Kitabı oku: «Nelkenblatt», sayfa 2

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«So schlimm ist es auch wieder nicht», meinte Pina, zog eine Hygienemaske an, die auf dem Nachttisch von Elsa bereitlag, und erfüllte ihr den Wunsch.

Später half sie Elsa ins Badezimmer, wusch ihr das Gesicht und trocknete es mit einem weichen Frotteetuch. Elsas Tücher waren alle in hellgrüner Farbe. Dann wollte sie Elsa ihres Pyjamas entledigen, aber diese weigerte sich, der weiße Morgenrock genüge, sie gedenke heute weder hinauszugehen noch Besuch zu empfangen. Pina versuchte ihr vor dem Spiegel ein Make-up aufzutragen und kämmte ihr die schütteren, weißen Haare.

Elsa war nicht zufrieden. Sie ließ sich von Pina stützen und rieb sich selbst mit zitternden Händen eine Creme ins Gesicht und Puder unter die Augen. Dazu nahm sie sich alle Zeit der Welt.

«Sie sehen aber sehr schön aus!», schmeichelte Pina.

«Ich kann mein Alter und die Gebrechlichkeit nicht mehr verbergen.»

«Schönheit hat kein Alter, Frau Gubler!»

«Ach, Sie wollen mich aufmuntern. Sehr freundlich von Ihnen. Genießen Sie Ihre Jugend und Gesundheit, solange die noch da sind. Sie rutschen einem irgendwann aus der Hand wie eine nasse Seife.»

Pina lachte. Sie brachte Elsa an den Frühstückstisch. Pina toastete Brot. Sie war glücklich, dass Elsa eine ganze Scheibe mit Butter aß und dazu ein Viertel einer reifen Birne, auch wenn es eine halbe Stunde gedauert hatte, bis Elsa mit dem wenigen Essen fertig war, am liebsten hätte sie es gleich Luzia berichtet. Ihre Tasse Kräutertee trank Elsa nur zur Hälfte aus.

Elsa war beim Frühstück nicht gesprächig, sie wirkte müde und nachdenklich. Sie fragte, ob Pina gut geschlafen habe.

«Sehr. Und Sie?»

«Ganz gut. Ich war wach um die Zeit der Schichtwechsel in der Klinik. Heute aber machen wir uns einen ruhigen Tag. Kein Besuch und kein Arzt. Zum Glück gibt es hier keine Krankenschwestern und Lernenden, die ständig vorbeischauen und immer irgendwelche Fragen haben. Und Luzia ist auch weg.»

«Wie Sie wollen», antwortete Pina.

«Ich bin froh um mein eigenes Bett. In der Klinik war meine Matratze wie eine Igelhaut», meinte Elsa.

Pina räumte den Tisch ab und schlug Elsa vor, ihr heute die Haare zu waschen. Elsa lächelte und wollte, dass sie sich an den Tisch setze. Sie nahm Pinas rechte Hand in die ihre, wartete, dann schaute sie Pina eindringlich in die Augen und sagte langsam und leise, aber deutlich, dass sie heute den Vorschlag, die Haare zu waschen, annehme. Aber das nächste Mal werde sie selber vorschlagen, wann sie was wolle. Sie habe in der Klinik darunter gelitten, dass immer über sie bestimmt worden sei.

Pina entschuldigte sich, hütete sich aber zu verraten, dass Luzia sie angewiesen hatte, ihrer Mutter alle zwei bis drei Tage die Haare zu waschen. Als sie sich mit langsamen Schritten zum zweiten Mal in Richtung Badezimmer bewegten, sagte Elsa: «Aber ich bestimme, wie warm das Wasser ist.»

Pina war einverstanden. Elsa saß auf einem Hocker und beugte ihren Kopf rückwärts über die Badewanne. Pina legte ihr ein frisches Frotteetuch um die Schulter, goss mit der Duschbrause Wasser auf Elsas Finger, um die richtige Temperatur einzustellen. Sie schien es zu genießen, als Pina ihr den Kopf lange mit sanften Fingern massierte.

Sie wickelte ein Tuch um den Kopf der alten Frau und brachte sie zum Sofa.

«Meine Mutter liebte es, wenn ich ihr schmale Zöpfe, nur so dick wie ein Finger, gemacht habe», erzählte Pina, während sie Elsa half, es sich auf dem Sofa bequem zu machen. «Sie wollte immer dreizehn schmale Zöpfe, das sei eine Zahl in einem Märchen, das ihr Glück brachte. Mutter meinte, an dem Tag, als Großmutter ihr dreizehn Zöpfe machte, habe Vaters Familie um ihre Hand angehalten. Die Zahl dreizehn bringe mehr Glück als Amulette, die ein Gelehrter für viel Geld beschrifte.»

Elsa meinte, ihre Haare hätten früher locker für dreimal dreizehn Zöpfe gereicht. Heute sähen sie wie gerupft aus. Sie lachte dazu.

Ob sie auch Zöpfe wolle, fragte Pina.

«Das Glück, dass etwa einer wie Ihr Vater um meine Hand anhält, nützt mir nichts mehr. Ich brauche nur noch ein paar schmerzfreie Tage bis zum Ende meines Lebens.»

«Sie werden aber noch lange leben.»

«Wenn auf dieser Welt eine Person mich bestens kennt, bin ich, Elsa, das selbst.»

Nach dem Föhnen war sie müde und wollte sich hinlegen. Zum Mittagessen wolle sie nicht geholt werden. Pina könne sich etwas kochen, unbedingt das, was sie möge. Gemüse oder Fleisch, das müsse sie noch einkaufen gehen. Pina antwortete, dass sie regelmäßig essen solle, sonst werde sie keine Kraft mehr haben. Elsa legte nur den Finger auf die Lippen zum Zeichen, dass jetzt nicht gesprochen werden dürfe.

Pina verbrachte ihre freie Zeit mit Putzen und stand erst nach vierzehn Uhr vor der Zimmertür von Elsa, die sich schon im Bett aufgerichtet hatte und ruhig zur Wand schaute. Sie begrüßte Pina mit einem Lächeln, fragte, was diese zu Mittag gegessen habe. Dass ihre Betreuerin sich nur ein Käsebrot gegönnt hatte, gefiel ihr überhaupt nicht. Pina versprach, sich in Zukunft Besseres zu kochen.

Das Zimmer komme ihr heute dunkler vor, meinte Elsa. Sie rieb sich die Augen.

«Ja, weil draußen eine schöne Sonne scheint.»

«Mit anderen Worten: Du willst mich hinauslocken!»

«Nicht gegen Ihren Willen, aber es wäre schön, wir würden an der Sonne spazieren gehen. Herbstfarben sind prächtig, diese Zeit geht sehr schnell vorbei. Ich schiebe den Rollstuhl, Sie sitzen drin und genießen. Kraft habe ich genug.»

Aber Elsa wollte nur zu ihrem Sofa.

Als Pina ein Glas vom Buffet holen wollte, blieb sie vor einem Foto stehen. Zwei Mädchen und eine Frau schauten in die Kamera. Sie standen vor einem großen Gemälde. Die Frau hatte kurze Haare, saß auf einem Stuhl, zu jeder Seite ein Mädchen, beide in langen Röcken. Ihre Blicke waren wach und neugierig, als würden sie das Objektiv mustern.

«Die Freche auf der linken Seite, das bin ich», sagte Elsa, die Worte im Mund kauend. «Die andere meine vor sechs Jahren verstorbene Schwester. Und meine Mutter. Das war in dem Jahr, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Sie durfte zum ersten Mal im Ortsmuseum ihre Bilder ausstellen.»

«Wo ist Ihr Vater?»

«Der war im benachbarten Veltlin, wissen Sie, wo das ist?»

«Ja, ungefähr.»

Ihr früherer Freund mochte den Wein von dort. Aber davon sagte sie nichts.

«Mein Vater arbeitete dort als Bäckermeister, kam drei Jahre nach diesem Foto nicht nur mit Geld, sondern auch mit einer anderen Frau im Gepäck.»

«Obwohl Ihre Mutter so schön war!»

«Sie sind aber eine Charmeurin, Pina! Haben Sie auch ein Foto von Ihrer Mutter?»

«Nicht bei mir. Einmal hat ein Touristenpaar, das mit einem alten Bus unterwegs war, uns fotografiert, und ein paar Jahre später brachte das Mädchen mit langen roten Kraushaaren uns das Foto. Dieses Mal reiste sie im selben Bus allein. Das Foto sollte in der Kiste meiner Mutter sein, wo auch ihre Mitgift aufbewahrt war.»

«Wer hat die Kiste?»

«Wahrscheinlich mein Vater, wenn er sie behalten hat. – In der Wohnung sehe ich kein Foto Ihres verstorbenen Mannes.»

«Nicht an sichtbaren Orten.»

Sie zeigte auf das Buffet. Tatsächlich standen zwei Fotos von ihm mit Elsa und zwei Kindern im Buffet hinter der Spiegeltür. Auf einem Foto waren die Kinder noch im Vorschulalter.

«Er muss nicht immer vor mir stehen. Wenn sein Foto versteckt war, konnte ich mich mit seiner Abwesenheit leichter abfinden. Er war ja auch im realen Leben für mich nicht zu greifen.»

«Wann ist er gestorben?»

«Im kommenden Mai werden es fünf Jahre sein.» Elsa zeigte fünf Finger der rechten Hand. «Er kam im Jahr zwei-, höchstens dreimal, und ich besuchte ihn zwei-, höchstens dreimal im Jahr mit den Kindern, allerdings nur, bis diese nicht mehr mitkommen wollten.»

Sie ließ Pina aus der Schublade ihres Nachttisches ein weiteres Foto holen, ein gerahmtes, etwas vergilbtes Farbfoto von ihr und ihrem Mann im schwarzen Arbeitskittel. Er hatte kurze, noch nicht ergraute Haare, trug einen dünnen Schnurrbart, lachte, hatte weiße Zähne. Sie waren auf einem Hügel irgendwo im Nie­mandsland abgelichtet worden, im Hintergrund waren große, gelbe Baumaschinen zu sehen. Elsa sah auf dem Foto nachdenklich aus, hatte struppige lange Haare und steckte in einem blauen Overall wie eine Baggerführerin.

«Ein Alleskönner. Fröhlich war er, er konnte sein Le­ben genießen. Mit zwei anspruchsvollen Kindern, die einen herausfordern, bist du im Alltag aber auch auf eine Stütze angewiesen.»

Elsa betrachtete das Foto lange nachdenklich. Dann lachte sie plötzlich.

«Ein guter Liebhaber war er auch. Wenn er Lust auf mich hatte, flog er für nur ein Wochenende her, auch wenn er weit weg arbeitete.»

«Kein Wunder, wenn er so eine Schönheit zur Frau hatte», meinte Pina.

«So, so, Sie wollen mich aufmuntern», antwortete Elsa.

Charles war für eine Fabrik tätig gewesen, die Turbinen für Staudämme überall in der Welt herstellte. Er war der Montagechef dieser monströsen Maschinen. An keinem Ort war er länger als drei Jahre geblieben. Elsa hatte ihn begleitet, bis die Kinder ins Gymnasium kamen. Die Primarschulstufe hatte die ausgebildete Lehrerin noch selbst unterrichtet. Sie ist oft in die Dörfer gegangen, um Frauen zu treffen, hat sich ihre Geschichten angehört. Die Fotos seien noch in einer Kiste im Estrich, und die Notizen dazu auch. Sie könne nichts mehr daraus machen, sie sei immer zu träge gewesen. Ob Luzia und Michel diese Kisten je öffnen würden, wisse sie nicht.

Nach der Pensionierung hatte sich Charles abge­setzt, in die Südschweiz, in ein Haus am See.

«Auch aus dem Tessin reiste er hierher», lachte Elsa, «wenn er Lust auf Elsa hatte oder im Haus Reparaturen anstanden. Und ich bestellte ihn, wenn irgendwelche Rohre im Haus verstopft waren.»

Pina lachte.

Nach einer Pause fügte Elsa hinzu: «Und natürlich für die Diplomfeiern der Kinder!»

«Meine Mutter sagte, der Vater sei weich wie Baumwolle gewesen, wenn er Lust auf sie hatte», bemerkte Pina. «Und sie hat immer gesagt: Lass den Mann vorher deine Fußsohlen küssen, wenn er mit dir ins Bett will. Nur dann ist er bereit zu Zugeständnissen.»

Beide lachten.

«War er auch sonst lieb zu Ihrer Mutter?»

«So wie Charles zu Ihnen lieb war.»

«Das ist eine gute Antwort», meinte Elsa und wünsch­­te, dass Pina sie auf das Sofa bettete, sie wolle sich et­was ausruhen.

Vom Sofa aus betrachtete sie Pina, die ihr gegenüber auf einem Hocker saß, lange.

«Sie sind jung und schön. Haben Sie eine Liebe?»

«Ich hatte eine.»

«Wer war er oder sie?»

«Warum eine Sie?»

«Lassen wir das, das kann auch sehr schön sein, aber wo ist er?»

«Vor rund einem Jahr war es aus.»

«Sind Sie traurig?»

«Seit ich meinen Gebieter los bin, habe ich Flügel be­­kommen.»

«Erzählen Sie! Warum, was war der Grund?»

«Tolstois Zitat passte zu ihm: ‹Manche Hähne meinen, dass die Sonne nur deshalb aufgegangen sei, weil sie gekräht haben.›»

«Oje, das sagt viel über ihn aus.»

«Er suchte bei mir die Zuneigung seiner Mutter und befahl wie sein Vater.»

«Haben Sie seinen Vater gekannt?»

«Das nicht, aber er hat mir viel von ihm erzählt. Er kehrte genau die Seiten hervor, die er an ihm hasste.»

«Welche Seiten?»

«Oh, sehr viele. Er erzählte immer wieder, wie nörglerisch er war und im Alter der mürrischste Mensch der Welt wurde.» Pina kratzte sich eine Weile nachdenklich hinter dem Ohr. «Wissen Sie, Frau Gubler, ich war für ihn immer die Hilfsbedürftige, der er half, den Schritt von einem armen zu einem bürgerlichen Leben zu machen, wie er es formulierte.»

Elsa schaute sie mit erstaunten Blicken an.

«Ich brauchte leider zu lange, um dahinterzukom­men», nahm Pina das Wort wieder auf.

«Woher hatten Sie den Mut zum Schlussstrich?»

«Seine Nörgeleien wogen allmählich schwer wie Steine und die einfühlsamen Momente noch so viel wie eine Feder. Wir kamen eines Abends vom Kino nach Hause. Er hatte den ganzen Nachhauseweg über eine Frau mit einem silbernen Nasenpiercing geschimpft, die eine Reihe vor uns gesessen hatte. Ich träumte in dieser Nacht, dass ich ein Nasenpiercing trug und er mich noch gröber und lauter beschimpfte. Beim Frühstück eröffnete ich ihm, ich würde mir ein Piercing machen lassen. Das war der Beginn meiner Mutprobe. Nachdem ich Schluss gemacht hatte, kam ich mir nachträglich vor wie ein Frosch, der in einem ausge­trock­neten See so lange auf Wasser wartet, bis ihm die Augen zerspringen.»

«Wie viel zuvor hatte er Ihnen gebeichtet, dass auch eine andere im Spiel war?»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Junge Frau, Elsa weiß das. Wissen Sie, wie viele Freundinnen ich hatte und wie viele von ihnen mir ihr Herz ausschütteten?»

«Hatte Charles nie eine andere neben Ihnen?»

«Das fragte auch Luzia hin und wieder.»

Eine Pause trat ein, dann begann Pina zu erzählen.

Sie teilte den Schlafraum mit sieben weiteren geflüchteten Frauen, sie schliefen in vier doppelstöckigen Kajütenbetten. Jeden Tag gab es Streit, und alle warteten darauf, von der Behörde eine Wohnung zugeteilt zu bekommen. Richard, der sich Richi nannte, kam, weil der Dauerstreit der acht Frauen bis zur Behörde drang. Er versprach ihnen, sie so bald wie möglich auf Wohnungen zu verteilen. Sie alle schauten auf ihn, als wäre er der Messias mit seinen langen Haaren, der sie aus diesem Elend befreien würde. Er badete gerne in dieser Zuneigung und kam bald auch in seiner Freizeit zu den acht Frauen.

Pina holte er als Letzte aus dem Raum, vierzehn Monate nach seinem ersten Besuch zog sie zu ihm, seine Geliebte war sie schon länger. Später erfuhr Pina von einer Nachbarin, dass kurz vor ihr eine Frau aus der Wohnung ausgezogen war.

Pina war rund fünf Jahre mit ihm zusammen, die ersten Jahre hatten sie es gut.

«Hast du ihn geliebt, Pina?»

«Ihn liebten die acht Frauen.»

«Eine Zweckliebe ist nie gut. Hat er Sie geliebt?»

«Bei unserem letzten Treffen warf er mir Worte wie spitze Steine nach. Dass er glaube, sich nur aus Mitleid für mich entschieden zu haben.»

«Aus Mitleid mit einer Person sollte man nur husten, wenn überhaupt.»

Beide Frauen lachten.

«War er Ihre erste Liebe?»

Nach einem Zögern antwortete Pina: «Nein, meine erste war ein Panther.»

«Ein richtiger Panther?»

«Nein, weil er so schnell laufen konnte, nannte ich ihn Panther.»

«Und den liebten Sie natürlich. Warum ist die Lie­be nicht in Erfüllung gegangen?»

«Eine lange Geschichte. – Haben Sie Charles geliebt, Frau Gubler?»

«Ich meine schon, sonst hätte ich seine Abwesenheit nicht aushalten können.»

«Einen zweiten Menschen haben Sie nicht geliebt?»

«Das fragte auch Luzia immer wieder.»

*

Elsa saß auf einem Stuhl in der Küche und beob­achte­te Pina beim Kochen. Pina hatte ihr eine ganze Liste an Menüs vorgeschlagen. Elsa entschied sich für die Joghurtsuppe mit Minze.

«Aber mit mehr Butter, als Luzia dir vorgeschrieben hat», fügte sie hinzu.

Pina scheine eine große Köchin zu sein, da könne sie, wenn Elsa gestorben sei, als Köchin arbeiten.

Pina sagte, dass es sie traurig mache, wenn sie Elsa so häufig von ihrem Tod sprechen höre.

Die in viel Butter erhitzte Minze füllte den Raum. Elsa sagte, dass allein dieser Duft schon Appetit mache.

«Haben Sie das Rezept von Ihrer Mutter?»

«Vom Vater.»

«Vom Vater?»

«Als Mutters Krankheit ausbrach, war das Erste, was die Nachbarn fragten, wer für die Familie kochen würde. Er übernehme das, sagte er. Das war so ungewöhnlich, als würde ein Mann Zwillinge gebären.»

Pina platzierte Elsa am Esstisch. Mehr als fünf Löffel nahm sie aber nicht von der Suppe, die sie nach jedem Löffel lobte.

Sie legte das Besteck hörbar auf die Seite und überraschte Pina mit der Behauptung, diese sei knausrig. Pina schaute das Wort auf dem Smartphone nach und hob ihren Kopf vom kleinen Bildschirm.

«Nein, das bin ich nicht. Es sind Ihre Sachen, Sie können bekommen, was Sie wollen.»

«Sie haben mir aber seit Tagen keinen Wein offeriert!»

Pina starrte sie an, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen.

«Ich habe nicht daran gedacht.»

Elsa erzählte ihr, wo im Keller ihr Rotwein lagerte. Sie hatte, bevor sie in die Klinik kam, sechs Flaschen bestellt. «Der Lieferant, ein rundlicher Bursche, wollte keinen Kaffee, vielleicht war er zu scheu oder in Eile.»

Pina schaute sie fragend an, in Gedanken bei Luzia. Über Alkohol hatten sie nicht gesprochen.

Elsa hatte ihre Gedanken richtig gelesen.

«Lassen wir sie ihre Städtereise in München genießen. Sie hatte es in letzten Monaten streng mit mir.»

Pina suchte nach einem Vorwand, dem Wunsch, Wein zu trinken, auszuweichen. Elsa meinte: «Zwei Gläser, Pina, ein Glas für Sie, eines für mich, Ihre Sünden übernehme ich.»

«Das müssen Sie nicht. Auch als ich in der Kantine eines Gymnasiums arbeitete, habe ich den Wein getrunken, den wir bei Anlässen ausschenkten.»

«Das haben Sie gut gemacht.»

Pina holte eine Flasche, goss den roten Saft in die Kristallgläser, und sie stießen an, Pina auf die Gesundheit von Elsa, diese auf die Zukunft von Pina.

An dem Abend blieb Elsa länger auf dem Sofa im Wohnzimmer, auch wenn die zwei Frauen nicht viel sprachen. Sie hatten die Flasche zur Hälfte geleert. «Der Rest ist für morgen», entschied Elsa und äußerte den Wunsch, ins Bett gebracht zu werden.

«Bis am Samstag müssen wir ihn fertigtrinken», meinte Pina lachend. Elsa schüttelte den Kopf und gab zu verstehen, dass Pina sich darüber keine Sorgen zu machen brauche.

Pina begleitete Elsa ins Badezimmer. Elsa ging so langsam und vorsichtig, dass Pina die rund zehn Meter endlos vorkamen.

Sie half Elsa, ihren Pyjama anzuziehen. Das Gesicht konnte die alte Frau noch selber waschen mit einem Waschlappen, während Pina sie an der Schulter festhielt, aber zum Zähneputzen zitterten ihre Hände zu stark, sodass Pina das übernahm. Elsa erlaubte es ihr, verlangte aber, sie müsse die Bürste mit Gefühl zwischen den Zähnen bewegen. Danach kämmte Pina noch Elsas wenige verbliebene Haare.

Im Bett deckte sie Elsa mit einer leichten Decke zu, wünschte ihr eine gute Nacht und süße Träume, wandte sich zur Tür und wollte das Licht löschen. Elsa rief sie zu sich und küsste ihr den Handrücken. Dann zeigte sie auf den Nachttisch, auf dem ein Buch von Rilke lag. Auf der Seite mit dem Buchzeichen solle Pina das Gedicht über den Herbst vorlesen.

«Ich selbst kann das ja nicht mehr.»

Ende des Herbstes

Ich sehe seit einer Zeit,wie alles sich verwandelt.Etwas steht auf und handelt und tötet und tut Leid.

Elsa hatte die Augen bereits nach der ersten Strophe zu. Pina legte das Buch auf den Nachttisch zurück.

Sie ging in ihr Schlafzimmer im ersten Stock. Smartphone und Computer lagen auf dem Bett. Sie schaute auf das Telefon, ihre Schwester hatte noch nichts geschrieben. Sie zögerte, ihr zu schreiben. Drei Stunden Zeitverschiebung, vielleicht war Zania schon am Schlafen. Sie löschte das Licht, legte sich in Jeans und Bluse auf das Bett. Das schummrige Licht der Straßenlaterne warf den Schatten der Hängelampe an die Wand, der Pinas Blick fesselte.

*

Als Kind gingen sie täglich eine Stunde zu Fuß zur Schule ins Nachbardorf und wieder eine Stunde zurück nach Hause, auch wenn es regnete oder schneite. Am letzten Schultag vor den Sommerferien, an einem Freitagmittag in der ersten Juniwoche, waren sie mit ihren Zeugnissen auf dem Heimweg. Die Steppe war voller Hummeln, sie waren dreimal grösser als eine Honigbiene und hatten einen roten Kopf. Hummeln mit rotem Kopf hatte Pina nur in ihrem Dorf gesehen, später nirgends mehr.

Mit diesen Hummeln spielten die Jungen ein besonderes Spiel: Sie versteckten sich in der hohen Wiese und lauerten. Sobald sich eine Hummel auf einer Blüte niederließ, packten sie sie mit Daumen und Zeigefinger. Man musste sie am Nacken ergreifen, damit sie einen nicht stach, und der Stich tat unheimlich weh. Die Jungen banden einen Faden um den Hals der gefangenen Hummel und gingen mit ihr in der Steppe auf Spinnenfang. Wenn eine Hummel eine Spinne aus ihrem Versteck gelockt hatte, wurde sie zur Belohnung ein Weilchen auf eine Blüte gesetzt. Die Spinnen töteten sie nicht, sie wollten bloß möglichst viele aus ihren Löchern zu locken, die Hummeln wurden später wieder freigelassen. Sie konnten aber nicht mehr fliegen, weil ihre Flügel abgerieben waren. Ihr Vater hatte erzählt, dass sich einmal eine Hummel, die ihr Bruder Maro verletzt hatte, gerächt und Verwünschungen ausgesprochen habe. In jenem Jahr hätten die Bäume der Familie keine Granatäpfel geschenkt.

An diesem letzten Schultag im Juni sagte Pina zu den Jungen, die alle ihre Cousins waren, dass sie mitspielen wolle. Sie fanden, dass Hummelfangen nichts für Mädchen sei, Pina solle lieber neuge­borenen Lämmern Ohrringe aus Gänseblümchen machen. Pina blieb hartnäckig. Die Jungen drohten, ihr gutes Zeugnis zu zerreißen, noch bevor sie es ihren Eltern zeigen konnte. Sie ließ sich nicht beeindrucken.

Sie fing sich eine Hummel, die gerade auf einem Gänseblümchen saß. Sie zischte wie eine Schlange, als Pina sie am Nacken packte. Hätte sie ihren Cousins nicht ihren Mut beweisen wollen, hätte sie das Tierchen gleich wieder losgelassen. Mit zitternden Händen band sie der Hummel einen weißen Faden um den Hals und ging mit ihr auf Spinnensuche. Aber jedes Loch, in das sie ihre Hummel mit dem roten Kopf schickte, war leer.

Die Jungen hatten es aufgegeben, ihr dieses Spiel auszureden, und waren zurück ins Dorf gelaufen, wo sie bestimmt Pinas Mutter alles verraten würden. Sie setzte die Hummel wieder auf das Gänseblümchen, auf dem sie sie gefangen hatte. Sie hatte Mühe loszufliegen, sie brachte ihren Körper nicht mehr in die Luft. Pina war zerknirscht.

Kaum war sie im Dorf angekommen, rief ihre Mutter sie zu sich. Sie saß auf dem Rand des Wasserbe­ckens, ihr Kopftuch hatte sie am Hinterkopf zusam­men­gebunden. Vor ein paar Tagen waren die über hundert Schafe der Familie geschoren worden, nun wusch sie hier die Wolle. Damit würde sie Teppiche weben, Pinas Mutter webte die schönsten Teppiche der Welt.

Sie musterte Pina kritisch, bevor sie zu sprechen begann. «Du darfst diese Jungenspiele nicht spielen», erklärte sie «sonst hast du bald einen schlechten Ruf wie Haya.» Die habe mal einen Esel geritten, und zweimal sei sie Traktor gefahren. Haya blieb ohne Mann sit­zen, denn keine Mutter wollte eine männliche Schwie­gertochter. Eine Schwiegertochter müsse so sanft und weich sein wie Seide, ergänzte die Mutter. Der schlechte Ruf sei Haya wie eine Tätowierung auf der Stirn gestanden. «Mach lieber Pompons für die neugeborenen Lämmer. Ich gebe dir dafür besonders schön gefärbte Wollfäden, weil du nach vielen Geburten meine Jüngste bist, mein Augapfel.»

Mutter hatte Pina geboren, als ihre Haare schon ganz grau waren.

«Nein, Mama, ich will auch eine Spinne aus dem Loch rausholen, eine große.»

«Was willst du denn mit einer Spinne, du bist doch kein Junge!»

«Ich habe meinen Cousins gezeigt, dass ich das auch kann und den Mut habe, eine Hummel anzufassen. Seit drei Jahren behaupten sie auf dem Schulweg, ich könne das nicht.»

«Wer eine Spinne fängt oder sie tötet, wird in der ewigen Welt nicht ins Paradies gelassen.»

«Dann werden alle Jungen in die Hölle kommen, wenn sie sterben?»

«Das weiß ich nicht. Die Spinne ist verwandt mit der Hexe, und sie wird sich rächen.»

«Ist je einer aus der ewigen Welt zurückgekommen, Mutter?»

«Eine Spinne darf man trotzdem nicht töten.»

«Ich habe ja keine getötet.»

«Wenn eine Spinne von einer Hummel berührt wird, verliert sie ihre Magie, sie darf danach nicht mehr in ihre Gemeinschaft zurück. Sie kann dann nicht mehr gut genug spinnen.»

«Aber warum dürfen die Jungen das und ich nicht?»

«Jungen machen das seit jeher, schon unsere Ahnen haben das getan.»

«Kann man es ihnen nicht verbieten?»

«Sie hören nicht auf die Erwachsenen. Ich möchte nicht, dass es heißt, du spielst dieselben Spiele wie die Jungen. Diesen Ruf möchte ich dir ersparen, deinen eigenen Kindern zuliebe, mögest du elf schöne gebä­ren.»

Es war hoffnungslos, mit ihrer Mutter zu streiten. «In unserem alten Dorf brauchen wir keine neuen Regeln.» Damit war die Diskussion beendet.

Pina war beleidigt und lief weg, sie hatte der Mutter noch nicht einmal das gute Schulzeugnis gezeigt. Auf Mutters Frage, wohin sie gehe, antwortete sie nicht. Auch als sie ihr nachrief, sie solle ihr aus der Küche ein mit Schafskäse gefülltes Fladenbrot bringen, sagte sie nichts. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie in die Steppe.

Später gestand Pina sich ein, dass es falsch war, unbedingt die gleichen Spiele wie die Jungen spielen zu wollen. Aber damals war sie besessen von dem Wunsch, mutig und frech wie ein Junge zu sein.

Sie freundete sich mit einer Schwalbe an, die im Ehrenpreisgebüsch ihr Nest gebaut hatte, und schaute ihr zu, wie sie mit ihren Flügeln sorgfältig ihren Nachwuchs bedeckte.

Im Dorf und seiner Umgebung gab es keine Bäume. Ihr Vater hatte einmal erzählt, dass sie von einem Feuer verschlungen worden waren, mitsamt den Früchten daran. Ob das stimmt, wusste Pina nicht. Nach einem Tag kam sie zurück.

Der erste Satz, den Mutter zu ihr sagte, als sie ihre vermisste Tochter vor dem Haus erblickte, versetzte ihr einen Stich ins Herz. «Du kannst doch nicht wie ein Junge die Nacht im Freien verbringen. Was werden die Verwandten später über dich sagen?»

Ihr Vater hingegen ermahnte sie nur, dass sie sich nachts nicht mehr in der Steppe verstecken dürfe. «Was du getan hast, machen nur mutige Mädchen in den Märchen», sagte er. «Du kannst dich glücklich schätzen, dass die Wölfe dich nicht gefunden ha­ben.»

Als sie das Wort «Wölfe» hörte, zuckte Pina zusam­men, aber ihre innere Stimme sagte ihr, dass Vater mit den Wölfen ihr nur Angst einjagen wollte. Er schenkte ihr eine Wassermelone, und zwar nur ihr, es war die erste von seinem Feld. Sie durfte selbst entscheiden, mit wem sie die begehrte Frucht teilen wollte. Sie teilte sie mit ihm …

Ein Piepsen des Telefons holte sie aus den Erinne­rungen. Zania schrieb, sie habe sich noch nicht gemeldet, weil ihre Tochter Fieber habe und lange nicht einschlafen konnte. Ihr Mann sei mit Freunden Backgammon spielen gegangen.

«Wieder einmal?», schrieb Pina.

«Was machst du?», kam von Zania zurück.

Sie sei in Gedanken bei der ersten Nacht, die sie allein in der Steppe verbracht habe, schrieb Pina.

«Daran erinnere ich mich auch noch», schrieb Zania, «weil du mit der eigensinnigen Mutter nicht einverstanden warst, bist du in die Steppe geflüchtet, aber nach einer Nacht warst du zurück. Weil du dich aber jetzt mit der Regierung, die wie ein Drache mit sieben Köpfen ist, angelegt hast, musst du womöglich dein ganzes Leben wegbleiben.»

«Sag das nicht, Zania. Es ist hart.»

«Hart, aber wahr. Was sagt das Sprichwort? Wer selbst von einer Mauer hinunterspringt, dem sollte nichts weh tun.»

«Kenne ich auch noch. Gute Nacht. Küss für mich die lieben Kinder auf die Stirn.»

*

Als Pina am Morgen ins Zimmer von Elsa ging, saß diese schon auf der Bettkante. Sie war nach vorne gebeugt und schaute besorgt vor sich hin. Ihre schütteren weißen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, als seien sie von einem starken Wind zerzaust worden.

Pina ging zu ihr und ergriff ihre beiden Hände. Sie waren kalt und zitterten. Elsa schaute zu Pina hoch.

«Haben Sie gut geschlafen, Frau Gubler?»

Aber Elsa beschäftigte ein anderes Thema.

«Heidi Isler hat sich den Oberschenkelhals gebro­chen, sie wollte eine Tramhaltestelle überqueren. Eine kleine falsche Bewegung, und das wars. Sie hat am Schluss nur noch 48 Kilo gewogen, wurde als kleines Häufchen ins Krankenhaus eingeliefert.»

Pina lachte. «Haben Sie das geträumt?»

«Nein, leider nicht. Luzia hat mir das erzählt, als sie mich von der Klinik abgeholt hat. Können Sie heute herausfinden, wie es Heidi geht, Pina?»

«Ich kenne sie nicht einmal.»

«Ihre Nummer sollte in meinem Telefon gespei­chert sein.»

«Wir können nach dem Frühstück probieren, sie anzurufen.»

«Versuchen Sie es bitte jetzt!»

Pina ließ Elsas Hände los, ging ins Wohnzimmer und wählte kopfschüttelnd die Nummer von Heidi Isler. Sie kam mit dem Telefon in der Hand zu Elsa ins Zimmer. Trotz langem Läuten nahm aber niemand ab.

«Kein Mensch ist bei Heidi. Es klingelt ins Leere.»

«Klar ist sie nicht zu Hause, so eine Fraktur braucht Zeit. Ruf Luzia an, Pina, vielleicht kann sie was herausfinden.»

«Wollen Sie nicht zuerst zum Frühstück kommen? Ich habe für Sie eine Omelette gemacht.»

«Das rieche ich. Aber rufen Sie zuerst Luzia an.»

Pina setzte sich auf die Kante von Elsas Bett und wählte Luzias Handynummer, doch auch Luzia nahm nicht ab. Kurz darauf meldete Pinas Smartphone eine Nachricht, Luzia fragte, ob es ein Notfall sei.

«Kein Notfall», schrieb Pina zurück, «deine Mutter möchte wissen, wie es Heidi Isler geht.»

«Ich bin nicht mit ihr verwandt, sie würden mir im Krankenhaus keine Auskunft geben», schrieb Luzia zurück.

Pina las Elsa alles langsam und deutlich vor. Diese schaute Pina wortlos ins Gesicht. Dann meinte sie, dass Heidi zwei Kinder habe. Wie man wohl deren Nummern fände?

«Das weiß ich nicht. Vielleicht haben wir nach dem Frühstück eine Idee.»

«Du willst unbedingt, dass ich esse. Das ist dir wichtiger als die Gesundheit von Heidi», sagte Elsa und streckte Pina die Hand entgegen, um aufzustehen.

«Es geht ihr sicher gut, Frau Gubler», versuchte Pina sie zu beruhigen, als die beiden ins Badezimmer gingen, «die Ärzte werden Heidi gut versorgen, sie sind geübt. Machen Sie sich keine Sorgen.»

Elsa trank ein ganzes Glas Fruchtsaft. Pina schaute sie glücklich an. Von der Omelette nahm sie aber nur vier Bissen. Als Pina ihr die Omelette in Stücke zu zerschneiden versuchte, gab Elsa ihr mit einem Handzei­chen zu verstehen, dass sie das lassen solle. Sie bat Pina, ihr ihre Medikamente zu bringen. Sie wusste noch, wel­­che der vier Tabletten als Erste einzunehmen war.

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