen Roman überfliegt, und hat im wesentlichen auf beleidigende, abschätzige Beurteilungen von politischen Größen in Ost und West abgehoben oder extreme politische Forderungen der Gegenseiten aufgespießt: »The Saudi King pressed for a U. S. attack on Iran.« Nach diesem ersten Ansturm zählte die »Bibliothek« nur noch wenige Besucher.1 Das ist schade, denn hier findet man ein erstklassiges ethnographisches Material, eine doppelte Fremdwahrnehmung, die in hoch kodifizierter Form abbildet, wie die Amerikaner ihre Gastländer sehen und wie die Gastländer die Welt sehen, in Anwesenheit der Amerikaner, versteht sich.

Wir konzentrieren uns hier auf zwei Texte amerikanischer Diplomaten aus und über Saudi-Arabien. 2009 berichtet Generalkonsul Martin A. Quinn aus Dschidda über das nächtliche Treiben der Jeunesse dorée. Er schreibt ein wenig wie ein Puritaner – oder wie ein Mitglied der saudischen Religionspolizei, der »Behörde für die Verbreitung von Tugendhaftigkeit und Verhinderung von Lastern«: »The full range of worldly temptations and vices are available – alcohol, drugs, sex – but strictly behind closed doors. This freedom to indulge carnal pursuits is possible merely because the religious police keep their distance when parties include the presence or patronage of a Saudi royal and his circle of loyal attendants.«

Vielleicht lernt man das in der hohen Schule der Diplomatie, aber Formulierungen wie »wordly temptations and vices« oder »to indulge carnal persuits« überleben eigentlich nur noch in Traktätchen, die einem an der Tür angereicht werden. Doch vielleicht ist das eine Sprache, derer sich Diplomaten zu gegenseitiger Erheiterung bedienen.

Es waren jedenfalls Beamte des Konsulats zu einer Halloween-Party bei Prinz Faisal al-Thunayan eingeladen, der das Ereignis zusammen mit Kizz Me sponserte, einem Energy-Drink-Hersteller der Vereinigten Staaten, der in Saudi-Arabien seine Auslieferung hat. Lassen wir den Lasterkatalog erst einmal beiseite und beobachten wir zusammen mit unseren amerikanischen Fremdenführern, wie das Betragen der Prinzen, diesmal zu Hause, uns zu einigen Essentials der religiösen und politischen Verhältnisse in einem arabischen Land bringt. Beginnen wir beim scheinbar belanglosen Stichwort Halloween. Kaum eine Leserin oder ein Leser im Lande des Unglaubens (bilad al-kufr) wird – so glaube ich – sich klarmachen, welcher Verstoß gegen die Glaubensgrundsätze sich hier anbahnte – und das ist in Dschidda nicht ein Islam, dessen Doktrinen in der Bibliothek nachgelesen werden können, sondern der draußen in Gestalt der Religionspolizei patrouilliert. Der Umgang mit den Festtagen der anderen hat schon die islamischen Geistlichen des Mittelalters umgetrieben. Zu Recht. Feste waren nun einmal Höhepunkte des religiösen Lebens, und sie waren und sind ansteckend. »Wenn man sie [die Ungläubigen] in äußerlichen Dingen nachahmt, besteht die größte Korruption darin, dass im Inneren sich eine Art von Liebe und Nähe einstellt, und diese Liebe und Unterstützung ist gegen den Glauben.«2 So das Handout einer US-Moschee zur größeren Frage der Teilnahme oder Nachahmung heidnischer Festbräuche. Im Ursprungsland solcher Lehren, in Saudi-Arabien, werden die Schülerinnen der 10. Klassen bereits davor gewarnt, einen »Ungläubigen« aus Anlass eines seiner Festtage zu beglückwünschen. Jeder, der dergleichen tue, könnte selbst ungläubig werden oder zumindest »eine große Sünderin«.3

Will man an der berühmten »Mauer der Selbstabgrenzung und des Ressentiments« weiterbauen und am unüberwindbaren Gegensatz von Gläubigen und »Ungläubigen« festhalten, muss man früh und am besten überall ansetzen. So beginnt die Scharia-Polizei schon einmal mit den »äußerlichen Dingen«. Sie kontrolliert vor dem 31. Oktober, ob irgendwo Kostüme angeboten werden. Am Valentinstag ist die Liebesfarbe Rot verboten: »Die Religionspolizei verhindere den Verkauf roter Rosen, roter Plüschteddys, roter Glückwunschkarten und anderer roter Geschenkartikel, berichteten Ladenbesitzer.«4

Halloween aber darf vielleicht als das gefährlichste aller heidnischen Feste gelten, da nicht nur der Nachahmungstrieb angeregt wird, sondern der Inhalt geradezu Anathema ist, nach einem religiösen Bann verlangt. Scheich Idris Palmer, der Verfasser des »Brief Illustrated Guide to Understanding Islam«, hat die Gründe für die Ablehnung klar benannt: »Halloween is a Western celebration originated by Celtic pagans and traditionally applied to the evening of October 31. It is completely based on rituals involving dead spirits and devil worship.«5

Er hat recht: Halloween hat sehr viel mit Spuk, Wahrsagerei und Hexenzauber zu tun. Ein Anathema eben. Die Religionspolizei geht erratisch, aber dann mit um so größerer Wucht gegen Zauberer, Wahrsager und Heiler vor. Nach der vorletzten Kampagne von 2010 kam es zu mindestens drei Hinrichtungen; der ebenfalls zum Tode verurteilte Moderator einer libanesischen Wahrsageshow, Ali Hussain Sibat, wurde auf Druck der libanesischen Regierung und von Menschenrechtsorganisationen wieder freigelassen. Man hatte ihn auf der Pilgerfahrt nach Mekka festgenommen. Die Iraner, und zwar alle, müssen jetzt sehr aufpassen, nachdem 2016 der saudische Großmufti sie zu Söhnen Zarathustras und damit für Magier erklärt hat: Apostasie (ridda) mit Todesfolge wäre das einzig konsequente Urteil (takfir). Das ist eben das große Problem der Haddsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, dass dort Strömungen des Islam einkehren, die z. B. an okkulte Praktiken glauben. Scheich Ahmed Al Ghandi, der Chef der Religionspolizei von Mekka, sagte vor kurzem: »Unser Hauptproblem ist die Zauberei. Es gibt über hundert Teufelsanbeter in dieser Stadt. Sie verfluchen und verwünschen Menschen – und sie verdienen Geld damit. Dieser Gefahr gilt unser größtes Augenmerk.«6

2013/2014 startete in Saudi-Arabien eine weitere Verhaftungswelle mit diesmal 191, zum Teil noch andauernden Gerichtsverfahren,7 und kurze Zeit später nahm der IS den Kampf gegen die Zauberer mit dem Richtschwert, dem »Halsabschneider« (raqban), auf.

Man könnte nun der Frage detaillierter nachgehen, warum der Islam sich vor Zauberei so sehr fürchtet, fast genauso stark wie vor Frauen. Es mag vielleicht reichen, wenn wir darauf verweisen, dass die Überwindung von Magie und Mythos, die Transformation von Aberglauben in Glauben eine Religion zu einer absoluten Religion befördert – allerdings war dieser Stand doch wohl schon im 7. Jahrhundert erreicht. Das Gesagte dürfte aber genügen, um den besonderen »Charme« (von carminare = verzaubern) zu verstehen, den die Veranstaltung und die Teilnahme an einer Halloween-Party im Saudi-Arabien des Jahres 2009 auslöste.

»Eine Sause unter dem ›Schutz der Prinzen‹« –

»Frolic under ›princely protection‹«

Der mit diesen Worten überschriebene konsularische Bericht wendet sich zuerst dem Gastgeber, dem Prinzen, zu. Es gebe mehr als 10 000 Prinzen in Saudi-Arabien, die sich je nach Geburtsfolge und Nähe zur herrschenden Linie der Familie Saud als »Royal Highnesses« (»Saheb al Sumou al Maliki«) und bloße »Highnesses« (»Saheb al Sumou«) unterschieden. Letzteres ist korrekt, die zuvor genannte Zahl ist unsicher: In der Literatur schwanken die Angaben zwischen 7 000, 10 000 und 22 000. Man beachte: Die saudischen Genealogien führen in der Regel die Prinzessinnen nicht mit auf.

Der Gastgeber des Abends war eine »Highness«, die Konsularbeamten haben ihn korrekt im saudischen »Gotha« nachgeschaut: Der Prinz stammt von Thunayan ab, einem Bruder des Mohammed ibn Saud, des Gründers der Dynastie (1725–65), und der war vor sechs Generationen einer der direkten Vorfahren des 2009 regierenden König Abdullah. Die sechs Generationen zurückliegende Abweichung von der Hauptlinie macht aus Prinz Faisal nur einen »zweitrangigen Prinzen der jüngeren Linie«, was aber nicht heißt, dass er auf die Grundausstattung einer standesgemäßen Existenz verzichten müsste: Haus, Luxuswagen, lebenslange Zuwendungen und Leibwache seien garantiert. An dieser Stelle setzt der Berichterstatter eine anscheinend nebensächliche Information in Klammern: Es sei üblich, dass die saudischen Prinzen von Kindestagen an mit Leibwächtern aus Nigeria aufwüchsen, mit Männern, die sie bis ins Erwachsenenalter begleiteten und mit denen sie eine familiäre Bindung eingingen. Khawi sei die Bezeichnung, was sowohl bester Freund, Bruder als auch Leibwächter bedeute.

Die amerikanischen Konsularbeamten wenden sich dem Party-Geschehen zu, an dem etwa 150 junge Frauen und Männer teilnehmen. Sie registrieren nicht das Faktum, dass solches Zusammenfeiern der Geschlechter nicht erlaubt ist, ganz bestimmt nicht im Partydress, den wir hier voraussetzen. Ein Jahr nach dem Ereignis hatte der auf die 90 zugehende Scheich Abdul-Rahman Al Barrak noch einmal das alte Verbot der »Vermischung der Geschlechter« in einer Fatwa erneuert. Wer an solcher Promiskuität teilhabe, falle vom Islam ab: »Entweder er lässt es, oder er muss getötet werden.« Das »er« wirft die Frage auf, ob auch Prinzessinnen an solchen Partys teilnehmen oder gar selbst solche gestalten. Darüber erfahren wir nichts. Eine solche Verfehlung würde die Sünden der Prinzen bei weitem übersteigen, denn die Familienehre definiert sich im Islam über das Verhalten der Frauen und Töchter, das Verhalten vor allem in sexueller Hinsicht.

Die Officers notieren statt dessen, dass verbotener Alkohol reichlich fließe, dass rings um die Bar Top-Marken aufgestellt seien, dass aber vermutet werde, die Flaschen seien längst mit dem einheimischen Fusel sadiqi (pro Flasche 50 Dollar) und nicht mit Marken-Whisky (pro Flasche 500 Dollar) aufgefüllt worden. Die Beamten lassen sich weiterhin sagen, dass viele der anwesenden Frauen keine geladenen Gäste, sondern »working girls«, also Prostituierte seien, dass es sehr oft zu Drogenkonsum komme und dass Partys dieser Art mittlerweile in vielen Häusern der Reichen und der Prinzen statt-fänden – dies sei eine Folge der zunehmend restriktiveren Innen- und Religionspolitik: Der private Partykeller sei die Antwort auf den Fundamentalismus. So summiert Konsul Quinn die Berichte seiner Kundschafter mit den Worten: »Elite party like the rest of the world, just underground.« (Man beachte bitte die anti-orientalistische Note; der Konsul verbietet sich am Schluss jedes selbstzufriedene Urteil über »typisch orientalische Ausschweifungen«. Edward L. Saids »Orientalism« gehörte vielleicht schon zur Basisausrüstung der Nahost-Diplomaten.)

Das Kizz-Me-System des Neuen Materialismus im Kill-Me-System des orthodoxen Islam

Mit Blick auf das nächtliche Treiben in Dschidda verbietet es sich, zu Konzepten wie »Gegenkultur« oder »Alternativer Islam« oder »Ambiguität des Islam« zu greifen. Der Gelehrten-Islam hat immer schon ein großes Betätigungsfeld in der Sichtung und Verwerfung der Volksüberlieferungen und Brauchtümer gefunden. Richtig ist: Es gab Zeiten und Gegenden des Islam, da war das Zusammentreffen von »Wein, Weib und Gesang« ein hohes Kulturgut, eine »kulturelle Kristallisation« (Arnold Gehlen), und wurde dementsprechend offen gelebt und besungen – und verworfen. Der »Untergrund« von Dschidda ist weder politisch noch kulturell wertvoll, noch »anders islamisch«, er ist ein Statussymbol und ganz dem Faktor Genuss, Geltungsgenuss in Gemeinschaft, hörig (siehe bzw. schmecke Kizz Me) – Genuss und Kitzel muss man wohl sagen. Die Folgen einer solchen Nacht können grundverschieden sein. Beim Modell »Under princely protection« wacht man in seinem weichen Bett mit schwerem Kopf auf und überlegt, was man mit dem angebrochenen Tag anfangen soll. Beim Modell »Hier ist die Religionspolizei« hockt man des Morgens auf dem Betonfußboden einer Zelle mit 40 anderen Häftlingen und wartet vermutlich jahrelang auf sein Urteil.

Alle »Schulen«, die im sunnitischen und wahhabitischen Islam von den Quietisten bis zu den Jihadisten reichen,8 hätten das Treiben am Halloweenstag im Hause des Prinzen Faisal Al Thunayan aufs schärfste verurteilt. Sie hätten eine lange Liste an Gesetzesverstößen aufmachen können und dem Richter vielleicht eine öffentliche Auspeitschung oder eine Kreuzigung empfohlen. Allein der Alkoholgenuss hätte als Verbrechen in der Kategorie hudud acht Peitschenhiebe eingebracht. Kultursoziologisch aber muss man sagen: Die massive Gesetzesüberschreitung erhöht nicht nur den Kitzel, sie lässt nicht nur die Brust der beschützenden Prinzen anschwellen, das Kizz-Me-System verhält sich reziprok zum Kill-Me-System der saudischen Theokratie. Beide sind extrem und stacheln einander an. Wir haben uns einmal das Logo der Marke Kizz Me angeschaut: ein Emoji-Gesicht mit einem zwinkernden Auge, aber auch mit den spitzen Ohren eines Teufels! Ging das in Saudi-Arabien durch oder musste daran gebastelt werden? So wie am Logo von Starbucks, wo die Mermaid als Frau mit zwei Schwänzen ausgetauscht werden musste. Jetzt schwimmt da nur noch ihre von einem Stern bekrönte Krone auf hoher See. Die Wahrheit des Bildes wird die Zeit weisen.

Ein nicht gering einzustufendes Verbrechen waren auf jeden Fall die Heimlichkeit und Unehrlichkeit der jungen Leute. Der Islam gibt sich als eine extrem auf Wahrhaftigkeit (ikhlaas) erpichte Religion und droht dem Doppelleben über und unter dem Grund die höchste Strafe an – Sure 9 in einer neuen gender-korrigierten Übersetzung: »Allah hat den Heuchlern (munafiqun) und Heuchlerinnen und den Ungläubigen das Feuer der Hölle versprochen, ewig darin zu bleiben.« (Sure 9, 68) »Wissen sie denn nicht«, so könnte man im Hinblick auf die Prinzen von Dschidda fragen, »dass Allah ihr Geheimes und ihre vertraulichen Gespräche kennt und dass Allah der Allwisser der verborgenen Dinge ist?« (Sure 9, 78) Ja, der Prinz aus dem Hause Saud, das sich als »Hüter der Heiligen Stätten« legitimiert, kehrt sein verborgenes Tun mit einer gewissen Zeigelust (riyaa) einem »Ungläubigen« gegenüber nach außen – Sünde über Sünde.

Unehrlich sein und Heucheln sind Angriffe auf das zentrale Axiom einer totalen Durchdringungskraft der Religion, die keine Trennung der Sphären privat – öffentlich, profan – sakral, verborgen – offen erlaubt. Und natürlich besteht auch der Anspruch dieser Religion darin, dass der Gläubige ihre Gebote nicht nur äußerlich anerkennt, sondern verinnerlicht, so dass auch das Außen und das Innen des Gläubigen eins sind.

Der Prophet und seine Gefährten hegten einen tiefen Argwohn gegenüber den »Wüstenbeduinen«, die sie für geborene Heuchler hielten. Ist diese DNA im Stamme Saud weiterhin virulent (obwohl nicht-beduinischen Ursprungs)? Aus einem Gespräch mit dem radikalen saudischen Prediger Muhsin Al Awaji überliefert Volker Perthes die folgende Aussage zum Thema »Arrangement zwischen dem Haus der Saud und dem religiösen Establishment«: »Dass die herrschende Familie am konservativen, wahhabitischen Islam festhalte, bedeute nicht, dass sie religiös ist. […] Die großen Prinzen fürchteten sich davor, die religiöse Grundlage ihrer Herrschaft aufzugeben.«9

Dem Kleriker ist sofort zuzustimmen, wozu sonst wenig Anlass besteht. Man schaue sich nur einmal an, wie die Familie Saud zusammen mit hohen Gästen die berühmte tawaf, die siebenmalige Umrundung der Kaaba in Mekka, vollzieht – im YouTube-Film über die Haddsch 2016 sehr gut zu beobachten. Schnell, fast gestresst, auf jeden Fall ohne innere oder äußere Andacht, werden die Runden von den Royals absolviert, bevor sie in Begleitung der Leibwächter wieder in den Untergrund der Umbauung abtauchen. Eine Pflichtübung vor der Öffentlichkeit; man glaube nicht, dass die obligaten Anschlussumrundungen um die Hügel Safa und Marwa auch noch geleistet wurden.

Die regimekritischen Theologen, die 1992 dem König das berühmte »Ratgeber-Memorandum« vorlegten, klagten über die »Weiße Leere«, die zwischen dem vorgetäuschten Islam der Herrscherfamilie und dem wahren Islam auf klaffe. Aber die Al Saud sind nur die ersten Ungläubigen ihrer Kirche. Zur paradoxen Realität des Islam gehören der feste Glaube an ihn als ein normatives System und der gelebte Regelverstoß. Wie die Anhänger Allahs es gegenüber der Orthodoxy an Orthopraxy fehlen lassen, erinnert an den Kommunismus, unter dem Glaube und Nicht-Glaube Brüder waren. Der Islam versucht sich da selbst zu helfen, indem er eine Literatur der Schliche und Kniffe (hiyal) hervorgebracht hat, mit der man z. B. das lästige Zins-Verbot umgehen kann. Die Forschung hat der »Heuchelei« durchaus positive Seiten abgewonnen, denn sie »erlaubt es den Gläubigen, sich zu verhalten, wie sie wollen, und damit die Vorstellung aufrecht zu erhalten, die Gesellschaft als ganze verkörpere weiterhin das Ideal«.10 Privater Regelverstoß rettet und garantiert die Religion als Idee – zwei Ausrufezeichen:!! Doch Gesetzesverstöße setzen immerhin noch Gesetze voraus, sonst könnte man Koran und Scharia auf das Regal kulturgeschichtlich interessanter Texte stellen. Und während dies geschrieben wird, dürften einige hundert Fatwas die Entscheidung zwischen halal und haram, zwischen »erlaubt« und »unerlaubt« getroffen haben. Gerade wird in »Fatwa.online« die Frage geklärt, ob man im Schlafzimmer beten darf, wenn dort auch eine Waschgelegenheit ist. (Ja, man darf!)

So wie wir nach jedem Terrorakt gesagt bekommen, dieser entspreche nicht dem »Geist des Islam«, so ist auch die westliche Forschung entschieden mehr an der idealen Statur des Islam interessiert als an der paradoxen Realität seiner strukturellen Unwahrhaftigkeit – wenn sie nicht gleich vor allem Gegenwärtigen abtaucht in eine Art von Blümchen-Islam à la Annemarie Schimmel oder Shahab Ahmed, der am Islam nichts Normatives findet, sondern ihn ausruft als »the exploration of ambiguity, the celebration of ambivalence, the fascination of contradiction«.11 Nun ist auch dem Autor des viel beachteten Buches »What is Islam?« (2016) die Diskrepanz von öffentlicher Religion und privater Religionsanwendung aufgefallen, aber er hat das Problem gleich theologisch wegerklärt: »the Islamic ideal«, so seine These, sei »embedded in the inherent spatiality of Revelation«.12 Es gebe höchste Wahrheiten, die nur Auserwählten zugänglich seien und nicht kommuniziert werden könnten; für sie stehe das Wort khass, das sowohl »privat« wie »auserwählte Klasse der Wissenden« bedeute, während der Gegenbegriff amm die »einfachen Leute« und »öffentlich« bezeichne. Für die Sphäre der Öffentlichkeit sei die Wahrheit des Glaubens in die »einfachen«(!) Regeln des normativen Islam gegossen worden. Was Ahmed nicht mitdenkt, ist die Konsequenz, dass es dann zwei Reaktionen im Innenraum gibt: die schiere Innerlichkeit einer hohen Religiosität und den privat gelebten Regelverstoß.

Soziale Atomisierung durch segmentäre Raumordnung

Wie Shahab Ahmed glauben auch wir, dass der Islam über eine besondere »Spatialität« verfügt, allerdings wäre das, wenn wir vom Nahen Osten sprechen und in die Sozialgeographie überwechseln, eine »externe«, nicht eine »inhärente«, und die Vermutung wäre zu prüfen, ob Islam und Moderne nur auf Grund dieser ganz speziellen »Spatialität« gemeinsam überleben können.

Weiträumig und großzügig ist diese Raumordnung nicht. Die islamische Welt hatte nie viel übrig für Durchgangsstraßen, Plätze oder sprechende und durchsichtige Fassaden. Heute finden wir die Tendenz zu Abschottung und Verkapselung im erweiterten Modell des Compound wieder, des eingezäunten Lagers, das vielleicht vom Camp in der Wüste, von der Oase, von Kasernen oder von US-amerikanischen gated communities sich herleitet. Immer geht es um Abgrenzung, Schutz und um Zonen eigenen Rechts. In den Emiraten und in Saudi-Arabien leben die Scheichs in kleinen, hoch ummauerten Bezirken, in denen der Scheich und seine Frauen und möglicherweise weitere Familienmitglieder jeweils ihre eigenen Häuser haben. Und so darf man das Wort Underground in bezug auf die Fete von Dschidda nicht zu wörtlich nehmen und an einen katakombenartigen Partykeller denken. Ein kleiner Palastbezirk im Schutz von Mauern und Sicherheitsdienst, den standesgemäßen khawi, den Leibwächtern aus Nigeria, das tut es auch.

Wir könnten jetzt eine große Tour veranstalten und mit Google Maps die Paläste der Mächtigen und Reichen am Golf besuchen. Einer muss reichen, ein besonders spektakulärer Fall: der Palast der königlichen Familie in Dammam (Saudi-Arabien).13 Denken wir einen Moment daran, dass im alten Orient die Paläste im Grunde allen offen standen, dass sie eine Art Bazar zum Handel mit Gunsterweisungen und Ehrerbietungen und ein Barometer des Politischen waren. Wie sich diese offene Struktur nach 1950 änderte, kann man am Palast in Dammam exemplarisch studieren. Es handelt sich um eine zirkuläre Struktur, die wie ein Fort am Rande der Stadt und in der Nähe des Meeres und der Wüste liegt. Es gibt eine Umgangs- und vier Zugangsstraßen und zwei Ringmauern, eine innere und eine äußere. Die Servicebauten liegen zwischen den Mauern, während im Zentrum zwei Paläste aufragen und in beiden Richtungen durch große Vorhöfe vorbereitet werden: zweimal Versailles, aber mit je zwei Vorhöfen. Auf fällig die große Zahl der Nebenbauten, die wie Reihenhäuser aufgestellt und die wie in den kleineren Compounds den Frauen und älteren Kindern gewidmet sind. Die Bauaufgabe Schloss wird einfach vervielfacht – was ein erster Hinweis auf die Figur der »Mehrung« ist, ein Paradigma dieser Kultur, das uns noch ausführlicher beschäftigen wird –, und sie wird wieder in den vom Schloss eigentlich überwundenen Typus der Burg bzw. des Forts zurückgeführt.

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23 aralık 2023
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171 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783866747043
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