Kitabı oku: «Die Wunschplatane», sayfa 2
3
Jolanda Kissling Amato wartete vor dem vierstöckigen Schulhaus auf der Eingangstreppe aus altem Granitstein. Ihr scharfer Blick erkannte mich gleich, schon aus dreißig Metern Entfernung kreischte sie vor Freude. Ihre Stimme zitterte beim Vorstellen, sie erwähnte ihren Doppelnamen gleich zweimal. Sie hatte hellgrüne, warme Augen und Falten im breiten Gesicht. Sie war sicher einen Meter achtzig groß und hatte dunkel gefärbte Haare, der orange Pullover mit V-Ausschnitt stand ihr gut. Sie trug einen bläulich gemusterten Schal um den Hals, wahrscheinlich aus Seide. Ich fand, dass die junge Großmutter eine sehr schöne Erscheinung war.
Als Erstes erklärte sie den Grund ihrer Aufregung. Vor einem Jahr sei eine Autorin, die die gleiche Arbeit hätte machen sollen wie ich, genau einen Tag vor Kursbeginn erkrankt. So kurzfristig habe man keinen Ersatz gefunden.
«Das war aber Horror im wahrsten Sinne des Wortes, diese wilden Kids eine Woche lang zu beschäftigen», sagte sie mit einem gezwungenen Lachen.
«In diesem Fall schenken Sie mir die Freude, eine Woche lang mit den wilden Kids zu arbeiten?»
«Nein, nein. Keine Angst, so wild sind sie auch wieder nicht. Sie müssen aber immer beschäftigt sein. Das sage ich Ihnen aus Erfahrung!»
Noch immer auf der Treppe erzählte mir Jolanda Kissling Amato über die Schule, ohne dass ich sie danach gefragt hatte. Ein Kaffee wäre mir lieber gewesen. Die Schule sei eine private, sagte sie, und die Stiftungsräte, fünf Geschwister, zwei Brüder und drei Schwestern, alle Besitzer der Schule, seien Philanthropen, die in Bildung investierten. Sie seien viel mehr Künstler und Mäzene als Geschäftsleute. Die Schule werfe wenig Geld ab, das wisse jeder. Zu sehen bekäme man in der Schule nur einen der Brüder, der sei gesellig, kümmere sich um alles, von der kaputten Glühbirne bis zur Anstellung des Lehrpersonals. Es gebe durchaus Abgänger dieser Schule, die Karriere machten. Eine Frau sei sogar Nachrichtenmoderatorin beim lokalen Fernsehen geworden. Sie flüsterte fast.
«Immer, wenn diese ein Interview in der lokalen Zeitung gibt, bittet uns der Stiftungsrat, den Link den Eltern unserer Schüler zu mailen. Und für uns ist der Zeitpunkt nie günstiger, wenn wir Lohnerhöhungen oder eine Investition wünschten.»
Sie plauderte munter weiter, und um nicht unhöflich zu erscheinen, zeigte ich mich interessiert, wann die Schule gegründet worden und wie alt dieses historische Haus mit den großen Fenstern sei. Ich fragte auch, ob das Haus unter Denkmalschutz stehe. Die Familie habe im Städtchen mehr als achtzig Jahre lang eine Klinik für Psychiatrie geführt, wusste Frau Kissling Amato, diese aber vor rund zwanzig Jahren verkauft und in die Schule investiert, die sie von einer Kirche übernommen und inhaltlich säkularisiert habe. Sie lachte.
«Eigentlich etwas an unsere Zeit angepasst! Wer denkt, dass er die Kids von heute mit der Religion disziplinieren kann, hat den Kampf schon von Beginn an verloren.»
«So ist es», bestätigte ich sie.
Sie fragte trotzdem, ob auch ich das denken würde.
«Ich bin ganz Ihrer Meinung, Frau Kissling!»
Das freute sie nun sichtlich. Aber sie ermahnte mich, sie mit dem Doppelnamen Kissling Amato anzusprechen. Sie habe in einer Zeit geheiratet, als es für kurze Zeit möglich war, den eigenen Namen dem Familiennamen anzuhängen.
Wir gingen endlich hinein und betraten das Lehrerzimmer am Ende des halb dunklen Korridors, der nach Putzmittel roch. Es waren keine Lehrer mehr da. Sie bot mir einen Kaffee im Pappbecher an, obwohl wir inzwischen drei Minuten zu spät waren. Sie wolle mir am nächsten Morgen in der Neunuhrpause alle Lehrerinnen und Lehrer vorstellen.
«Sie erwarten Sie schon sehnlich!»
Frau Kissling Amato begleitete mich in die Klasse im zweiten Stock, sie lief mit energischen Schritten einen Meter vor mir her. Wir hörten schon im Korridor den Lärm der Klasse.
Als wir eintraten, wurde es ruhig. Sie stellte mich der Klasse vor: Sie und ihr Mann hätten mich ausgesucht, weil sie sich über meine Sprache, die ihnen wie ein Mischlingskind einer schwarzen Afrikanerin mit einem strohblonden Schweden vorkäme, freuten. Die Schülerinnen und Schüler lachten über den Vergleich. Sie sei überzeugt, dass man mit mir Freude am Schreiben haben werde, weil sie denke, dass ich gerne schreibe. Sie wandte sich zu mir: «Die einen Schüler können Seiten vollschreiben, die anderen nur knappe SMS.»
Nach nicht einmal drei Minuten verließ sie den Raum abrupt. In der Tür sprach sie, ohne sich zu der Klasse umzudrehen: «Ich wünsche euch kreative Tage. Eure Aufsätze werde ich benoten!»
Ein Raunen ging durch das Zimmer, aber Frau Kissling Amato war bereits weg. Ich stand nun allein vor der Tafel.
4
Die erste Stunde reservierte ich für das Vorstellen. Die vierzehn Mädchen und neun Jungen sollten mir etwas über sich erzählen. Ich begann mit einem in der hintersten Bank, er sagte nur seinen Namen: Georg. Ihm falle nichts mehr ein, sagte er auf meine Nachfrage. Hm, dachte ich.
«Wenn euch nicht mehr einfällt, dann wird diese Woche zur Qual.»
«Zum Glück gibt es unter uns viele Gesprächige», meldete sich ein Mädchen mit langen und gelockten Haaren, die sich als Giovanna vorstellte. Mir gefielen ihre glasklaren, blauen Augen.
Auf meine Frage, ob ihre Eltern aus Italien kämen, antwortete sie, dass sie eine «Pur-Echte von hier» sei, nur der Name sei italienisch, weil sie in den Ferien auf der Insel Elba entstanden sei und die Besitzerin des Hotels, in dem die Eltern übernachtet hatten, Giovanna geheißen habe.
Tatsächlich waren die anderen gesprächiger als dieser Georg. Wenigstens sagten sie ihre vollen Namen. Die meisten erzählten, was sie gerne aßen: Nudeln mit Rahmsauce und danach Eiscreme. Die Mehrheit liebte Dönerbox mit Cocktailsauce. Auf meine Frage, wo sie das essen würden, sagten sie im Chor: «Beim netten Safir.»
Ich fand, dass der Tag doch ganz ordentlich begonnen hatte, und richtete zur Erheiterung aller noch die Frage an die Runde, ob sie eher auf den Vater oder das Smartphone verzichten würden. Zwölf sagten: Lieber auf den Vater verzichten. Nur vier wollten ihren lieben Vater nicht hergeben, der Rest war unentschieden. Auf Mama verzichten wollte nur einer. Giovanna verkündete, sie liebe ihre Mama über alles, auch ihren jüngeren Bruder. Und Pferde, sie habe aber kein eigenes. Von einem Vater erzählte sie nichts, ich fragte auch nicht nach.
Der Nächste stellte sich als Kivo vor. Seine Stimme, die sich mitten im Stimmbruch befand, ratterte wie ein Rasenmäher. Er stand zuhinterst am Fenster. Ich musste mir den Namen wiederholen lassen. Das sei nicht sein richtiger Name, sagte Kivo, er heiße anders, aber ich solle ihn nur Kivo nennen, für ihn seien weder Mutter noch Vater wichtig, er möge Liebemachen über alles.
Ein lautes Lachen ging durch die Klasse, einige schlugen prustend mit der Hand auf das Pult.
«Hast du das schon mal?», fragte sein Nachbar mit den vielen kleinen Pickeln.
Von Kivo kam keine Antwort, aber Giovanna verkündete laut und fast ein wenig aufgeregt, dass sie «tupfgenau» wisse, dass der Angeber Kivo noch nie Liebe gemacht habe.
«Hast du denn schon?», fragte Kivo zurück, der im Gesicht ziemlich rot angelaufen war.
«Hier ist nicht der Ort für so was!», gab Giovanna selbstbewusst zurück.
Ich intervenierte und beendete die Vorstellungsrunde, der Rest solle sich später vorstellen. Sie waren einverstanden. Kivo schaute mich freundlich an. Ich nahm an, dass er mir dankbar war, dass ich ihn aus der schwierigen Situation gerettet hatte, in die er sich selber geritten hatte.
Als nächstes sollten sie eine Geschichte aus ihren Erinnerungen schreiben.
«Dürfen wir auch eine erfinden?», fragte eine Schülerin aus der vordersten Bank.
«Natürlich! Hauptsache, die Geschichte ist poetisch und glaubwürdig», kam Giovanna mir zuvor.
«Halt mal die Klappe», fuhr das Mädchen Giovanna an, «du bist schließlich nicht die Lehrerin.»
«Wie werden Sie herausfinden, ob die Geschichte poetisch und glaubwürdig ist oder nicht?», wollte ein Junge aus der zweiten Reihe von mir wissen.
Ich wusste auch keine genaue Antwort, aber dafür war ich wohl engagiert worden.
«Wir werden eure Geschichten gemeinsam lesen und schauen, ob wir die Poesie darin erkennen. Wenn die Geschichte, die du schreibst, uns eine Atmosphäre vermittelt, in der wir uns wohlfühlen, und uns die Worte, die du dafür gefunden hast, gefallen, dann ist sie für uns schön und poetisch.»
«Dürfen wir auch über Mädchen schreiben?», fragte ein Junge mit spitzem Gesicht im Trikot des FC Barcelona.
«Du kannst über alles schreiben, Mann!», kam Giovanna mir wieder zuvor, «von mir aus auch über Giraffen! Mehr als zwei Sätze kriegst du sowieso nicht aufs Papier. Das weiß ich!»
Die einen lachten laut und schauten den Jungen herausfordernd an. Sie riefen im Chor: «Hopp Michi, hopp Michi!»
«Blöde Geiß!», zischte dieser nur.
«Du bist nicht mal so intelligent wie ein Wurm», erwiderte Giovanna, «wie willst du ein Mädchen beschreiben können?»
«Geißen wie du sind sehr einfach zu beschreiben: Sie sind einfach blöd!» Ich wurde laut, weil ich merkte, dass mir alles zu entgleiten drohte. Ich sagte, dass jetzt eine Stunde Ruhe angesagt sei, damit man sich konzentrieren könne.
Sie wurden tatsächlich ruhig, Frau Kissling Amato hatte sie offenbar gut dressiert. Ich hörte nur noch leises Husten. Am Lehrerpult nahm ich Stift und Papier und schrieb einfach über die Haarlänge der Schüler, die flüsterten und seufzten. Die meisten Jungs hatten lange Haare, ihre blonden Mähnen waren recht strubbelig. Ihre Gesichter verrieten den Übergang vom Kind zum jungen Menschen, ihre Gesichtszüge waren dabei, Konturen anzunehmen. Einige Jungs hatten bereits einen leichten Bartansatz. In diesem Alter war mein größter Wunsch gewesen, in der Kreisstadt zu einem Barbier zu gehen, statt im Dorf mit einem mechanischen Haarschneider, der rupfte, geschoren zu werden. Zudem zogen die Jungs, die zu Barbieren gingen und modische Haarschnitte hatten wie in den amerikanischen Filmen im Fernsehen, die ganze Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich. Schließlich fuhr ich mit einem Nachbarskind zusammen auf der Ladefläche eines Lastwagens in die Kreisstadt, wo der Barbier uns die Haare schnitt gegen je zwanzig Eier, die wir aus dem Dorf mitbrachten.
Giovanna hatte auf ihrem Smartphone den Wecker gestellt, das laute Piepsen schreckte mich auf. Aber nur wenige Schüler hoben den Kopf und schauten zu mir.
Ich fragte in die Runde, wer bereit sei, seinen Text vorzulesen. Nur Giovanna streckte die Hand hoch. Kivo schaute bedeutungsvoll in die Runde und erklärte sich auch bereit. Darauf meldete sich eine Noella, dass sie sich noch nicht sicher sei, ob sie ihren Text vorlesen wolle.
Kivo schien mit Schreiben fertig zu sein, er schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Ich fragte ihn, ob er seine Geschichte vortragen wolle. Als habe er auf diese Aufforderung gewartet, begann er sie vorzutragen, ohne auf das Papier zu schauen.
Die Krähe sitzt auf einem Strommast
Sie beäugt Abfallsäcke.
Pause.
«Das war alles», sagte er, als er merkte, dass wir auf die Fortsetzung warteten.
«Nur das, Kivo?», riefen viele.
Er nickte.
«Er ist halt ein fauler Tubel!», rief Giovanna aus der zweiten Reihe, ohne ihren Kopf zu heben. Sie schrieb noch und verlangte zehn Minuten Verlängerung, sie sei noch nicht fertig. Außerdem habe die Klasse in diesen zehn Minuten still zu sein.
Ich war einverstanden, aber die Klasse war trotzdem laut. Sie protestierten dagegen, dass Giovanna wieder eine Extrawurst wolle. Ich blieb dabei, aber sie hörten mir gar nicht zu.
Giovanna ließ sich vom Lärm nicht beeindrucken. Als sie fertig war, meinten alle, dass sie ihre Geschichte jetzt vorzutragen habe. Sie willigte ein unter der Bedingung, dass alle ruhig zuhörten.
«Nicht einmal Husten ist erlaubt!», rief sie und hustete selber zweimal, um ihre Kehle für das Vorlesen zu reinigen, wie sie sagte.
Kommissar Robert Steiger war in einer Tanzvorführung. Else, seine dritte Frau, hatte mit ihrer Frauengruppe, die sich «Habibas» nannte und in der Region orientalische Tänze aufführte, einen Auftritt am sechzigsten Geburtstag der Freundin Elsbeth, die für die «Habibas» die Website betreute. Klammer auf: Habiba ist ein arabisches Wort, es heißt die Schöne. Klammer zu. Steiger fuhr mit seiner Frau nur deshalb hin, weil Else abends nicht gerne Auto fuhr und Steiger Angst hatte, sie könnte einen Unfall verursachen.
Alle sechs Frauen hatten lange, mit Henna gefärbte Haare und schwenkten die Hüften wie bunte Märchenschlangen, als hätten sie keine Knochen im elastischen Körper. Die rund sechzig Männer und Frauen, fast allesamt ergraut, starrten still auf die Bühne, wie hypnotisiert. Auch Steiger folgte den wiegenden Hüften, er hatte längst vergessen, welche unter den sechs Frauen Else war. Schön und aufregend fand er alle. Er bekam Lust auf eine Zigarette, obwohl er dabei war, sich das Rauchen abzugewöhnen. Er ging hinaus, die arabische Tanzmusik war auch vor dem Kirchgemeindehaus noch zu hören. Steiger ertappte sich dabei, wie er seine Bewegungen den Rhythmen anpasste, als er zu seinem Auto lief. Aus dem Schließfach seines Autos holte er die Zigarettenpackung, sein Handy auf dem Fahrersitz signalisierte verpasste Anrufe.
Steiger zündete sich seine Zigarette an und schaute in die Dunkelheit hinter der Kirche, gedämpft wehte die Musik herüber, und vor seinen Augen tanzten die schwankenden Hüften in den langen, bunten Röcken. Er blies den Rauch aus und langte nach dem Telefon. Er war mehrmals angerufen worden, das letzte Mal vor drei Minuten. Bleuler, sein Chef.
Bleulers quäkte wie eine Gans aus der Combox, ziemlich aufgeregt und außer Atem. Steiger solle sich endlich melden, die Sache sei viel wichtiger als die tanzenden Frauen. Wenn er sich nicht in einer halben Stunde melde, würde er eine Patrouille nach ihm schicken.
«Das ist aber ernst», murmelte Steiger vor sich hin. Er rauchte trotzdem in Ruhe seine Zigarette zu Ende. Er hatte noch vier Jahre bis zur Pensionierung und hatte viele junge, smarte, aufgeregte und karrierehungrige Chefs erlebt. Aber dieser Bleuler schien ja noch viel ehrgeiziger als alle anderen zu sein. Steiger besprühte sich mit Parfum und Mundspray aus dem Schließfach, um den Zigarettenrauch zu verdecken. Er hatte Else versprochen, nicht zu rauchen, auch an diesem Abend nicht.
Im Saal waren die Frauen immer noch am Tanzen, nur die Musik war noch lauter, die Tanzrhythmen schneller geworden. So konnte er Else unmöglich ansprechen. Er sagte dem älteren Mann am Verkaufsstand beim Eingang, er solle Else informieren, dass ihr Mann dienstlich habe gehen müssen, ein Notfall. Else solle bitte mit einer Freundin nach Hause fahren.
«Und welche ist Else?», rief der Mann laut.
Steiger schrie zurück: «Die dort, die ihre Hüften am weitesten schwingt!»
Giovanna schrie beim Lesen selbst so laut, dass die Fensterscheiben fast klirrten.
Der Mann betrachtete aufmerksam die Tanzenden.
«Die Erste von rechts?»
«Genau!»
«Die tanzt aber gut! Wo hat sie das alles gelernt?»
Steiger hatte das Kompliment an seine Frau nicht hören wollen, er hätte dem Alten am liebsten gesagt, dass seine Frau schon immer getanzt habe, während er Tag und Nacht für die Polizei schuftete. Er ließ es aber dabei bewenden und fuhr schnell davon.
In der Straße, in der mehrere Doppelhäuser standen, blinkten die Blaulichter der Polizei und der Ambulanz. Steiger machte die Scheinwerfer aus, noch bevor er am Tatort angekommen war. Chef Bleuler hatte die Polizeijacke angezogen, die Leuchtstreifen am Arm waren vom Weitem erkennbar. Er stand neben einem Mann um die siebzig, einem beleibten Mann in einer zu großen Jacke mit einem Dackel an der Leine.
«Das ist ein Nachbar des getöteten Mannes! Er wohnt in diesem Doppelhaus gegenüber dem Haus, in dem sich die Tat ereignet hat», sagte Bleuler, ohne Steigers Gruß zu erwidern. Bleuler sprach schnell. Herr Isler habe seinen Hund Gassi geführt wie jeden Abend, bevor seine Quizsendung im Fernsehen begann, er stand mit seinem Hund unweit des Tatortes, als er einen sportlichen schwarzen Wagen wegfahren sah, er konnte aber dessen Kennzeichen nicht lesen.
«Leider habe ich nicht mehr so gute Augen», sagte Isler mit rauer Stimme.
«Was ist überhaupt passiert?», fragte Steiger, mit Blick auf das vollbeleuchtete Haus, in dem er seine Kollegen von der Spurensicherung durch die Fenster bei der Arbeit sah.
«Rudolf Götz heißt er, der ist getötet worden», antwortete Bleuler.
«Warum getötet? Wer hat ihn getötet?»
«Wenn ich das wüsste, hätte ich dich nicht aus der Tanzvorführung der kreisenden Hüften rausgeholt.»
Statt seinem Chef zu antworten, schaute Steiger auf die Uhr. Es war gerade neun Uhr geworden.
«Wie ist er getötet worden?»
«Mit einem Fleischmesser in den Herzbereich.»
Wo er wohne, fragte Steiger den Herrn Isler. Dieser wohnte in dem Haus, vor dem sie standen. Isler schien traurig zu sein. Er hatte mit Rudolf Götz täglich einen Schwatz gehalten, Götz war gesprächig, auch hilfsbereit, wenn Isler einen Harass Bier in den Keller zu tragen hatte. Dies allerdings erst, seit er nicht mehr arbeitete.
«Habt ihr früher nicht gesprochen?», fragte Steiger.
«Früher hatte Götz kaum Zeit. Der war ja ein Dauergast in den Zeitungen. In letzter Zeit hat er viel lockerer gewirkt.»
«Warum war er in den Zeitungen?»
«Irgendwie mit seinen Finanzgeschäften. Die Details weiß ich nicht. Sie verstehen, dass mein Gedächtnis in diesem Alter nachgelassen hat.»
Das hilft auch nicht viel, dachte Steiger.
«Worüber haben Sie gesprochen?»
«Über vieles, auch über Politik. Rudolf kannte sich in Finanzfragen gut aus.»
Die Frau von Götz sei vor mehr als einem Jahr in eine Alterssiedlung gezogen, weil sie in ihrem Alter nicht mehr ein Haus mit drei Stockwerken unterhalten könne. Sie sei älter als Götz.
«Wie viel älter als er?», fragte Bleuler.
«Die Frauen würden ja lieber ihre Männer hergeben als ihr Alter verraten.» Isler lachte zuerst selber laut und checkte dann, ob seine Zuhörer auch lachten. Sie lachten tatsächlich. «Sie ist mindestens zehn Jahre älter als Götz.»
Herr Isler sagte, er müsse den Hund spazieren führen, er habe sowieso die Quizsendung verpasst, man könne ja morgen um zehn Uhr mit ihm reden kommen, wenn man Fragen hätte. Er werde nicht davonlaufen.
«Sagen Sie nur noch, ob er Kinder hat», bat Steiger.
«Von Kindern habe ich nie was gehört», antwortete Isler und torkelte seinem Hund nach, der seinen Besitzer hinter sich herzog.
Bleuler und Steiger gingen wortlos, mit gehobenem Kopf in das Haus von Götz. Sein Leichnam lag zugedeckt im Hauseingang, wo er vermutlich auch getötet worden war. Neben ihm lag ein Hut in brauner Farbe auf dem dunklen Steinboden. Steiger hob die Decke und betrachtete sein Gesicht. Der Tote hatte ein volles Gesicht, vor den Nasenlöchern hatten sich Blutstropfen gesammelt, die zu trocknen begannen.
Steiger ließ Bleuler allein und ging wieder hinaus, ohne mit den Kollegen der Spurensicherung, die in ihren weißen Overalls und Masken wie Astronauten aussahen, zu sprechen. Er fuhr zum Altersheim Eintracht, das am Stadtrand auf einem Hügel lag. Nur im Parterre brannte Licht. Steiger parkte sein Auto auf einem Platz, der für die Ambulanz reserviert war. Er lief hinein, der Mann am Empfang gähnte erst, bevor er Steigers Gruß erwiderte. Steiger zeigte seinen Polizeiausweis und sagte, dass er mit Frau Götz sprechen wolle.
Der Portier betrachtete ihn so überrascht, als hätte er ein Ungeheuer vor sich.
«Eine Frau Götz haben wir hier nicht!», sagte er mit slawischem Akzent.
«Doch, es wurde mir vor zehn Minuten von ihrem früheren Nachbarn gesagt, dass sie sich hier befindet.»
«Sie irren sich, Herr Polis. Wir haben hier keine Frau mit diesem Namen!»
In diesem Moment wurde Steiger bewusst, dass er nicht nach dem Namen der Frau von Götz gefragt hatte.
«Ich meine, die Frau vom Herrn Götz!»
«Seit wann werden die Frauen nur noch mit dem Namen ihrer Männer genannt? Wenn Sie den Namen der Frau von Herrn Götz sagen können, kann ich Ihnen sagen, ob sie hier ist oder nicht!»
Das wusste Steiger eben nicht. Er sagte dem Portier, dass er dies in Erfahrung bringen werde und sich wieder melde.
«Sie können ruhig bis morgen warten, keiner unserer Gäste im Haus ist gesundheitlich imstande, in dieser Nachtstunde davonzurennen!»
Steiger fand es unangenehm, von diesem Mann so frech behandelt zu werden. Normalerweise war er immer gut vorbereitet, wenn er zu einer Befragung ging. Vielleicht lag es an der Tanzvorführung.
Mit einer Handbewegung verabschiedete er sich vom Portier.
Giovanna hob den Kopf. Sie sagte, weiter sei sie nicht gekommen.
Ich klatschte laut, und mit mir auch einige in der Klasse. Kivo stand am Fenster und blickte betont gelangweilt hinaus.
Giovanna hatte versucht, möglichst theatralisch zu lesen, war damit aber etwas überfordert. Ich sagte ihr, dass mir der Anfang der Geschichte ganz gut gelungen schiene. Sie ging nicht darauf ein, sondern fragte mich, wie man in eine Geschichte eintauchen könne, ohne sich ablenken zu lassen. Ich meinte, dass ich das auch nicht wirklich wisse. Manchmal könne ich beim Schreiben meine Umgebung vollkommen ausblenden, auch wenn mit Kanonen geschossen würde, manchmal aber würden mich sogar Erinnerungen vom Vortag ablenken. Und nach einer Pause fügte ich hinzu:
«Erst, wenn sich die Geschichte selbst dir aufdrängt und erzählt werden will, kannst du deine Umgebung ausblenden.»
«Zu welcher Tageszeit fallen Ihnen Ihre Geschichten ein?», fragte sie.
«Dazu gibts keine fixe Zeit. Wenn ich schreibe, will ich in meiner gewohnten Umgebung sein, immer aus der selben Tasse Kaffee trinken, die ich davor eigenhändig abgewaschen habe. Die einen wollen möglichst weit weg sein von ihrem Zuhause, die anderen legen sich auf die Wiese, und vielleicht fällt ihnen mit den ersten Sonnenstrahlen ein Satz ein.»
Die Klasse lachte. Ich auch, weil ich meinen Satz kitschig fand.
«Sie haben keine Methode, wie man schreibt?», fragte ein Mädchen.
«Nein, Schreiben ist auch eine einsame Arbeit. Man muss sich da seinen Weg auch weitgehend selber suchen.»
«Sie sind aber jetzt der Lehrer, was werden Sie uns vier Tage lang beibringen? Unsere Lehrer haben immer klare Vorstellungen, wie wir lernen sollen», hörte ich Kivo fragen.
«Der Unterschied ist, dass ich kein Lehrer bin mit Stundenplan und Noten. Ich hoffe aber, dass wir in diesen Tagen schöne Texte entstehen sehen. Ich selber kann, ehrlich gesagt, nicht in einer Schulstunde auf Befehl schreiben.»
Kivo meldete sich wieder.
«Das kann ich auch nicht. Sie können uns ja die ganze Woche freigeben, und wir bringen dafür am Freitag schöne Texte.»
«Ich habe diese Zuständigkeit nicht, Kivo!», sagte ich und fragte Giovanna, ob sie noch mehr geschrieben habe.
«Nicht reif genug, um vorgelesen zu werden!», antwortete sie.
Ich fragte sie, woher sie diesen Krimistoff hätte, ob sie tatsächlich eine solche Geschichte gekannt habe. Statt zu antworten, fragte sie zurück, ob ich je in vorgegebener Zeit eine gelungene Geschichte geschrieben hätte.
Ich erzählte, dass ich einst um sechzehn Uhr einen Text habe abliefern müssen. Den ganzen Vormittag sei der erste Satz einfach nicht gefallen, obwohl ich mich zur Arbeit gezwungen hätte. Ich sei wie einen Tiger gependelt zwischen der Küche und dem Arbeitstisch. Dann hätte ich Bauchschmerzen gekriegt und bemerkt, dass ich fast ein Kilo Trauben gegessen hätte. Der erste Satz sei mir dann doch eingefallen, nämlich, als ich einen Verdauungsspaziergang gemacht hätte.
«Trauben mag ich nicht», lachte Giovanna.
«Wie bist du überhaupt auf die Frauen mit dem orientalischen Tanz gekommen?»
Sie schaute mich erstaunt an und sagte, dass im Städtchen mindestens drei verschiedene Gruppen orientalische Tänze aufführten. Vor drei Monaten habe ihre Mutter die Haare wachsen lassen. Eine Nachbarin habe gespottet, ob sie mit Bauchtanz angefangen habe.
Eine Diskussion über Giovannas Text kam nicht zustande, obwohl ich drei Schüler, ein Mädchen und zwei Jungen, die in der hintersten Reihe saßen, aufgefordert hatte, Giovanna Fragen zu stellen oder sich zu der Geschichte zu äußern. Alle wollten bloß früher Schulschluss bekommen, wie sich herausstellte. Ein Mädchen aus der vorderen Reihe sagte schließlich, dass sie gespannt sei auf die Fortsetzung der Geschichte.
Am Ende des Nachmittags verabschiedeten sich die Schülerinnen und Schüler von mir mit einem Händedruck. Etwas mehr als die Hälfte reichte mir ein Blatt. Ich sagte Kivo, dass ich mich freuen würde, wenn er morgen eine etwas längere Geschichte oder ein längeres Gedicht schreiben könnte.
«Ich versuch es», sagte er und reichte mir seinen Text. Er hatte vier Zeilen mehr geschrieben als die zwei Sätze, die er vorgelesen hatte. Er sagte, dass seine Geschichte nicht mit Poesie oder so Zeug zu tun habe, er habe einfach etwas über die Natur geschrieben, und er bitte mich, seine Geschichte nicht an Frau Amato Kissling zur Benotung zu geben, er nehme an, dass er eine ungenügende Note bekommen würde, denn sie sei sehr streng. Ihr Mann habe vor mehr als dreißig Jahren ein Buch veröffentlicht, das zu einem Bestseller geworden sei, seitdem aber sei keine Zeile mehr erschienen. Jedes Mal, wenn Frau Kissling Amato einen Text beurteile, beginne sie mit den Worten: «Ich als Frau eines Bestsellerautors …»
Ich überflog die Zeilen und sagte ihm, dass sie mir gefallen würden. Schon in der Tür versprach er mir, am nächsten Tag das Ganze vorzulesen.
Ich verließ als Letzter den Raum und schloss die schwere Tür ab. Im Korridor, der mir dunkler als vorher vorkam, war schon Putzpersonal am Arbeiten. Zwei Frauen in blauen Kitteln, nach dem Aussehen aus Zentralamerika, schrubbten den Steinboden. Sie erwiderten meinen Gruß mit einem spanischen Hola. Die größere der Frauen fragte, ob ich ein neuer Lehrer sei, ich verneinte, die zweite sagte auf Deutsch: «Hier kein dunkel Lehrer!»
Sie lachten schallend, ich schloss mich an.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.