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Die Erziehung von Genies

»Jedes Kind kann mit der richtigen Anleitung überragende Resultate in einem beliebigen Bereich erreichen.«

Lászlo Polgár

Kann ein beliebiges Kind unabhängig von Geschlecht und Abstammung Höchstleistungen in einem beliebigen Bereich erbringen? Spielt es eine Rolle, ob die Eltern oder ein Familienmitglied eine höhere Bildung haben? Ist eine Voraussetzung, damit aus einem Kind ein guter Schachspieler wird, dass ein Elternteil oder beide Eltern gute Schachspieler sind?

Eine kompromisslose Methode

Das extremste Beispiel aus der Schachszene sind die drei ungarischen Schwestern Susan, Sófia und Judit Polgár. Ihr Vater Lászlo Polgár behauptet in seinem Buch Die Erziehung von Genies, dass jedes beliebige Kind enorme Resultate in einem beliebigen Bereich erreichen könne.4 Voraussetzung dafür ist seiner Ansicht nach, dass die richtigen Grundlagen geschaffen werden müssen und dass fehlende angeborene Eigenschaften durch harte Arbeit ausgeglichen werden.

Diese Theorie ähnelt ein wenig der Überzeugung Malcolm Glad-wells, der behauptet, es seien zehntausend Trainingsstunden notwendig, um in einer Sportart in die Spitze vorzustoßen. In seinem Buch Überflieger versucht Gladwell zu erklären, welche Komponenten nötig sind, um Erfolg zu haben. Er führt mehrere gute Beispiele an, warum man über einen Zeitraum von zehn Jahren etwa diese Stundenzahl qualitativ hochwertiger Trainingseinheiten absolvieren muss, um in einer Sportart extrem gut zu werden.

Auch Magnus Carlsen hatte laut Angaben seines Vaters ungefähr zehntausend Stunden mit Schach verbracht, als er mit fünfzehn Jahren in die erweiterte Weltelite vordrang.

László Polgár hatte sich von vornherein für ein Experiment entschieden. Er suchte eine kluge Frau, die ihm sechs Kinder gebären sollte, und er wollte jedes dieser Kinder auf einem bestimmten Gebiet zu einem Genie erziehen. Es wurden schließlich nur drei Kinder, alles Mädchen, aber alle wurden ab ihrem vierten Lebensjahr systematisch zu Schachspielerinnen ausgebildet. Später wurden sie von der Schule genommen, spielten acht bis zehn Stunden am Tag Schach und reisten mit ihrem Vater zu Turnieren. Alle drei Mädchen erreichten die Weltspitze bei den Frauen. Die Jüngste, Judit, war der Konkurrenz vollkommen überlegen. Ihr gelang es sogar, in der Weltrangliste der Männer unter die besten Zehn zu kommen. Ein ziemlich ungewöhnliches Experiment, das mit einem aufsehenerregend guten Ergebnis endete.

Damit ein solches Unterfangen gelingt, muss das jeweilige Kind vermutlich bessere Voraussetzungen als andere mitbringen. Beim Beispiel der Polgár-Schwestern darf man ihre Eltern nicht vergessen. Beide verfügten über eine hohe Bildung, und zweifellos lagen ihre Veranlagungen und Fähigkeiten über dem Durchschnitt. Der Vater war Ingenieur, die Mutter ausgebildete Lehrerin. László Polgár war ein leidenschaftlicher Schachspieler mit einer Spielstärke auf dem Niveau Henrik Carlsens.

Allerdings zeigt sich, dass kein Elternteil zwangsläufig eine hohe Elo-Zahl haben muss, damit das Kind ein guter Schachspieler wird. Unter den hundert besten Spielern der Welt gibt es niemanden, dessen Vater oder Mutter den Titel eines Großmeisters errungen hat. Nur ein Spieler hat einen Vater, der Internationaler Meister (IM) ist: der ukrainische Großmeister Pavel Eljanow.

Es gab auch nie einen Weltmeister, dessen Eltern besonders gute Schachspieler waren. Dagegen ist bei Eltern von Weltmeistern sehr häufig ein höheres Bildungsniveau festzustellen. Dies deutet darauf hin, dass es beim Schach – im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten – kein Vorteil oder gar eine Voraussetzung ist, dass die Eltern selbst zur Weltspitze zählten. Im Gegenteil, offenbar ist es sogar ein Nachteil, und zwar in dem Sinne, dass die Motivation möglicherweise nachlässt, wenn man es nicht schafft, den eigenen Vater im Schach zu schlagen.

Judit Polgár meint: »Die Entwicklung in den ersten sechs, sieben Jahren der Kindheit ist für einen Schachspieler extrem wichtig. Es ist so gut wie unmöglich, unter die Besten der Welt zu kommen, wenn man als Kind nicht von Anfang an Kreativität und intellektuelle Fähigkeiten beigebracht bekommt. Schach war unsere Muttersprache.« Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, ob Judit Polgárs Behauptung stimmt. Wahrscheinlich aber schon.

Eine Besonderheit des Polgár-Experiments war, dass es sich bei den Probanden um Mädchen handelte. Man sollte meinen, dass Mädchen und Jungen bei der Geburt die gleichen Voraussetzungen mitbringen. Falls das zutrifft, müssten Mädchen sich genauso gut wie Jungen behaupten. Das ist definitiv nicht der Fall. Judit Polgár ist die einzige Schachspielerin, die sich jemals in der männlichen Weltelite etablieren konnte.

Man muss auf die Schachgeschichte zurückblicken, um die Gründe zu verstehen. Schach war normalerweise ein Spiel für Männer.5 In mehreren Ländern der Erde war Schach verboten. Und wenn es zugelassen wurde, war es oft ausschließlich Männern gestattet. Da Schach als Kriegsspiel bekannt ist, bei dem das erklärte Ziel streng genommen darin besteht, dem Gegner das Leben zu nehmen, ist es keine Überraschung, dass das Spiel lange nur Männern vorbehalten war.

In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Schachspielerinnen immer mehr zugenommen, vor allem junge Frauen zeigen zunehmend Interesse. Trotzdem gibt es nach wie vor eine strikte Trennung von Jungen und Mädchen. Bei Turnieren können Mädchen in der Gruppe der Jungen spielen, aber nicht umgekehrt. Der Grund liegt zum Teil in der Rekrutierung der Schüler. Es ist schwierig, Mädchen zu bewegen, sich an einer Aktivität zu beteiligen, die so von Jungen dominiert wird. Daher wurden eigene Mädchengruppen eingeführt. Doch diese Regeln können sich ändern. Über kurz oder lang werden sie sich sicherlich nicht mehr so behandeln lassen.

Judit Polgár gehört zu den Frauen, die sich weigern, an reinen Frauenturnieren teilzunehmen. Sie ist eine Pionierin unter den Schachspielerinnen – und sie war vor ihrem Karriereende stärker als fast alle Männer auf der Welt.

Magnus’ familiärer Hintergrund

Es gibt genügend Beispiele, dass Kinder erfolgreicher Eltern selbst Erfolg haben. Trifft dies in Magnus Carlsens Fall auch zu? Es ist interessant, sich ein bisschen mit Magnus’ Stammbaum zu beschäftigen. Mit dem Stammbaum eines Kindes kann man kaum etwas beweisen, aber es ist nun einmal so, dass der Weltmeister Magnus Carlsen ein ganz spezielles genetisches Erbe aufweist. Eine kleine Untersuchung der mütterlichen und väterlichen Seite liefert ein paar erstaunliche Informationen. Fangen wir bei der Mutter an.

Mutter Sigrun hat Chemie an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim studiert, aber nie Schach gespielt. Ihr Lieblingsfach war allerdings immer Mathematik. Sigruns Vater, Sverre Øen, war Elektroingenieur und spielte mit seinen Schulkameraden Schach. Sverre Øen war mit Berit verheiratet, einer Chemikerin. Die Lieblingsfächer von Sigruns Eltern waren die Naturwissenschaften.

Sigruns Großeltern väterlicherseits besuchten keine weiterführende Schule, beide spielten auch nicht Schach. Dies gilt auch für ihre Großeltern mütterlicherseits. Wie viele Norweger in dieser Zeit besaßen sie einen Hof. Sigrun Carlsen beschreibt Magnus’ Urgroßeltern als hart arbeitende Bauern.

Auf der väterlichen Seite stehen uns detailliertere Informationen zur Verfügung, und dabei stößt man auf ein erstaunlich hohes Bildungsniveau, das mehrere Generationen zurückreicht. Henrik Carlsen war ein sehr guter Schüler, vor allem im Fach Mathematik. Er konnte exzellent Kopfrechnen. Als Erwachsener wurde er Ingenieur, sein Interesse an der Mathematik hielt also auch nach der Schule noch an.

Henriks Bruder Fredrik ist Professor für Sozialwirtschaft. Auch er zeigte mathematische Fähigkeiten, die weit über den Durchschnitt hinausgehen. Fredrik kann sich nicht erinnern, dass er im Kopfrechnen so gut war wie Henrik, berichtet aber, er habe in Mathematik immer ausgezeichnete Noten bekommen. Ihre Schwester Birte, Magnus Carlsens Tante, machte in den USA einen Masterabschluss in Mathematik.

Magnus’ Großvater väterlicherseits, Kurt Magnus Carlsen, wuchs in Bergen auf. Er verließ die weiterführende Schule als bester Schüler seines Jahrgangs mit Bestnoten in sämtlichen Fächern. Er studierte ebenfalls an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim, wurde Diplomingenieur und spezialisierte sich auf Metallurgie. Kurt Magnus Carlsen wurde Leiter von Norsk Hydro Aluminium. Als Henrik Carlsen, lange nachdem der Vater in Rente gegangen war, bei derselben Firma eingestellt wurde, war dies nicht die schlechteste Voraussetzung, wie er erzählt: »Vater war oberster Chef bei Hydro Aluminium, und als ich mich bewarb, erinnerte man sich noch gut an ihn. Mir wurde mir erklärt, er habe die Aluminiumsparte des Unternehmens aufgebaut.«

Kate, Magnus’ Großmutter väterlicherseits, holte als Erwachsene ihr Chemiestudium nach und schloss es in den USA mit Diplom ab. Das Besondere an Kates Familie war, dass sechs von sieben Geschwistern die Universität besuchten. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war es höchst ungewöhnlich, dass sämtliche Kinder die Möglichkeit bekamen, ein Universitätsstudium zu absolvieren. Die Geschwister studierten Mathematik, Ingenieurswesen, Geologie, Medizin und Chemie. Eines der Kinder besuchte eine Gärtnerschule, und nur das Mathematikstudium wurde ohne Abschluss beendet.

Henriks Grußmutter väterlicherseits hieß Berta Ølmheim, wuchs in Sogndal auf und heiratete Albert Herman Carlsen. Sie war für ihre Willensstärke bekannt und galt als außerordentlich kluge Frau mit eindeutigen Meinungen. Albert Herman Carlsen hatte eine Halbschwester, die eine begeisterte Leserin war und ein fantastisches Gedächtnis hatte. Es hieß, sie könne sich sogar an die Seitenzahlen der Texte erinnern, die sie gelesen hatte.

Betrachtet man Magnus Carlsens Stammbaum auf der väterlichen Seite, zieht sich das Fach Mathematik wie ein roter Faden durch die Generationen.

Mathematik wird häufig mit Schach in Verbindung gebracht. Sehr viele gute Schachspieler zeigen großes Interesse an einem Studium der Informatik, der Mathematik oder eines anderen Faches, das mathematische Fähigkeiten erfordert. Einige Weltmeister haben auf diesen Zusammenhang explizit hingewiesen.6

Magnus’ drei Schwestern sind ebenfalls mathematisch begabt. Die älteste Schwester Ellen studiert Medizin. Die beiden anderen, Ingrid und Signe, haben auf dem Gymnasium Bestnoten im Fach Mathematik.

Daher ist es schon erstaunlich, dass Magnus Carlsen auf der weiterführenden Schule nicht sonderlich gut in Mathematik war. Allerdings gibt es dafür eine schlichte Erklärung: Schon früh verlor er das Interesse an Mathematik. Dies hing damit zusammen, dass immer öfter Gleichungen mit x oder y und Kurvendiskussionen auf dem Lehrplan standen. Henrik Carlsen ist der Ansicht, dass Magnus bis heute nicht weiß, wofür ein x eigentlich steht. Auf dem Gymnasium, das Magnus wegen zu hoher Fehlzeiten ohne Abschluss verließ, hatte er in Mathematik meist eine Vier, im besten Fall eine Drei.

Dies bedeutet nicht, dass Magnus keine mathematischen Fähigkeiten besäße. Aber Mathematik war ihm zu langweilig, und er verstand nicht, warum er sich in diesem Fach anstrengen sollte.

»Meine Eltern haben mich gedrängt, einen ordentlichen Schulabschluss zu machen. Ich habe aber nie bereut, dass ich das getan habe, was mir am besten gefiel: Schach spielen.«

Man sagt, Schach sei die Verbindung von Rechnen und Harmonie. Musiker können ihre Noten lesen und die Musik hören, ohne dass sie gespielt wird. Auf die gleiche Weise können Schachspieler die Notation von Schachpartien lesen und visualisieren. Nach dem Schachspieler und Musiker François Philidor wurde eine Eröffnung (1. e4 e5 2. Sf3 d6) sowie eine Technik im Turmendspiel benannt – die sogenannte Philidor-Stellung. Er wurde als Komponist bekannt, dessen Werke noch immer gespielt werden, und er war im 18. Jahrhundert lange einer der stärksten Schachspieler der Welt.7

Die Schwestern Gara

Die jüdischen Schwestern Gara sind weit weniger bekannt als die Schwestern Polgár. Auch sie stammen aus Ungarn, doch ihre Geschichte blieb außerhalb ihrer Heimat erstaunlich unbeachtet.8 Anita und ihre Schwester Ticia sind heute Schachprofis, sie spielen von Kindesbeinen an Schach.

Ihr Vater, der heute fast achtzigjährige Imre Gara, ist Arzt, und der Zufall wollte es, dass der Großvater der Polgár-Schwestern in demselben Krankenhaus behandelt wurde, in dem Imre Gara arbeitete. Als László Polgár zu Besuch kam, erzählte er von der Schachkarriere seiner Töchter. Er garantierte, dass die Schwestern Gara, die damals fünf beziehungsweise sechs Jahre alt waren, in die Weltspitze im Schach vordringen würden, wenn sie seinen Plan befolgten. Imre Gara war begeisterter Schachspieler und hatte eine Spielstärke im Bereich von Henrik Carlsen, kein Wunder also, dass er die Idee interessant fand.

Etwa zur gleichen Zeit entdeckte die Leiterin von Ticias Kindergarten eine Besonderheit. Sie war der Ansicht, dass Ticia weit klüger war als die übrigen Kinder, und empfahl den Eltern, einen Psychologen aufzusuchen. Der Psychologe teilte die Ansicht der Kindergärtnerin und schlug vor, Ticia solle anfangen, Schach zu spielen.

Imre Gara hörte das gern. Er und seine Frau trafen eine Entscheidung. Sie wollten Anita und Ticia zu den weltbesten Schachspielerinnen erziehen.

László Polgár entwarf ein Trainingskonzept, das mit dem Plan identisch war, den er für seine Töchter entwickelt hatte. Ein Aktionsplan, der hundertprozentig eingehalten werden sollte. Er erklärte unmissverständlich, dass die gewünschten Resultate nicht erzielt werden könnten, wenn die Vorgaben nicht Punkt für Punkt erfüllt würden. László Polgár begleitete die Erziehung der Schwestern mehrere Jahre lang, er motivierte die Eltern wie auch die beiden Kinder.

Wie sollten aus zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren, die zuvor nie eine Schachfigur in der Hand gehabt hatten, die besten Schachspieler der Welt werden? Anita und Ticia waren zu dieser Zeit sportlich sehr aktiv. Die Mädchen spielten Tennis und Tischtennis, gingen in die Tanzschule und schwammen. Im Winter liebten sie es, Ski zu fahren und Schlittschuh zu laufen. Sie spielten mit anderen Kindern. Ticia ging in den Kindergarten, Anita in die erste Klasse. All dies wurde nun komplett auf den Kopf gestellt.

Laut Trainingsplan sollten die Mädchen pro Tag sieben bis acht Stunden Schach spielen oder Schachunterricht bekommen. Daneben hatten sie weiterhin die Gelegenheit zu anderen sportlichen Aktivitäten, aber weit weniger, als sie es gewohnt waren. Ein bisschen Sport war gut, aber nicht zu viel. Filme, Konzerte, Fernsehen, andere Spiele als Schach, Spielen mit anderen Kindern, Lesen oder sich einfach nur unterhalten, all dies waren aus László Polgárs Sicht störende Faktoren.

Für Anita und Ticia wurde eine Regelung gefunden, die sie vom Schulunterricht befreite, allerdings mussten sie jedes Halbjahr eine Prüfung ablegen. Die Eltern unterrichteten sie daheim. Besonderer Wert wurde auf das Erlernen von Sprachen gelegt. Dies war ein Teil von Polgárs Plan.

Sie lernten Esperanto und vor allem Englisch. Allerdings sei es nicht gut, zu viele Sprachen zu lernen. Laut László Polgár würde sich dies negativ auf die Schachentwicklung auswirken. Eine der Polgár-Schwestern, Susan, hatte sieben Sprachen gelernt, und ihr Vater war überzeugt, dass darunter ihre Fähigkeiten im Schach gelitten hatten.

Ein Teil des Plans sah vor, dass die Kinder sehr gute Trainer bekamen, einen Experten für jede Partiephase. »Sehr häufig waren vier, fünf Trainer gleichzeitig bei uns. Wir hatten einen Spezialtrainer für alle Teilbereiche. Einen für Eröffnungen, einen für das Mittelspiel, einen für das Endspiel, einen für Blitzschach und einen für Blindschach.«

Die Eltern wollten ihren Kindern mit Schach zu einem guten Leben verhelfen. Sie sollten Sprachen lernen, viel reisen, durch Turniersiege Geld verdienen, sie sollten es zu Selbstvertrauen und Wohlstand bringen. Das Problem bestand allerdings darin, dass die Eltern Polgárs Programm nicht Punkt für Punkt befolgten. Imre Gara wollte seine Kinder nicht zu reinen Schach-Nerds erziehen. Er wünschte sich, dass sie sich auch auf anderen Gebieten deutlich besser entwickelten, als das Programm vorsah.

Eine Idee Polgárs bestand darin, die Kinder aus ihren natürlichen Aktivitäten herauszureißen, damit sie sich voll und ganz aufs Schachspielen konzentrierten konnten. Dadurch sollten sich Leidenschaft und Besessenheit für die Kunst des Schachspiels entwickeln. In der Konsequenz hätte dies ein asoziales Leben bedeutet.

»Wir folgten Polgárs Methoden nicht sklavisch. Vor allem schätzten wir andere Aktivitäten, die nichts mit Schach zu tun hatten, aber der Alltag bestand schon hauptsächlich darin, Schachspielen zu lernen«, berichtet Anita, die ältere der beiden Schwestern.

Unabhängig von der konkreten Methode ist Disziplin eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein muss, wenn man die Weltspitze erreichen möchte – ganz gleich, um welche Sportart oder Aktivität es geht. Schach ist da keine Ausnahme. Die Russin Alexandra Kostenjuk, ehemalige Gewinnerin der Frauen-Weltmeisterschaft, berichtete, dass sie ihr Weltklasseniveau nicht dauerhaft halten konnte: »Weitermachen hätte für mich und Judit Polgár bedeutet, in einem Gefängnis zu sitzen. Man muss sich zehn oder zwölf Stunden pro Tag ins Schach vergraben, und ein solches Leben will ich nicht führen.«

Die Schwestern Gara wurden zu einem solchen Leben erzogen. Sie sind mehr oder weniger schon ihr ganzes Leben lang Schachprofis. Beide errangen mehrere ungarische Meistertitel, in einigen Altersklassen haben sie auch bei Weltmeisterschaften Medaillen gewonnen. Anita hatte als Neunzehnjährige eine Elo-Zahl von 2365, ihr höchstes Rating betrug bisher 2405. Ticia erreichte mit siebzehn Jahren 2381 Elo-Punkte, das ist bis heute ihre höchste Notierung.

Wenn sie Kinder bekommen, wollen die beiden Schwestern sie genauso erziehen, wie sie aufgewachsen sind.

Die Welt entdeckt den Mozart des Schachs

»Es gab einen Ort, von dem ich sagen kann, dass ich dort nichts lernte. Die Schule.«

Jens Bjørneboe

Der am 30. November 1990 in Tønsberg im Süden Norwegens geborene Magnus Carlsen war zwölf Jahre alt, als er den Titel eines Internationalen Meisters (IM) errang. Er war damals der jüngste IM und sein Ziel war eindeutig, Großmeister (GM) zu werden. Unter Schachspielern ist dieser Titel von großer Bedeutung. Norwegen hatte 2015 elf Großmeister, und einige von ihnen hatten mehrere Jahre gebraucht, bis ihnen der Titel verliehen wurde.

Zum ersten Mal Vollprofi9

Im Jahr 2003 entschied sich die Familie Carlsen, eines ihrer Autos zu verkaufen, ihr Haus zu vermieten und die Kinder von der Schule zu nehmen. Sie wollten kreuz und quer durch Europa reisen. Ein Sabbatjahr für die ganze Familie, ein anstrengendes, aber erfolgreiches Jahr für Magnus. Zum ersten Mal trat er als professioneller Schachspieler auf. Allerdings wird eine solche Vorgehensweise in Norwegen nicht sonderlich gern gesehen. Man darf in einer Disziplin ruhig zu einem Könner werden, doch sollte man die Regeln des Systems nicht überstrapazieren. Umgekehrt musste ein ganzes Jahr schulfrei nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Kinder weniger lernten. Im Gegenteil. Ziel der Eltern war es, dass die Kinder sich mindestens weiter so entwickelten wie in einem normalen Schuljahr.

Ein alter sechssitziger Transporter, ein Hyundai Van, sollte die Familie Carlsen durch ganz Europa transportieren – von einem Schachturnier zum nächsten. »Von Hunderten Leuten haben wir eine Menge Ratschläge bekommen, wie Magnus trainieren soll, um ein noch besserer Schachspieler zu werden. Sie alle wussten ganz genau, was für Magnus am besten ist«, so Henrik Carlsen.

Mitte August 2003, kurz vor Schulbeginn, ging es los. Mit dem Transporter voller Gepäck verließ die Familie Carlsen Oslo in Richtung Österreich. Die Kinder nannten das Auto einfach den »Kasten«, alle freuten sich auf die Reise. Natürlich gefiel ihnen der Gedanke, ein ganzes Jahr nicht zur Schule gehen zu müssen.

Am 23. August 2003 begann Magnus’ erstes Turnier auf der Reise, das Schwarzacher Open in Österreich. Er spielte sehr stark und hätte fast seine erste Großmeisternorm errungen. Das heißt, er gewann gegen mehrere wesentlich höher eingestufte Gegner. Ein vielversprechender Start in das Schachjahr.

Das nächste Reiseziel war Budva in Montenegro. Hier fanden die Jugend-Europameisterschaften statt. Die Carlsens fuhren über die Alpen, durch Italien und Kroatien. In den Tagen vor der Jugend-Europameisterschaft bestand ihr Alltag darin, historische Stätten zu besuchen, zu baden und Spaß zu haben. Allerdings war von vornherein festgelegt, dass die Kinder täglich eine Stunde mit Schularbeiten verbrachten. Im Großen und Ganzen wurde diese Vereinbarung eingehalten.

Bei der Europameisterschaft führte Magnus nach sieben Runden souverän mit 6,5 Punkten. In den letzten zwei Partien war er jeweils klarer Favorit, brachte es aber fertig, beide zu verlieren. Er erreichte den dritten Platz in der Gruppe der Jungen unter vierzehn Jahren. »Es war verdammt ärgerlich, dass ich kein Gold geholt habe«, erklärte er später, »aber der Frust ging schnell vorbei.«

Schon bald gab es neue Möglichkeiten. Sechs Tage nach der Europameisterschaft kam das nächste Turnier, der Europacup der Vereinsmannschaften. Austragungsort war Kreta. Für die anderen Familienmitglieder war die Insel der perfekte Urlaubsort. Meer und Sonne, und überall gab es antike Stätten wie die über zweitausend Jahre alten Ruinen des Palastes von Knossos zu besichtigen. Alle Kinder mussten einen Aufsatz über den Palast schreiben, auch Magnus.

Norwegen hatte nie eine Mannschaft entsandt, die auch nur in die Nähe einer Spitzenplatzierung gekommen wäre. Bis dahin hatten die Osteuropäer die Ergebnislisten souverän dominiert. Magnus sollte für Asker antreten, einen Vorort von Oslo, und er bekam die Möglichkeit, am ersten Brett zu spielen. Dort sitzt der stärkste Spieler einer Mannschaft. Erneut erhielt der zwölf Jahre alte Junge die Chance, seine erste Großmeisternorm zu erringen.

Leider erkrankte Magnus direkt vor dem Turnier an einem Magenvirus. In Budva waren mehrere Spieler krank gewesen und hatten Magnus angesteckt. Während der gesamten Reise hatte er schlapp und kränklich hinten im »Kasten« gelegen. Als die Familie Carlsen auf Kreta ankam, war noch keine wesentliche Besserung eingetreten, »doch ich hatte mich so darauf gefreut zu spielen. Ich glaube, dadurch wurde ich gesund«, so Magnus.

Die besten Schachspieler der Welt waren versammelt, und Magnus holte 3,5 von 7 Punkten. Eine durchaus imponierende Leistung, wenn man bedenkt, dass er zu Beginn des Turniers noch krank war. Für eine GM-Norm reichte das Ergebnis allerdings nicht.

Das nächste Ziel war die Junioren-Weltmeisterschaft. Von den historischen Stätten auf Kreta ging es an den nächsten Urlaubsort, auf die griechische Halbinsel Chalkidiki. Auf dem Weg dorthin machte die Familie einen Abstecher zum Olymp, dem Berg der Götter, und besichtigte in Athen natürlich die Akropolis. Auf diesem Teil der Reise hatten die Multiplikationstabellen auf dem wöchentlichen Schulplan gestanden. Magnus und seine große Schwester Ellen waren ausgezeichnet im Kopfrechnen.

Rund zweitausend Schachspieler sowie Eltern und Organisatoren der Reisegruppen hatten sich in dem kleinen Dorf Kallithea versammelt, darunter eine große norwegische Schachdelegation mit fast zwanzig Personen. Außerdem hatten Henrik Carlsens Eltern beschlossen, ihren Urlaub in Kallithea zu verbringen.

Für Magnus ging es wieder um eine Medaille. Aus seiner Sicht hatte er sich bei der Europameisterschaft blamiert und sann auf Revanche. Das Turnier begann gut, doch dann wurde Magnus erneut krank. Das Turnier endete für ihn mit einem enttäuschenden neunten Platz.

»Eine Weile überlegte ich, ob das Programm nicht doch zu hart für Magnus war. Nach seinem Ergebnis bei der Weltmeisterschaft machte ich mir Sorgen, doch als Magnus nach seiner Krankheit wieder zu Kräften gekommen war, gab es keinen Zweifel, dass wir ihn weiterhin Turniere spielen lassen würden«, berichtet Henrik Carlsen.

Bei Turnieren, an denen die besten Jugendspieler teilnehmen, spielt das Rating keine so entscheidende Rolle. Dennoch haben viele Spieler großen Respekt, wenn sie bei normalen Turnieren auf jüngere Talente treffen, die sich mit aller Macht im Rating verbessern wollen. Und das nicht ohne Grund. Die zehn, zwanzig besten Spieler einer Junioren-Weltmeisterschaft strotzen normalerweise vor Selbstvertrauen und Dynamik; die meisten glauben, sie können Weltmeister werden.

In den traditionsreichen Schachnationen wie Russland und der Ukraine ist es üblich, dass die besten Spieler eigene Sekundanten haben, was ihnen einen großen Vorteil verschafft. Die Sekundanten analysieren vorher die Partien des Gegners, um Informationen über dessen Spielanlage zu bekommen, und legen ihrem Spieler einen entsprechenden Plan für die jeweilige Partie zurecht. Magnus Carlsen hatte keine Sekundanten, bevor er sich der Weltspitze näherte.

Trotz seines schwachen Resultats bei der Junioren-Weltmeisterschaft hatten einige Beobachter bemerkt, wie stark der Norweger in einzelnen Partien spielte. Herausragend war seine Partie gegen seinen Landsmann Hammer, die er mit einem spektakulären Opfer für sich entschied. »Nach der Junioren-Weltmeisterschaft hatte ich das eindeutige Gefühl, dass ich trotz des schlechten Ergebnisses mit einigen Partien sehr zufrieden sein konnte. Vor allem die erste Runde gegen Jon Ludvig Hammer, in der ich die Dame opferte, um ihn direkt danach mattzusetzen, gefiel mir gut«, erinnert sich Magnus.

Das nächste Reiseziel der Familie gilt als eines der schönsten der Welt. Direkt am Fuß des Vulkans Ätna liegt das pittoreske Taormina auf Sizilien. Henrik Carlsen schlug seinem Sohn vor, in den ersten Partien des Turniers jeweils Remis anzustreben, weil er noch immer ein wenig kränkelte. Doch Magnus folgte dem Rat seines Vaters nicht. Die erste Partie ging er offensiv an und musste bereits nach siebenundzwanzig Zügen aufgeben. Seine Chance, sich eine GM-Norm zu sichern, war damit erheblich kleiner geworden. Da die Voraussetzung für eine Norm 7 aus 9 war, musste er in den letzten acht Runden 7 Punkte erzielen, was vollkommen unrealistisch war. Unterm Strich endete das Turnier mit einer soliden Leistung und insgesamt 5,5 Punkten. Seine wiederholt erfolglosen Versuche, eine GM-Norm zu erringen, zeigen auch, wie groß der Unterschied zwischen dem IM- und dem GM-Titel ist. Magnus wollte diesen Titel in der kürzestmöglichen Zeit, am liebsten innerhalb eines Jahres erringen. Damit wäre er der weltweit jüngste Großmeister aller Zeiten gewesen.

Es wurde Dezember. Natürlich war es für alle Mitglieder der Familie Carlsen ungewohnt, mehrere Monate am Stück im Auto zu leben. Viel Zeit verbrachten sie damit, von einem Ort zum anderen zu fahren. Das Waschen der Kleidung war auch nicht immer einfach, dasselbe galt für den Einkauf von Lebensmitteln und das Zubereiten der Mahlzeiten. Alle waren sich aber einig, dass dies zu dem großen Plan gehörte, Magnus’ Entwicklung zu einem besseren Schachspieler zu fördern.

»Wir hatten keine besonders große Sehnsucht nach der Schule, aber wir vermissten unsere ganzen Freunde, besonders unsere kleine Schwester Signe«, erzählt Magnus’ ältere Schwester Ellen. »Trotzdem hielten wir zusammen, und im Nachhinein gibt es gar keinen Zweifel, dass es ein positives halbes Jahr war. Ich glaube, auch Magnus hat davon profitiert. Sein Verhältnis zu seiner Familie wurde noch enger, und dies gab ihm eine Sicherheit, die einfach von großem Nutzen war.«

Sigrun Carlsen, seine Mutter, hatte ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Schach: »Bei einigen Turnieren sieht es so aus, als würde er so sehr leiden, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen und nach Hause bringen würde. Zum Glück bekomme ich ständig zu hören, dass er das Schachspielen liebt, das hilft mir ein wenig.« In dem halben Jahr auf Reisen übernahm Sigrun Carlsen weitgehend die Aufgabe einer Lehrerin ihrer vier Kinder.

Nach einigen Monaten, in denen es auch im Süden Europas kühler wurde, bekam die ganze Familie Heimweh. Sie wollten Weihnachten zu Hause verbringen. Magnus’ dreizehnter Geburtstag wurde in Rom gefeiert, sie besuchten den Vatikan und das Kolosseum. Wenig später zeigte die Kompassnadel nach Norden. Der »Kasten« war bereit für eine lange Reise über Florenz nach Ungarn. In Budapest fand Mitte Dezember noch ein großes Schachturnier statt, an dem Henrik, Ellen und Magnus Carlsen teilnahmen. Magnus spielte ein gutes Turnier, verfehlte aber einmal mehr die Großmeisternorm.

Am 20. Dezember fuhren sie weiter Richtung Norden. Einen Tag vor Heiligabend saß Magnus mit seinem Schachtrainer Simen Agdestein zusammen und analysierte Partien. Sie kamen zu keinem Ende, und Magnus fragte, ob sie morgen weitermachen könnten. »Aber morgen ist doch Heiligabend«, erwiderte Agdestein.

Seit er anfing Schach zu spielen, hatte Magnus Carlsen fünf Trainer. Bjarte Leer-Salvesen war sein Lehrer im Freizeitangebot der Grundschule, Torbjørn Ringdal Hansen half ihm, sich von 900 auf 1900 Ratingpunkte zu verbessern, ein Sprung, für den der Junge lediglich ein Jahr brauchte. Magnus kam schachlich aus dem Nichts und spielte nun regelmäßig mit Erwachsenen, die seit zwanzig, dreißig Jahren vor dem Brett saßen. Im Alter von zehn Jahren wurde Simen Agdestein sein fester Trainer und arbeitete mit ihm zusammen, bis Magnus als Dreizehnjähriger zum zweitjüngsten Großmeister der Welt ernannt wurde. Eine hervorragende Entwicklung. Von da an unterrichtete ihn der damals beste Schachspieler Skandinaviens, der Däne Peter Heine Nielsen. Trainer zählen, so Henrik Carlsen, zu den wichtigsten Bausteinen auf dem Weg an die Weltspitze: »Alle Trainer waren für Magnus sehr wichtig. Sie spielten in den unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung eine einzigartige Rolle.«

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