Kitabı oku: «Andre Zeiten, andre Drachen»
Andre Zeiten, andre Drachen
Eine Kulturgeschichte der Drachen
Wolfgang Schwerdt
Andre Zeiten, andre Drachen
Eine Kulturgeschichte der Drachen
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN (eBook, epub) 978-3-940621-50-4
Lektorat: Martina Lehnigk
Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:
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Inhalt
Vorbemerkung
Was zum Teufel ist ein Drache?
Marduk der Muttermörder oder der Ursprung des Drachen
Das Geheimnis der alten Schlange
Uranos missratene Kinder
Leviathan, Fafnir und die mittelalterlichen Helden
Die Entdeckung der Welt und die Drachen der Neuzeit
Der Drache im Spannungsfeld von Romantik und Wissenschaft – das lange 19. Jahrhundert
Der Alte Drache in der modernen Welt
Was zum Teufel ist also ein Drache?
Anhang
Vorbemerkung
Seit wenigstens 5.000 Jahren gehören die Drachen zur Vorstellungswelt der menschlichen Kulturen nahezu überall auf der Erde. Heute erscheint uns vor allem die Fantasywelt in all ihren verschiedenen Ausprägungen als Lebensraum des mythologischen Ungeheuers. Spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg von Harry Potter findet auch wieder in der Breite eine Auseinandersetzung mit dem faszinierenden Fabeltier statt. Drachologie ist der Begriff, unter dem sich die phantastische Drachenforschung versammelt und über Gestalt, Eigenschaften, Züchtung, biologisch-physikalische Grundlagen, Charakter und Herkunft diskutiert und spekuliert. In Harry Potters Welt gibt es für diese Art der Drachenforschung sogar eine Institution: das ›Amt für Drachenforschung und Drachenzähmung im Zaubereiministerium‹.
Ganz so gut organisiert ist die wissenschaftliche Drachenforschung 1 , die Dracologie, nicht. Und der Unterschied liegt nicht nur in der Begrifflichkeit: Die wissenschaftliche Drachenforschung befasst sich mit der Geschichte der menschlichen Kultur, die nicht nur die Kunst, sondern alle Lebensäußerungen menschlicher Gemeinschaften, von der Technologie über Politik und Wirtschaft bis hin zur Philosophie und der gesellschaftlichen Organisation umfasst.
Die Fantasyliteratur mit ihren Drachen ist ein Teil dieser kulturellen Lebensäußerungen, ebenso wie Volks- und Kunstmärchen, Mythologien, Epen, Sagen oder Legenden, Chroniken, politische Pamphlete oder Gesetzestexte. Es sind vor allem die literarischen Ausdrucksformen von Kultur, die uns über die kulturgeschichtliche Existenz des Drachen in allen gesellschaftlichen Bereichen informieren. Je mehr sich aber die Tradierungen von Sagen und Märchen der Gegenwart nähern, desto weniger Informationen liefern sie über konkrete Drachenvorstellungen und -funktionen in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit. Allein die Notwendigkeit eine alte Geschichte sprachlich immer wieder so zu überarbeiten, dass sie von den nachfolgenden Generationen überhaupt verstanden werden kann, bedeutet schon den Verlust eines Teils des kulturgeschichtlichen Hintergrunds des Originals. Und dass bei der Überarbeitung auch gleich die zeitgenössischen Drachenvorstellungen des ›Übersetzers‹ mit einfließen, versteht sich von selbst.
Die Ursprünge der Drachenvorstellungen lassen sich wissenschaftlich in die Frühgeschichte zurückverfolgen. Sie haben sich offensichtlich weltweit in mehreren Zivilisationszentren zunächst unabhängig voneinander entwickelt, von dort aus verbreitet und in unterschiedlichem Maße gegenseitig beeinflusst. Ebenso unterschiedlich wie die Zivilisationen in denen die Drachenvorstellungen entstanden sind, sind auch das Erscheinungsbild und die Charaktereigenschaften des Drachen. Der in seinem Aussehen recht einheitliche ost- und südostasiatische Drache gilt allgemein als freundlicher, glücksbringender Hüter des Universums. Tatsächlich ist sein Wesen jedoch sehr viel komplexer. Nicht zufällig hat Quiguang Zhao, Professor für chinesische Sprache und Literatur, nahezu ein Jahrzehnt recherchieren müssen, um 1992 sein Standardwerk ›A Study of Dragons, East and West‹ zu publizieren, in dem die unterschiedlichen Ideen, die dem asiatischen Drachen zugrunde liegen, analysiert werden. 2
Das folgende Beispiel mag die komplizierten kulturellen und interkulturellen Beziehungen allein des asiatischen Drachen veranschaulichen. Der japanische Drache ist auf den ersten Blick vom Chinesischen kaum zu unterscheiden: Tatsächlich aber verfügt der japanische Drache über maximal vier Klauen pro Bein. Der chinesische Drache besitzt als einziger ostasiatischer Drache fünf Klauen, vorausgesetzt, es handelt sich um einen kaiserlichen Drachen. Nur der kaiserliche chinesische Drache darf mit fünf Klauen dargestellt werden, einem Zeichen des universellen Herrschaftsanspruchs der göttlichen chinesischen Drachenkaiser, das ganz offensichtlich bei den anderen ostasiatischen Kulturen anerkannt wurde.
Der ›westliche‹ Drache, dessen zivilisatorische Ursprünge sich in Mesopotamien und der Kaukasusregion finden, kann von Ort zu Ort recht unterschiedlich aussehen, scheint sich in seinem Wesen jedoch sehr zu ähneln. Aber auch hier sind zahlreiche kulturelle Besonderheiten, Eigenschaften und Charaktere zu finden, wie die griechischen, nordischen oder keltischen Drachenvorstellungen belegen. Und auch innerhalb der einzelnen Regionen gibt es zahlreiche inhaltliche und formale Drachenvariationen, abhängig beispielsweise von Migrationshintergründen oder politischen Beziehungen zwischen den einzelnen Gemeinschaften in einer von uns heute als zusammengehörend wahrgenommenen Kultur. Der Vollständigkeit halber seien hier noch die süd-, mittel- und nordamerikanischen Zivilisationszentren genannt: Zu den bekanntesten Vertretern der vielfältigen und in ihrer Bedeutung noch weitgehend unerkannten Drachenwelt des amerikanischen Doppelkontinents gehört sicherlich die ›gefiederte Schlange‹ der Olmeken.
Allen Drachen gemeinsam ist aber ihre göttliche Abstammung und die zentrale Rolle, die sie in den mythologischen Entstehungsgeschichten der jeweiligen Kulturen spielen.
Eine halbwegs vollständige kulturgeschichtliche Darstellung der Drachen dieser Welt würde mehrere umfangreiche Bücher füllen. Im Rahmen dieser Publikation habe ich mich daher auf den ›westlichen‹ Drachen beschränkt und nur die Hauptstränge dieser Drachenwelten entwickelt. Das bedeutet aber immer noch eine Reise durch 10.000 Jahre Kulturgeschichte Europas und Vorderasiens.
Was zum Teufel ist ein Drache?
Auf den ersten Blick mag diese Frage ein wenig irritieren, denn die Antwort scheint klar: Ein Drache ist, so wissen wir aus Mythen, Legenden und Märchen, ein feuerspeiendes Ungeheuer, das eine besondere Vorliebe für Jungfrauen hat, Schätze bewacht und Landschaften verwüstet. Daraus folgt dann, dass Drachen von Rittern abgeschlachtet werden müssen, um die Menschheit von diesen Ungeheuern zu befreien.
Gewaltig groß sind Drachen. Und sie sehen aus wie Echsen – so glauben wir zu wissen – mit mächtigem Gebiss, fürchterlichen Klauen und giftigem Atem; und nicht zu vergessen, die riesigen Fledermausflügel, die die reptilartigen Wesen durch die Lüfte tragen.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Teufel: In der Offenbarung des Johannes 3 erscheint der vom Himmel gestürzte Satan als mächtiges Tier, das mit der verführerischen ›Alten Schlange‹ beziehungsweise dem ›Alten Drachen‹ des Paradieses gleichgesetzt wird. Und dieses Tier hat nur wenig Ähnlichkeit mit Erscheinung und Konzept der bekannten Märchen- und Sagendrachen. Da geht es um ganz andere Kaliber von machtvollen Mischwesen. In der Johannesoffenbarung 13, 1-2 heißt es: »Ein Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hörnern und sieben Köpfen. Auf seinen Hörnern trug es zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen, die eine Gotteslästerung waren. Das Tier, das ich sah, glich einem Panther; seine Füße waren wie die Tatzen eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen. Und der Drache hatte ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht.«
Schauen wir uns die naturkundlichen Werke aus der Zeit der Aufklärung an, die Tierlexika des 17. und 18. Jahrhunderts beispielsweise, so finden sich dort ausführliche, scheinbar wissenschaftliche Beschreibungen von Drachen als biologische Wesen. Heute stellt unter anderem die Kryptozoologie einen direkten Zusammenhang zwischen den legendären Ungeheuern und den Komodowaranen oder den Sauriern her.
Die auf den ersten Blick so einfache Definition des Drachen, wirft nun bereits die ersten Fragen und auch Zweifel auf. Ist der Drache ein Märchen- und Sagenwesen oder ist er ein Produkt religiöser Vorstellungen? Gab es Drachen jemals wirklich und wie sahen sie tatsächlich aus?
Andre Zeiten, andre Drachen: Der Titel dieses Buches spricht bereits für eine große Wandlungsfähigkeit der Drachenwesen, die die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten. Und je nach den Zeiten und Kulturen, aus denen wir etwas über Drachen erfahren, verkörpert der Drache andere Konzepte und andere Erscheinungsformen. Nur eines ist allen Drachenwesen gemeinsam: der direkte Bezug zur menschlichen Kultur.
Marduk der Muttermörder oder der Ursprung des Drachen
Die Frage nach dem Ursprung des Drachen dokumentiert auch das generelle Bedürfnis des Menschen, Dinge und Phänomene einordnen zu wollen. Bei historischen Themen, das kennt man aus dem Geschichtsunterricht, funktioniert diese Einordnung durch eine möglichst präzise Datierung. Jahreszahlen oder wenigstens die Festlegung eng umrissener und klar voneinander abgrenzbarer Zeiträume machen Geschichte scheinbar verständlich. Große Persönlichkeiten, Herrscher, Feldherren, Philosophen, das sind weitere Fixpunkte für das Geschichtsverständnis der Menschen, die ihre alltägliche Denkweise an ein Leben in arbeitsteiligen, hierarchisch strukturierten Gesellschaften angepasst haben. Und nicht zuletzt scheint es ebenfalls wichtig zu sein, Ursprungsorte auszumachen. Auch die Drachenforschung ist davon nicht frei. Bis heute beginnt nahezu jede Auseinandersetzung mit dem mythologischen Ungeheuer bei Marduk und Tiâmat. Die Keilschriftbelege über diese Urgottheiten, vor allem der sumerisch-babylonische Schöpfungsmythos Enûma elîsch, gelten als erste dokumentierte Erwähnung des Drachen. Das Enûma elîsch, ist eine Art ›amtlich beglaubigte Geburtsurkunde‹ des Drachen – etwas Besseres kann man sich auf den ersten Blick als wissenschaftlicher ›Ursprungsjäger‹ kaum vorstellen. 1849 entdeckte der britische Archäologe Austen Henry Layard den Haupttext des Enûma elîsch. Das Dokument besteht aus sieben mit Keilschrift beschriebenen Tontafeln der königlichen Bibliothek in Ninive, der assyrischen Hauptstadt des 1. vorchristlichen Jahrtausends. Die Wissenschaftler schätzen das Alter des babylonischen Schöpfungsmythos unterschiedlich ein. Fest steht: Er ist irgendwann zwischen 3.000 vor Chr. und 1.100 vor Chr. entstanden. Der zweite Blick zeigt also, dass der Wert dieser ›Geburtsurkunde‹ hinsichtlich des Ursprungs des Drachen zweifelhaft ist. Glücklicherweise haben Archäologie- und Geschichtsverständnis im Laufe der letzten 50 Jahre eine gewaltige Entwicklung vollzogen. Heute dienen Persönlichkeiten, Orte oder Datierungen eher als Matrix, als Koordinatensystem, als Beispiele für eine als vielschichtigen Prozess begriffene Kulturgeschichte. Orte spielen dabei vor allem als Bezugspunkte weiträumiger und langfristiger kulturgeschichtlicher Entwicklungen eine Rolle.
Dennoch landet man bei der Auseinandersetzung mit dem Drachen aus der ›westlichen Perspektive‹ unweigerlich beim sehr gut dokumentierten und untersuchten sumerisch-babylonischen Schöpfungsmythos Enûma elîsch. Das Enûma elîsch steht hier beispielhaft für den in den frühgeschichtlichen vorderasiatischen Kulturen weit verbreiteten Mythos des Drachen- oder Chaoskampfes 4 und handelt vom Aufstieg des babylonischen Stadtgottes Marduk zum unbestrittenen Herrscher über die Götterwelt Mesopotamiens. Damit verbunden ist die Vernichtung des ersten Schöpferpaares: ›Tiâmat› die sie alle gebar‹ und des Apsu, des ›Uranfänglichen‹. Die Erschaffung der Welt durch einen neuen, beinahe allmächtigen Göttertyp und die Erschaffung der Menschen als Diener der Götter bilden schließlich die mythologischen Grundpfeiler einer aus dem Chaos geformten, hierarchischen Ordnung.
So beginnt das Enûma elîsch 5 : Als der Himmel oben noch nicht genannt war, als die Erde unten noch keinen Namen hatte, waren die Wasser von Apsu, dem Uranfang, dem Erzeuger und Tiâmat, der Urmutter, die sie alle gebar, noch miteinander vermischt. Noch konnte man weder Land noch Leben erkennen und es gab noch keine Götter, die man hätte nennen können. Schließlich entstand aus der Vereinigung von Tiâmat und Apsu Leben und der Uranfang (Apsu) und die Urmutter (Tiâmat) schufen sich die Götter zu Kindern.
Aus dem ersten, von den Urgottheiten Tiâmat und Apsu geschaffenen Götterpaar waren inzwischen zahlreiche Nachkommen entstanden. Und schließlich wurde auch der strahlende und ehrgeizige Ea gezeugt. Ea fühlte sich offensichtlich in der noch ungeordneten Göttergesellschaft unterfordert und stachelte seine göttlichen Brüder an, durch unermüdliche Bautätigkeit, Urmutter Tiâmat zu ärgern und ihre Autorität in Frage zu stellen. Schließlich entschieden sich die geplagten Urgottheiten, die Werke ihrer aufsässigen Nachkommen immer wieder zu zerstören, um ihnen die Macht zu nehmen.
Der Konflikt zwischen den Urgottheiten und den ehrgeizigen Göttern schaukelte sich hoch und schließlich hatte der strahlende Ea den uranfänglichen Apsu niedergemacht (möglicherweise auch erschlagen, kastriert oder vergewaltigt). Tiâmat rüstete sich daraufhin zur endgültigen Vernichtung ihrer eigenen Götterkinder.
So gebar die Chaosmutter eine Armee schrecklicher Kreaturen: Riesige Giftschlangen, wütende Drachen, Basilisken, Skorpion- und Fischmenschen und ganze Herden von Meerwiddern war sie in der Lage in die Schlacht zu werfen. Als sich Tiâmat anschickte, ihre aufsässige Brut zu vernichten, da verkroch sich selbst der mächtige Ea vor ihrem Zorn. Es war schließlich Eas Sohn Marduk, der den Kampf mit Tiâmat aufnahm, die inzwischen von einer ursprünglich gestaltlosen Gottheit zu einem Ungeheuer geworden war. Unter Einsatz von Naturgewalten wie Blitzen und Stürmen, aber auch der modernsten babylonischen Waffentechnik, in Form von Bogen und Streitwagen, bezwang Marduk die Urmutter. Nun übernahm Marduk die Schöpferrolle und machte sich auch gleich daran, den Kadaver der nun als Ungeheuer bezeichneten Tiâmat in Erde und Himmel zu teilen. Der gewaltige Gott erschuf Sonne, Mond und Sterne und platzierte sie ordentlich am Himmel. Und aus Blut und Knochen der vernichteten Chaoskreaturen bildete Marduk die Menschen, damit sie den Göttern die Arbeit abnähmen und bestimmte: »Die Pflege der Götter sei ihm (dem Menschen) zur Pflicht. Für immer soll er mit Opfern sie ehren.« 6
Stellt man das Enûma elîsch in Zusammenhang mit den kulturhistorischen Ereignissen dieser Region, so werden diese Geschichten und ihre Figuren erstaunlich greifbar. Auch der Drache gewinnt in diesem Zusammenhang eine natürliche Realität, die die Frage nach einem biologischen oder psychologischen Ursprung des Ungeheuers zumindest für den vorderasiatischen Kulturkreis völlig überflüssig macht.
Wenn im Enûma elîsch von Tiâmat als Verkörperung der Salzfluten und Apsu, der für das Süßwasser steht, die Rede ist, dann beschreiben diese recht treffend die vorbabylonische südmesopotamische Welt der Sumerer im Spannungsfeld zwischen den mächtigen Flüssen Euphrat und Tigris und dem Persischen Golf. Hier waren die fruchtbaren Schwemmlandniederungen, in denen sich die Sumerer im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung niederließen, um schließlich mit Ur, Uruk, Lagasch oder Kisch die ersten städtischen Zivilisationen zu entwickeln. In sumerischer Zeit reichte das Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris weiter als heute in das Landesinnere hinein. Und so spielte das Meer auch als Handelsweg zwischen Städten wie Ur, Uruk, Lagasch oder Kisch und der Indus-Kultur eine große Rolle. Süß- und Salzwasser waren also die natürliche aber auch unberechenbare Lebensgrundlage der frühgeschichtlichen Gesellschaften dieser Region.
Hatten die Menschen Vorderasiens zuvor bereits Jahrtausende als nomadisierende Jäger, Sammler, Viehzüchter oder auch sesshafte Ackerbauern im Einklang mit der Natur gelebt, war mit den städtischen Zivilisationen ein erbitterter Gegensatz zwischen Mensch und Natur entstanden. Leben im Einklang mit der Natur beschreibt eine gesellschaftliche Lebensweise, die sich an den natürlichen Gesetzmäßigkeiten orientiert und sich als Bestandteil des natürlichen Kreislaufs von Werden, Leben und Sterben begreift. Kennzeichnend hierfür sind beispielsweise die Vorstellung von einer beseelten Natur (Animismus) und das mythische, als verwandtschaftlich begriffene Verhältnis von menschlichen Individuen oder Gemeinschaften zu Tieren, Pflanzen oder anderen Teilen der Natur (Totemismus). Diese mythisch-geistige Verbundenheit mit der natürlichen, beseelten Umwelt beinhaltet ebenfalls ein ganz spezifisches Verhältnis zu den Verstorbenen (Ahnenkult). Das 1950 entdeckte und erst seit 1995 systematisch ausgegrabene steinzeitliche Çatal Höyük 7 aus dem 8. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist ein Beispiel für den gesellschaftlich-chaotischen ›Urzustand‹, auf den sich das Enûma elîsch beziehen könnte.
Diese Zeichnung auf einem babylonischen Rollsiegel zeigt den Gott Marduk. Unter seinen Füßen Marduks Attribut, der Drache. Das Wellenmuster, auf dem Gott und Drache ruhen, symbolisiert das Meer, das Element der Urgottheit Tiâmat.
Die Eingriffe in die Natur, die die Entwicklung der städtischen Zivilisationen etwa im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung erforderte, würde man heute wohl als Terraforming bezeichnen. Mit Bewässerungssystemen, Kanalisierungen, gewaltigen Palast-, Tempel- und Festungsbauten und sogar der Umleitung von Flüssen griffen die Menschen bereits im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung massiv in die natürlichen Kreisläufe ein und forderten damit Naturkatastrophen geradezu heraus. 8
Askili Höyük in Zentralanatolien. Eine mit Çatal Höyük vergleichbare Anlage einer steinzeitlichen Siedlung um 8500 bis 7400 vor Chr.
Die Babylonier verstanden die Folgen ihrer massiven Umgestaltung der Natur wie Erosion, Versumpfung, Überschwemmungen oder Dürren als Reaktionen der ursprünglichen Naturgottheiten, die sich mit den Emanzipationsbestrebungen ihrer Schöpfung nicht abfinden wollten.
Gewaltige organisatorische und technologische, also soziokulturelle Entwicklungssprünge haben in der Zeit zwischen dem anatolischen Çatal Höyük im 8., den sumerischen Siedlungen des 4. und dem Babylon zum Ende des 2. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung stattgefunden. Und als der Text des Enûma elîsch irgendwann um das 1. Jahrtausend vor Chr. mit Holzkeilen in die sieben babylonischen Tontafeln gedrückt wurde, lagen die entscheidenden Auseinandersetzungen zwischen menschlicher Kultur und natürlicher Urmutter bereits in ferner Vergangenheit.
Die zivilisatorischen Veränderungen des Zeitraumes, den das Enûma elîsch umfasst, waren auf allen kulturellen Gebieten geradezu revolutionär. In ihrer Komplexität war die Entstehung der städtischen Zivilisationen, der so konsequent und hierarchisch organisierten gesellschaftlichen Strukturen, von den Normalsterblichen kaum zu begreifen. Und so waren aus den Vorfahren nicht nur der Babylonier Götter und Kulturheroen, also mythologische Könige und Halbgötter, geworden, die den Menschen so zentrale Kulturtechniken wie beispielsweise Bewässerungssysteme oder Metallverarbeitung gebracht haben. Die inzwischen kontrollierte aber immer noch unberechenbare Natur war als Verlierer zum Ungeheuer, zum Drachen mutiert. Sie blieb eine ständige Bedrohung der neuen göttlichen Ordnung. Die mythologische Beschreibung der Entstehung der städtischen Zivilisation und der gesellschaftlichen Ordnung war gleichzeitig Legitimation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
Eine solche Legitimation war um so wichtiger, als die ›göttliche Ordnung‹ ständig mit teils völlig anders organisierten Kulturen konfrontiert war. In der vorderasiatischen Region, vom persischen Hochland mit seinen wilden Gebirgen über Mesopotamien, Anatolien und der Levante mit Syrien und Kanaan, wohnten immer verschiedene Kulturen gleichzeitig, die mal gegeneinander, mal miteinander Bündnisse schlossen, mal lediglich nebeneinander existierten. Da waren einerseits die städtischen Zivilisationen und Reiche mit ihren hochorganisierten Gesellschaften, weitreichenden Handelsbeziehungen, ausgeklügelter Bürokratie. Zum anderen durchwanderten noch relativ naturorientierte nomadische und halbnomadische Völkerschaften unterschiedlicher Herkunft wie Semiten oder Indoeuropäer die gesamte Region: Im persischen Sagrosgebirge lebten die gefürchteten Bergstämme, die mit ihrer ›Wildheit und ihren barbarischen Sitten‹ bereits den akkadischen Herrschern so viel Sorge bereitet hatten. Auch die Zeit der ›naturreligiösen‹ Jäger- und Sammlerkulturen war noch nicht völlig vorüber. Und die Menschen in den ländlichen Bereichen der städtischen Herrschaftsgebiete verließen sich lieber auf den vertrauten Kreislauf der Natur als auf städtisch-bürokratische Ordnungsvorstellungen.
Am Ende des städtischen Zivilisationsprozesses stellte nicht mehr in erster Linie die Natur die Existenz der alten Reiche in Frage. Nun bedrohten vor allem die um die Vorherrschaft konkurrierenden Städte und Völker der kulturell so unglaublich dynamischen Großregion zwischen dem heutigen Anatolien und Persien, der Levante und natürlich Ägypten, die göttliche Ordnung des jeweils vorherrschenden himmlischen und weltlichen Kosmos. Der Drache verkörperte nun auch die gegnerischen Mächte und Götter. Er war nicht lediglich ein Bild, Symbol oder Synonym, sondern eine lebendige, greifbare Realität. Vergleichbar ist dies vielleicht mit nur vermeintlich modernen Begriffen wie ›Schurkenstaat‹, ›Achse des Bösen‹ oder ›al-Qaida‹. Diese Begriffe stellen letztendlich als Wirklichkeit verstandene Modelle hochkomplexer politischer, kultureller, militärischer und weltanschaulicher Strukturen dar. Die Modelle sollen gleichzeitig eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem ›Andersartigen‹ verhindern. Gegen einen ›Schurkenstaat‹, der auch dann einer sein kann, wenn er lediglich die Legitimation der kulturellen und materiellen Vorherrschaft einer Großmacht in Frage stellt, lässt sich ohne moralische Hindernisse problemlos sogar ein Vernichtungskrieg führen. Die Verunglimpfung einer anderen Kultur, einer anderen Macht, einer anderen Lebensweise als chaotisches, mächtiges Ungeheuer, setzt diesen Gegner der eigenen Herrschaft, der eigenen Interessen, ungeprüft ins Unrecht. Der Gegner wird entpersonalisiert, entmenschlicht, seiner kulturellen Identität beraubt. Das Töten eines Ungeheuers, eines Drachen ist jederzeit moralisch geradezu zwingend, ist Notwehr. Die Unterdrückung eines fremden Volkes, das Vernichten einer anderen Kultur hingegen verlangt erhebliche Repressions- oder Legitimationsanstrengungen gegenüber dem eigenen Volk. Somit sind die Kontrahenten, der allmächtige, einzige und ordnende Gott, also ›das Gute‹, auf der einen Seite und der Drache, das Ungeheuer, mithin ›das Böse‹ auf der anderen sowie eine damit verbundene Ideologie unverzichtbare Bestandteile von Herrschaft, zumindest in der vorderasiatischen und westlichen Kultur.
Damit die Herrschaftsausübung durch die Trennung in Gut und Böse oder eben Gott und Drache (oder Teufel) funktioniert, müssen diese übermächtigen Wesen als lebendige Wirklichkeit begriffen werden. Als Symbole oder lediglich Metaphern erlangen diese Figuren kaum Macht über die Menschen, sondern regen eher zur geistigen Auseinandersetzung an. Erst als lebendig begriffene, bewusst erfahrene Lebewesen können Gott und Drache ihre kulturelle Wirksamkeit entfalten. Würde man also den Menschen beispielsweise im alten Babylon die heute so beliebte Frage stellen, ob es Drachen wirklich gibt, so wäre die absolut ehrliche Antwort ›selbstverständlich‹. Im Grunde gibt es selbst heute viele Menschen, für die im gleichen Selbstverständnis beispielsweise auch das Böse, der Teufel, ganz real existiert.
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