Kitabı oku: «Zoe heißt Leben», sayfa 2

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Einsatz für Lilly

Um »Lilly« zu Wasser zu lassen, brauchte man mehrere starke Hände, aber jetzt, wo sie unten im Meer schaukelte, wirkte sie recht klein. Da war es, unser Festrumpf-Schlauchboot – auch ein Rhib, aber kleiner als das große Iuventa-Rettungsboot, höchstens zweieinhalb Meter lang –, das ich in den nächsten Wochen steuern würde. Möge es uns gut durch das Mittelmeer führen!

Mein Bootspartner Mateo sprang als Erster darauf. Ich blieb auf dem tiefen Austritt der Iuventa kurz stehen und beobachtete, wie der Wasserspalt zwischen unserer Lilly und dem Schiff mal kleiner, mal größer wurde und wie das zierliche Boot an die Außenhaut der großen Iuventa klatschte – ein Spiel der Wellen.

»Brauchst du Hilfe?«, rief Mateo mit seinem weichen portugiesischen Akzent. Er dachte wahrscheinlich, dass ich Angst habe. Instinktiv streckte er die Hand aus, um mir zu helfen, zog sie aber schnell zurück. Schließlich war ich die Bootsführerin, auch wenn ich die Jüngste an Bord des Rettungsschiffes war.

»Passt schon!«, rief ich und sprang flink auf die Lilly.

Wir hatten bisher keine Zeit gehabt, groß miteinander zu reden. Er konnte nicht wissen, dass ich jahrelang Regatta gesegelt und wie ein Äffchen an den Masten gehangen habe. Mateo hob den Tank an, dieser war, wie erhofft, voll befüllt. Von nun an würde es seine Aufgabe sein, nach dem Benzin zu schauen. Und für gute Laune zu sorgen – auch inmitten der größten Anspannung!

Bei der Rettung des Holzbootes wurden wir kaum benötigt, aber nun kamen per Funk die Anweisungen für den nächsten Rettungseinsatz. Also durfte ich endlich Gas geben.

»Hilfe!«, rief Mateo und hielt sich demonstrativ und zugleich schmunzelnd mit beiden Händen am Bug fest. Er wusste offenbar, wie viel Power selbst so ein kleines Rhib hat. Obwohl ich ein derart kleines, aber schnittiges Motorboot zum ersten Mal steuerte, glitt ich ohne Scheu übers Wasser. Lilly hob und senkte den Bug wie ein verspieltes Pferd, das seinen neuen Reiter herausfordert. Wir bekamen von unserem Einsatzleiter auf der Brücke der Iuventa per Funk die Anweisung, die sogenannten Centifloats, zwei lange orange Schwimmkörper, die in etwa so lang wie ein großes Flüchtlingsschlauchboot waren, an die Lilly anzuhängen. Ich fuhr im Halbkreis zurück zur Iuventa und wartete ab, bis Lena mit Hilfe von ein paar anderen Crew-Mitgliedern die Centifloats von der Reling löste und ins Wasser warf. Dann fuhr ich zu den nun im Wasser schwimmenden Schläuchen und hängte sie mit Hilfe eines Karabiners in das Abschleppseil der Lilly. Mateo funkte der Brücke der Iuventa zu, dass wir nun zum Ziel unterwegs seien. Er sprach ein wirklich gutes Englisch, viel besser als meins. Er rief mir die Position unseres Ziels zu – und mittlerweile sah man tatsächlich einen kleinen Punkt am Horizont.

Auf diesen Punkt bewegte sich auch das große Rhib der Iuventa zu, das die roten Säcke, die sogenannten Bags, mit den Schwimmwesten transportierte, die gleich verteilt werden mussten, so schnell wie möglich.

Erst jetzt nahm ich die Aussicht wahr. Mittlerweile hatte die Sonne den Dunstschleier durchbrochen und tauchte das Meer in ein oranges Licht. Es gibt keine Worte dafür, wie es sich anfühlt, über das glänzende Wasser zu fahren, das in den Morgenstunden so friedlich und wunderschön aussieht. Wenn man allerdings ohne Navigationsgeräte unterwegs ist und seinen Bestimmungsort nicht erreichen kann, wenn man nicht genug zum Trinken und Essen dabeihat und in völlig überfüllten, seeuntauglichen Booten zusammengepfercht ist – dann verwandelt sich diese friedliche Kulisse in eine Todesfalle. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Luft aus den Schlauchbooten entweicht oder deren Boden durchbricht. Vielleicht kamen wir bei diesem Boot rechtzeitig an – vielleicht auch nicht. Noch wussten wir nicht, ob ein altes Holzschiff vor uns trieb oder ein heruntergekommenes Schlauchboot. Wir ahnten nur, dass tief unter uns Tausende Leichen lagen – verschluckt von genau diesem Meer, ohne dass jemand es mitbekommen hat.

Der kleine schwarze Punkt wurde immer größer. Wir gaben per Funk der Brücke Bescheid, dass wir gleich am Ziel waren, auf Englisch »target« – ein merkwürdiger Fachausdruck. Beim Militär werden die Ziele, die zum Abschießen freigegeben werden, auch »target« genannt.

Der schwarze Fleck auf dem Wasser war immer deutlicher zu erkennen – oben eine schwarze Masse, unten ein dünner Strich helles Gummi – ein Schlauchboot also. Die dunklen Köpfe hoben sich allmählich von der Umgebung ab – ich hatte ja schon viele Bilder von solchen Booten gesehen, aber jetzt in der Realität sah das komplett unwirklich aus. Dieses irreale Gefühl kam in mir jedes Mal auf, wenn wir uns einem überfüllten, seeuntüchtigen Boot näherten. So viele Menschen auf engstem Raum, mitten auf diesem endlosen Meer!

Hunderte Augen fixierten uns, als wir auf das Boot zufuhren. Es war ganz still – man hörte nur die Wellen gegen den Rumpf schlagen. Wir mussten uns beeilen. Mussten so schnell wie möglich Schwimmwesten austeilen und aufpassen, dass keine Panik ausbrach. Denn das wäre fatal, die Menschen könnten ins Wasser rutschen. Und es hieß, dass die meisten nicht schwimmen können, wir würden es wahrscheinlich nicht schaffen, alle rechtzeitig zu erreichen und herauszuziehen.

Mittlerweile hatte das große Rhib das Heck des Schlauchboots erreicht, und unsere Kontaktperson, Sophie, rief laut und deutlich »Hallo!« und dass wir gekommen wären, um ihnen zu helfen. Ganz wichtig war immer die Information, dass wir von einem europäischen Schiff kamen. Man musste den Leuten vor allem klarmachen, dass wir nicht zur sogenannten »Libyschen Küstenwache« gehörten. Denn bevor die Geflüchteten sich in ein Land zurückschicken ließen, in dem sie gefoltert und versklavt werden, sprangen manche lieber ins Meer.

Während Sophie sprach, erfüllten Mateo und ich unseren Auftrag: die Sicherung des zu rettenden Bootes. Wir sollten alle Passagiere aufmerksam im Blick behalten und sofort handeln, falls einer ins Wasser rutschte oder Unruhe entstand. Gleichzeitig mussten wir unsere »Centifloats« möglichst dicht in die Nähe des Schlauchbootes bringen – für den Fall der Fälle. Wenn das sogenannte »Shuttlen« begann, mussten wir so lange die Lage bewachen, bis auch der letzte Bootsinsasse auf die Iuventa gebracht wurde oder gegebenenfalls auf ein anderes Schiff.

Wie sollte ein von den Strapazen der Flucht ausgelaugter Flüchtling oder ein Kind die Kraft aufbringen, sich im Wasser an den Haltegriffen der Centifloats festzuhalten?, fragte ich mich besorgt. Und was war mit den Babys?

Sophie sprach langsam und deutlich, obwohl sie aus Irland kam. Sie gab sich richtig Mühe, verständlich Englisch zu reden. Mittlerweile hatte sich im Boot ein junger Mann gefunden, der einigermaßen Englisch sprach und übersetzen konnte. Es war enorm wichtig, nur einen Ansprechpartner auf den Booten zu haben, um Aufregung und Stimmengewirr zu vermeiden. Sophie fragte, wie viele Frauen und Kinder an Bord seien und ob es schon Tote oder Schwerverletzte gab. Die Antwort wurde sofort an die Iuventa-Brücke weitergeleitet, damit die Crew an Deck sich vorbereiten konnte. Sophie erklärte, wie man eine Schwimmweste anzog, und fing anschließend an, so schnell sie konnte, Rettungswesten aus den großen roten Bags hervorzuholen und auszuteilen.

Ich hatte es inzwischen geschafft, die langen Centifloats parallel zum Flüchtlingsboot zu positionieren, jetzt scannten meine Augen das Schlauchboot ab. Es war höchstens zehn Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Unter normalen Umständen würden damit nur wenige Leute fahren dürfen. Hier quetschten sich über hundert Menschen dicht aneinander. Würden sie alle ins Wasser fallen, wüsste ich nicht, ob die Centifloats für alle reichen würden. Ich zählte schnell durch: 120 Personen – es waren so viele wie fünf Schulklassen, eine ganze Jahrgangsstufe auf meiner alten Schule.

Kurz vor meiner Geburt hatten sich meine Eltern auf zwei Vornamen geeinigt: Am liebsten hätten sie mich Katharina genannt, wie Katharina die Große und Starke. Aber das Mädchen, das an einem Julitag etwas zu früh den Bauch seiner Mama verließ, war zu schmächtig und zart für diesen mächtigen Vornamen. Also wurde ich Zoe genannt, griechisch für »Leben«.

Nun stand ich breitbeinig auf diesem schaukelnden Motorboot mitten im Mittelmeer, kurz vor meinem 21. Geburtstag, und sicherte Schlauchboote von in Not geratenen Menschen. Was mich wohl in den kommenden Tagen noch erwartete?

Bis ein Boot mit achtzig oder hundert Insassen fertig »geshuttlet« ist, können bis zu zwei Stunden vergehen. Doch während meiner ersten Einsätze verging die Zeit wie im Flug. Als die letzte Fuhre mit Geretteten Kurs auf die Iuventa nahm, rief mir Mateo etwas zu, was ich nicht sofort verstand.

»Zeit zum Trinken!«, wiederholte er, öffnete weit den Mund und setzte als ein Zeichen den Daumen an. Er erinnerte mich, dass wir Flüssigkeit zu uns nehmen sollten, wie aufmerksam von ihm! Bei den Vorbereitungstrainings wurden wir ausdrücklich gewarnt, weder zu trinken oder zu essen, wenn die Flüchtlinge auf den Booten saßen und uns sehen konnten – aus Rücksicht, aber auch zur eigenen Sicherheit. Erst jetzt merkte ich, wie aufgeheizt mein Helm und wie ausgetrocknet meine Kehle war. Die Sonne hatte richtig Power, obwohl es nicht mal 10 Uhr morgens war.

»Gute Idee, das mit dem Trinken!«, rief ich zurück und hob ebenfalls meinen Daumen zum Mund. Wir holten jeder unsere Wasserflasche aus dem wasserdichten Rucksack, den man stets bei sich hatte.

Wie oft wir uns das Trink-Zeichen an diesem Tag noch gaben, kann ich nicht sagen. Irgendwann hört man auf, die Einsätze zu zählen. Wir hatten reichlich zu tun, sowohl an diesem ersten Tag wie auch in den verbleibenden zweieinhalb Wochen, in denen Tausende Flüchtende gerettet werden konnten, bevor sie von anderen Schiffen an einen sicheren europäischen Hafen gebracht wurden.

So jedenfalls sah unsere Hoffnung aus.

Couscous und Gummibärchen

Meine Kabine lag auf dem untersten Deck, tief im Bauch der Iuventa, neben dem Maschinenraum. Obwohl ich keine Platzangst habe, reiße ich mich nicht darum, in einem fensterlosen Raum zu übernachten. Aber an diesem langen Tag, nachdem wir gefühlt über zehn Boote gerettet hatten, genoss ich es, in der stillen und dunklen Kammer meine Beine auszustrecken. Mateo und ich durften eine Pause einlegen, bevor der nächste Rettungsalarm losging. Denn die Sonne war noch lange nicht untergegangen.

Ich musste eingedöst sein, als mich ein sanftes Klopfen auf die Schulter weckte. Es war Lena: »Wir brauchen ein paar helfende Hände in der Küche.«

Wahrscheinlich war das Rhib noch dabei, die Geretteten auf andere Schiffe zu verteilen. Ich rechnete damit, dass wir für höchstens dreißig bis vierzig Übriggebliebene Essen zubereiten mussten.

Als ich auf das offene Deck hinaustrat, wurde ich vom Sonnenuntergang geblendet. Ich blinzelte – erst beim zweiten Hin­sehen begriff ich, dass es die golden schimmernden Rettungsdecken waren, die das Licht reflektierten. Wohin mein Blick auch reichte – Körper neben Körper auf dem nackten Deck, notdürftig gewärmt von den glänzenden Rettungsfolien.

Die Hitze hatte abgenommen und eine auffrischende Abendbrise wehte mir entgegen. Hatte ich so lange geschlafen, dass noch mehr Boote gerettet wurden, und zwar ohne die Lilly? Wieso waren hier so viele Menschen?

»Sind viele neue Flüchtlinge dazugekommen?«, fragte ich Lena.

»Nein, sieht nur so aus. Es haben sich noch keine Schiffe gemeldet, die unsere Leute nehmen können. Erst wenn unsere Schiffsgäste länger als ein paar Stunden bei uns an Bord bleiben, müssen wir kochen. Alles andere wäre viel zu aufwendig. Wir sind nur ein Erstversorgungsschiff.« Es gefiel mir, dass Lena die geretteten Flüchtlinge als Schiffsgäste bezeichnete. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass ich auch nach zwei Tagen auf der Iuventa immer noch nicht wusste, dass jeder Mensch, der in friedlicher Absicht unser Schiff betritt, den Status eines Gastes hat. In Deutschland war nur der Begriff »Flüchtling« geläufig, fast wie in Stein gemeißelt wurde er verwendet – ob ich das für mich ändern konnte?

Die Schiffsküche lag ein Stockwerk tiefer als die Brücke, aber auf der gleichen Ebene des Hauptdecks. Um zu ihr zu gelangen, mussten wir einmal das Deck überqueren. Aber wo trat man hin? Überall saßen oder lagen Frauen, Kinder, Männer, erschöpfte Menschen mit ausgestreckten Armen und Beinen, dicht nebeneinander. Lena merkte mein Zögern und flüsterte mir zu: »Komm, ich gehe vor.«

»Hallo! Hi! Wie geht’s euch?«, bahnte sie sich lächelnd den Weg, und siehe da – die Menschen lächelten müde zurück und machten Platz, wir kamen vorwärts. Während ich zwischen abgestützten Händen, nackten Füßen und angewinkelten Beinen balancierte, versuchte ich, irgendein Gesicht wiederzuerkennen. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass mir das nicht gelang. Dabei hatte ich doch bei allen Booten höllisch aufgepasst, dass keiner ertrinkt, und auch beim Umsteigen aufs Schiff habe ich vielen der Personen, die jetzt hier saßen, die Hand hingehalten. Wieso erkannte ich keinen einzigen Gesichtszug? Hatte ich etwa einen eurozentrischen Blick, sahen für mich alle Menschen aus Afrika gleich aus? Das beunruhigte mich.

»Das geht vielen so!«, erklärte mir Lena, als ich ihr beim Kochen davon erzählte. »Das ist eine normale Reaktion. Unser Gehirn ist darauf getrimmt, in extremen Situationen nur das wahrzunehmen, was Vorrang hat. Das ist unsere Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.« Eine plausible Erklärung, die mich entlastete. Man sah, dass meine Mitbewohnerin viel Erfahrung in der freiwilligen Rettungsarbeit hatte. Sobald Zeit wäre, würde ich sie fragen, wo sie schon überall gearbeitet hat. Ich wusste nur, dass sie keine Erfahrung mit Schiffen hatte und dies ihre erste Mission auf der Iuventa war.

Trotz ihrer Erklärung fühlte ich mich unwohl. Ich sah zwar ein, dass es unmöglich war, auf das Gesamtwohl von hundert Schiffbrüchigen zu achten und sich dabei jedes einzelne Gesicht zu merken. Aber es erschreckte mich, dass in der kollektiven Not das Individuelle derart verschwand.

War es damals meiner Oma auch so ergangen, als sie im Herbst 1945 zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus ihrer Heimat fliehen musste? Waren die drei mit ihren geflochtenen Zöpfen und ihrem einzigen Fluchtrucksack ebenfalls in der namenlose Masse der Flüchtlinge untergegangen? Wenn ich wieder in Deutschland war, musste ich sie danach fragen.

Lena hatte in der Zwischenzeit einen großen Pappkarton geöffnet, in dem mindestens zwanzig Packungen Couscous waren. Erst jetzt realisierte ich, dass diese Unmengen an Weizengrieß darauf warteten, von uns zubereitet zu werden. Hatten wir überhaupt so große Töpfe? Und würden wir das alles auf einmal kochen? Später wurde mir klar, warum Couscous auf den Rettungsschiffen so gern zubereitet wird – weil es in diesen Breitengraden ein sehr beliebtes Gericht ist, das schnell satt macht und gut verdaulich ist. Wir wollten den geretteten Menschen wenigstens ein kleines Stück Normalität ermöglichen.

»Servus!«, ertönte hinter uns eine Männerstimme. Das war der Zweite Maschinist, unser Österreicher, der gerade zur rechten Zeit aufgetaucht war, einen großen Emaille-Topf in jeder Hand. Er war in Malta erst kurz vorm Ablegen des Schiffs zur Crew gestoßen, deswegen hatten wir noch keine Gelegenheit gehabt, uns persönlich kennenzulernen.

»Die Töpfe findest du in der Vorratskammer da hinten«, erklärte er mir. »Die holen wir nur an solchen Tagen wie diesem hervor.« Er stellte die Töpfe in die große Spüle, füllte sie mit Wasser und wuchtete sie auf den Herd. »Ich bin übrigens der Ötzi, ja genau, wie der Mann aus dem Eis. Keine Sorge, im Pass steht was anderes. Und du bist?«

»Zoe! Servus!«

»Des is deine erste Mission, oder? Ich bin jetzt das dritte Mal auf der Iuventa.«

Ich mochte seine unkomplizierte, offene Art sofort.

Allmählich lernte ich die einzelnen Leute der Crew kennen, es war eine echte Herausforderung, sich auf die Schnelle so viele neue Namen zu merken.

Wenn man vor dem Herd stand, sah man durch die Bullaugen hinaus. Während ich den Couscous ins kochende Wasser tat, blickte ich auf lauter nackte Füße, die vom Achterdeck herunterbaumelten. Die Füße unserer Gäste. Nach jedem Topf beschlugen aber die Bullaugen mehr und mehr. Über unseren Köpfen befand sich jedoch ein Abzug.

»Können wir nicht den Abzug anmachen?«, fragte ich Lena.

»Nein, wenn Gäste an Bord sind, bleibt der zu. Es ist nicht fair, wenn sie das Essen riechen, sie wissen ja nicht, dass sie gleich etwas bekommen. Wer weiß, wann sie das letzte Mal was gegessen haben.«

Die Pappbecher, in denen der Couscous serviert wurde, waren nicht gerade groß.

»Davon soll man satt werden?«, wunderte ich mich. »Die Leute haben bestimmt riesigen Hunger!«

»Es ist besser, wenn sie erst mal kleinere Mengen Essen zu sich nehmen. Man weiß nicht, wann sie zuletzt was im Magen hatten«, erklärte Lena.

Ötzi, der gerade ein Tablett mit Essen zu unseren Gästen hinaustragen wollte, machte ein gequältes Gesicht:

»Mehr könnte ich auch gar nicht tragen, auch wenn ich der Ötzi bin.« Er tat, als ob er unter der Last der karg befüllten Becher zusammenbrechen würde. Ich freute mich über die Leichtigkeit seiner Sprüche – nahmen sie der Situation doch ein bisschen die Tragik …

In der Küche wurde es immer nebliger und heißer. Als ein Tablett zum Austeilen bereitstand, ergriff ich die Gelegenheit, um an Deck zu gehen, raus aus der stickigen Küchenluft.

Die Treppe hoch, an der Brücke vorbei und dann links, viel weiter kam ich nicht. Das Achterdeck war so überfüllt, dass sich mein Tablett im Nu leerte.

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte ich denjenigen, die erwartungsvoll die Hand ausgestreckt hatten und nun leer ausgehen mussten. Die Enttäuschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, aber keiner murrte auf. Diese Menschen waren Meister­innen des geduldigen Wartens, das beeindruckte mich, da Geduld nicht meine Stärke ist.

Als ich mit einem gefüllten Tablett wiederkam, wurde ich von einem korpulenten Mann mit einem gestreiften T-Shirt aufdringlich nach Essen gefragt. Er saß auf den Knien und reckte beide Hände zu mir hoch. »Ich habe Hunger!«, sagte er immer wieder auf Englisch. Vor seinen Füßen stand aber ein leerer Becher, er hatte schon seine Ration Couscous gehabt.

»Tut mir leid, aber du hast schon etwas bekommen, ich hoffe, es reicht für alle«, antwortete ich ihm.

Er ließ nicht locker. Weiterhin streckte er seine breiten Hände zu mir aus und wiederholte seinen Satz immer lauter. Ich wurde ärgerlich. Dieser Mensch war in einem besseren Zustand als die meisten unserer Gäste. Sah er denn nicht ein, dass andere, die viel schwächer waren, auch Hunger hatten?

»Es geht nicht!«, sagte ich gereizt und ging weiter.

Als alle unserer Gäste versorgt waren, überkam mich plötzlich ein Heißhunger nach etwas Süßem. Ich lief zu meiner Kabine und kam mit einer Tüte Gummibärchen zurück, die ich auch den anderen in der Küche anbot.

»Sind die auch vegan?«, hob Ötzi skeptisch seine rechte Augenbraue.

»Ja, und auch noch sauer, die besten, die es gibt!«, erwiderte ich erfreut. Endlich einer aus der Crew, der sich als Veganer outete.

Während ich die prickelnde Süße auf der Zunge spürte, hatte ich auf einmal ein schlechtes Gewissen. Am liebsten hätte ich die restlichen Gummibärchen draußen an unsere hungrigen Gäste verteilt, aber wo sollte ich anfangen und wo aufhören? Dann fiel mir der korpulente Mann im gestreiften T-Shirt ein. Ich hätte ihm ruhig eine zweite Portion Couscous geben können, wir hatten heute genug Essen. Warum war ich so sauer geworden?, fragte ich mich. Er war offenbar an größere Mengen Nahrung gewöhnt. Aber mir ging es ums Prinzip: Ich kann es einfach nicht ausstehen, wenn jemand ohne Rücksicht auf die anderen auf seinen Vorteil bedacht ist.

Und ich fragte mich, warum er im Vergleich mit den anderen Geflüchteten von so stattlicher Natur war. Und warum er glaubte, dass ihm mehr zustehen würde als den anderen. Was für eine Vorgeschichte hatte er? Ich erinnerte mich an Zeitungsnachrichten, in denen es hieß, dass es auf Rettungsschiffen und auf dem europäischen Festland Fälle gab, wo Folterer erkannt wurden. Aber es stand ja unseren Gästen nicht auf die Stirn geschrieben, ob sie Opfer oder Täter sind. Andererseits: Würde ich wirklich jemanden nicht vor dem Ertrinken retten, wenn ich wüsste, dass er andere gefoltert oder getötet hat? Wie kam ich überhaupt darauf, mir solche Gedanken zu machen? Könnte ich einen brutalen Mörder ertrinken lassen, wenn ich die Wahl hätte?

Würde ich nicht unrecht tun, überließe ich ihn einfach seinem Schicksal?

Dieser Gewissenskonflikt wurde sowohl vom Grundgesetz meines Landes (in Artikel 3) als auch von der Menschenrechts­charta der Vereinten Nationen aufgenommen, wo es im Artikel 1 heißt, dass »alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren« sind. Die UN-Menschenrechtscharta und unser Grundgesetz wurden nach den schrecklichen Kriegserfahrungen seitens der Staatengemeinschaft verfasst, um ein ziviles, humanitäres Miteinander auch in Kriegs- und Krisenzeiten einzufordern.

Mit diesen Inhalten bin ich groß geworden. Auch wenn mich in der Schule die endlosen Debatten in den Fächern Politik und Geschichte genervt hatten, erkenne ich heute, wie wertvoll und bedeutsam diese Menschenrechte für ein humanes und zivilisiertes Miteinander sind.

Die identifizierten Folterer, von denen ich in den Nachrichten gelesen hatte, stehen vor Gericht. Aber ich bin nicht in der Position einer Richterin, ich entscheide nicht über Täter und Opfer, denn das Recht auf Leben haben beide – auf der Lilly rette ich Menschen aus Seenot.

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