Kitabı oku: «Visitors - Die Besucher», sayfa 6

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Der Schraubenzieher hatte die Rückwand aufgerissen. Die Prothese hatte sich von dem Beinstumpf gelockert und war durch das Hosenbein nach vorn geschlüpft. Der Winkel des Beines war bizarr und der Anblick unerträglich. Aufgeregte Stimmen und ein trockenes Schluchzen der Frau.

Ein Arm wand sich durch den Spalt und führte aus dem Handgelenk präzise Bewegungen aus. Der längliche Gegenstand in der Hand setzte die Bewegungen in Muster um, die im Rücken der Liegenden in Rot erblühten. Der Körper der Frau erschauerte. Geschminkte Münder herbeigeeilter Verkäuferinnen kreischten im Quartett. Eine kräftige Frau im himmelblauen Kostüm hatte die Prothese in dem Versuch, die Gestürzte aus der Enge der Kabinen zu zerren vom Beinstumpf gerissen und hielt das Bein mit weit aufgerissenen Augen auf Armeslänge von sich. Selbst als sie in Ohnmacht fiel, hielt sie das Bein umklammert, als sei sie für dessen Wohlergehen persönlich verantwortlich.

Die Rückwand war in ihre ursprüngliche Position zurück geschnappt. Die Kamera entfernte sich rasch und umkurvte ungeduldig Kleiderstangen, um hoch aufgerichtet in der quer zum Tatort liegenden Herrensektion aufzutauchen. Noch einmal flüsterte die Stimme. Man konnte ihr die Mischung aus Triumph und Erleichterung anhören. Das Auge der Kamera war schräg nach unten gekippt. Die Aufnahmen konnten sich nicht zwischen den vorbeilaufenden Schuhpaaren entscheiden. Kurz vor der Rolltreppe wagte die Kamera einen letzten verstohlenen Blick. Er verharrte auf einem zierlichen silbernen Entenkopf, der als Knauf eines eleganten Gehstocks diente. Die Frau in der Kabine würde ihre Gehhilfe nicht vermissen.

Wie jeder ambitionierte Mitbewerber verglich auch Mark das Gesehene mit den Früchten seiner eigenen Anstrengung. Er bemühte sich um Fairness und eine Abwägung nach objektiven Gesichtspunkten. Der Schwierigkeitsgrad und die Originalität des Projekts waren unleugbar hoch, die Umsetzung etwas unelegant, aber immer spannend und von einer atmosphärischen Dichte, die der Improvisiertheit der Situation entsprang. Schweren Herzens wertete er den schwedischen Beitrag höher als er seine eigene Performance einschätzte und sandte das verschlüsselte Raster an den Server der Gemeinschaft.

Um den vor ihm liegenden Arbeitstag zu erleichtern, nahm er noch einmal die Briefe zur Hand. Es waren schnörkellose Zeugnisse einer gepflegten Gesprächskultur, zurückhaltend, aber mit genügend Persönlichkeit versehen, sodass die Zeilen eine gewisse Wärme ausstrahlten. Bislang war es immer so gekommen, dass seine Mutter recht behalten hatte, wenn sie ihn vor der Raffinesse der Frauen warnte, deren Hauptanliegen es nach den Gesetzen der Natur war, sich um ihre Brut zu sorgen und mit ihren Attributen Männer zu locken und an sich zu binden, die die Gewähr für erstklassiges Erbgut und eine lebenslange Versorgung boten.

Wie alle Söhne hatte er die weitschweifigen Ausführungen nicht ernst genommen und war mit bitteren persönlichen Niederlagen in seine Karriere als sexuelles Wesen gestartet. Er hatte es nie vermocht, es gekonnt nach außen zu transportieren, dass große, schwingende Brüste ihn ängstigten, ausladende Hintern eine zu grobe Botschaft aussandten und fleischige Schenkel bedrohlich wirkten wie mächtige Zangen, die unter madonnenhaft gerundeten Mädchengesichtern Knechtschaft für den Mann bewirkten, der sich in ihre Obhut begab. Nicht anders war es mit den rachitischen Geschöpfen und ihren flachen Bäuchen, den dürren Beinen in engen Röhrenjeans und den spitzen Brustansätzen auf den schmalen Brustkörben. Sie waren Imitate von Frauen, eifrig flanierende Modeständer, die ihre Magerkeit in die Waagschale im Kampf um die Aufmerksamkeit paarungswilliger Männer warfen und sich ein hohes Maß an Arroganz leisteten, das von dem gängigen Geschmacksdiktat der Frauenzeitschriften herrührte.

Als persönliche Niederlage empfand er es allerdings, dass er auch bei dem Anblick unspektakulärer Normfrauen keine sexuelle Regung empfand. In einem Alter, in dem sich seine Mutter entschlossen hatte, die Familienplanung ihres Sohnes auf den Weg zu bringen, suchte er noch immer nach dem Auslöser jener adoleszenten Erregung, die bei seinen Altersgenossen zu einem lächerlichen Balzverhalten, zu öffentlich ausgefochtenen Prahlritualen und einem unseligen Hang zu möglichst eng geschnittenen Hosen führte.

Er wusste es zu schätzen, dass seine besorgte Mutter ihm eine schreiend gelbe Badehose bereitlegte, die mit optimistischem Tangaschnitt seine Geschlechtsorgane hob und nach vorne presste und einen gockelhaft stolzierenden Gang erzwang, der in der Badeanstalt eine gewisse Unruhe unter den weiblichen Gästen hervorrief. Sie schien unter dem Eindruck zu stehen, dass das offenkundige Defizit in der Entwicklung eines gesunden jungen Mannes von Erziehungsfehlern herrührte. In vorsichtigen Gesprächsansätzen versuchte sie herauszufinden, ob die mütterliche Besorgtheit als übermäßige Strenge wahrgenommen worden war, sodass für den Sohn eine Annäherung an das weibliche Geschlecht als eine Art Vergehen gewertet würde. Ziemlich direkt, so wie es ihre Art war, sprach sie das Problem der Homosexualität an und erntete nach ungläubigen Blicken ein prustendes Lachen, das sie mehr erleichterte als sie zugeben wollte.

Als Ergebnis blieb nur die Vermutung, dass der weitgehend vaterlos aufgewachsene Junge ein wie auch immer geartetes Defizit mit sich herumschleppte, das sich mit zunehmendem Alter selbst regulieren würde. Der Sohn hatte es stets vermieden, den Kummer der Mutter dadurch zu verstärken, dass er sein Wissen um den Tod des Vaters preisgab. Der verständnisvolle Blick des Hausarztes sprach Bände, als er nach flüchtigem Betasten einen Herzstillstand attestierte und so den Vergiftungstod des Haustyrannen kaschierte. Er war es, der die Verletzungen der Mutter nach den Prügelorgien des Vaters mit finsterer Miene versorgte und die Ausbrüche häuslicher Gewalt unter der Decke hielt, weil ihn ein bittendes Gesicht darum bat. Er war es, der sich nach einer angemessenen Trauerphase mit der Mutter in das elterliche Schlafzimmer zurückzog.

Der Sohn konnte nur spekulieren, glaubte aber dem Kern der Wahrheit nahe gekommen zu sein, wenn er den Arzt als Lieferanten der vielen kleinen Dosen Arsen ausmachte, die den Kaffee des Vaters bereicherten, wenn er nach seinen Seitensprüngen mit Damen zweifelhaften Rufs in den Schoß der Familie zurückkehrte und seinem schlechten Gewissen in gewalttätigen Eruptionen Platz verschaffte. Er pflegte mit der offenen Hand zuzuschlagen, denn als religiöser Mensch unterschied er zwischen gerechter und gottgefälliger Züchtigung und nicht zu rechtfertigenden Prügeln, zu denen nur die unbeherrschten Seelen griffen, deren Platz im Himmel schon zu Lebzeiten verwirkt war. Seine Arme drehten sich wie Dreschflegel im immer gleichen Takt und verwandelten die Mutter in ein wimmerndes Bündel. Das Arsen hatte die erhoffte besänftigende Wirkung auf ihn, und er verlangte nicht mehr den ersehnten Respekt, den er in seine Frau einzubläuen versuchte.

Der Sohn war vor jeder dieser ‚Sitzungen‘ der Eltern auf sein Zimmer geschickt worden, wo er mit untergeschlagenen Beinen tränenüberströmt auf dem Bett saß und sich große, eingespeichelte Stücke von Papiertaschentüchern in die Ohren stopfte, um den Geräuschen zu entgehen, die sich in sein Herz krallten und ihn folterten. Mehrere Male war der Vater nach Sitzungsende in sein Zimmer gekommen und hatte ihn schweigend angesehen, als suche er Bestätigung. Der Junge konnte dem Blick des sehnigen Mannes mit dem erstaunlich vollen Gesicht nicht standhalten. Mit zittrigen Fingern hielt er ein Teppichmesser in den Händen und schob die schiefe Klinge aus dem Futteral. Es war mehr eine Geste der Hilflosigkeit als eine Drohung, aber sie genügte, um dem Vater die gewünschte Botschaft zukommen zu lassen.

Skrupel erwuchsen aus den lange zurückliegenden Vorkommnissen keine und der Junge vermisste weder eine Vaterfigur in seinem Leben, noch machte er seine Mutter für mögliche Defizite in seiner Entwicklung verantwortlich. Das Einzige, was er sich aus dieser Zeit behielt, war die Gewissheit der Nützlichkeit eines Teppichmessers.

Das Schlüsselerlebnis war die Frucht eines schwülen Herbsttages, den er mit Freunden im Schwimmbad verbracht hatte. Kichernde Mädchen in knappen Bikinis vollführten beim Minigolf unbeholfene Verrenkungen, um den Jungmännern Gelegenheit zur körperintensiven Hilfestellung zu geben. Haare wurden zurückgestrichen und Hüften kokett verdreht, während Schminkspiegel ihren Einsatz hatten, um die Wirkung der Bemühungen zu kontrollieren. Mark war von den Ritualen ermüdet. Er hatte einen weiteren Versuch unternommen sich das Feuer des Begehrens anzuerziehen, indem er sich auf ein hübsches Lippenpaar konzentrierte und Bilder heraufbeschwor, die er in einem einschlägigen Magazin gesehen hatte. Tatsächlich vermochte er eine gewisse sehnsüchtige Erwartung zu erzeugen, die halbherzig seine Lenden erreichte und sich sofort verflüchtigte, als der Mund mit breitem Dialekt nichts­sagende Sätze von sich gab. Von dem Ergebnis entmutigt machte sich Mark von dannen.

Er genoss das Alleinsein, wenn er durch die Straßen streifte und beim Anblick der Häuserfronten, der Geschäfte und Fabriken an deren Innenleben dachte, das faszinierend und fremd sein musste, weil es sich vor Blicken schützte. Ohne zu zögern, war er der kleinwüchsigen Frau nachgegangen, deren Gesicht seltsam faltig und greisenhaft war. Sie mochte ihm bis knapp über die Hüfte reichen und ging mit einem militärisch zackigen, stampfenden Schritt, als wolle sie alle die warnen, die in ihr eine leicht zu überwältigende Beute sahen. Beim Gehen waren ihre gedrungenen Gliedmaßen in ständiger Bewegung und langes schwarzes Haar hing über das rote Kleid. Sie hatte keine nennenswert weibliche Figur, sondern bestand aus einer Ansammlung gedrungener Wölbungen, die durch Gelenke zusammengehalten waren. Die Zwergin wirkte wie ein ungesund geschwollenes, vorzeitig gealtertes Kind, das einer schrecklichen Krankheit zum Opfer gefallen war.

Zielstrebig war sie in einem Haus mit einem schmucken Vorgarten verschwunden. Mark hatte sich zurückfallen lassen und die Szene genossen. Er war eifersüchtig auf die braunen Fensterläden, die mehr von der Zwergin wissen mochten als er. Mit schmalen Augen musterte er die Haustür, die mit ihrem abweisenden Gehabe seine Neugierde nur noch stärker anstachelte. Ohne über die möglichen Folgen nachzudenken, umrundete er das Haus und kletterte auf einen Stapel von sauber geschichtetem Brennholz, bis er ein Fenster erreichte, das ihm einen Einblick gewährte. Es war ein verlassenes Badezimmer, schlicht und unspektakulär wie Tausende andere. Die Holzkloben hatten dünne Splitter in seinen Händen hinterlassen. Zwei Fliegen paarten sich auf seinem Handrücken und betupften ohne jede Scham nach vollbrachtem Akt den Schweißfilm auf seiner Haut. Er hatte Durst.

Als der weißhaarige Mann das Badezimmer betrat, wirkte er neben der Zwergin wie ein Riese. Mit winzigen Händen verknotete die Frau die Stricke, die sich um seine Handgelenke und Fußknöchel wanden. Beide wirkten konzentriert und wie ein eingespieltes Team, das darauf achtete, schnell und effektiv zu arbeiten. Mit einem Badetuch unter dem Arm führte die Kleinwüchsige den Gefesselten hinter sich her, wie ein willenloses schlurfendes Bündel. Die Badezimmertür blieb offen und gestattete den Blick in einen weitläufigen Raum mit einer Sitzgruppe. Die untere Hälfte des Mannes wurde durch den Türrahmen abgeschnitten. Die obere Hälfte legte sich gehorsam mit dem Rücken auf den Teppichboden. Der Weißhaarige kippte den Kopf und schloss die Augen. Zierliche Füße mit Zehennägeln in der Farbe reifer Pflaumen balancierten über den Körper. Die Füße stampften auf den Rippenbögen mit der gleichen militärischen Präzision, wie sie zuvor durch die Straßen gelaufen waren. Man konnte sehen, dass der Atem aus den Lungen des Mannes entwich. Die Füße trampelten wie auf einem Blasebalg in einem unbarmherzigen Takt. Der Weißhaarige warf den Kopf zur Seite. Eine senkrechte Ader auf der Stirn schwoll bedenklich an. Der Kopf schnellt nach vorne und der Oberkörper bäumte sich auf, ohne die routinierten Füße abschütteln zu können. Wie bei einem gefangenen Karpfen öffnete sich der Mund des Mannes und schnappte nach Luft. Seine Arme zerrten an der Fesselung. Die Augen traten aus den Höhlen und glotzten ungläubig ins Nichts. Speichelfäden hingen aus dem Mundwinkel. Keiner der beiden hatte einen Ton von sich gegeben.

Der Junge auf dem Holzstapel spürte die Holzsplitter in seinen Händen nicht mehr. Er nahm die Spinne nicht wahr, die sich in seine Haare verkroch. Er hatte keinen Durst mehr. Er war ein Gefangener der beiden Menschen in dem nahen Wohnzimmer, ein stiller Teilhaber einer unerhörten Begebenheit, ein Voyeur ohne eigenen Willen. Sein Gesicht verzerrte sich in einer Spiegelung der Verzückung des Weißhaarigen. Der Junge litt und imitierte, drückte seine Wange dicht an die Scheibe und hielt den Atem an, bis ihm schwindelte.

In einer graziösen Bewegung wie eine Zirkusartistin hatte die Zwergin ihren verwachsenen Oberkörper nach hinten gebeugt. Ihr altes Gesicht verschwand zusammen mit den Unterarmen hinter dem Türrahmen, während die Füße mit den Fersen auf das Zwerchfell des Mannes trommelten. Ihr ungestalter Körper wand sich wie eine Spirale. Der Kopf des Weißhaarigen schlug mehrfach hart auf dem Boden auf. Verzweifelt änderte der Junge seine Position, zerschrammte sich den Knöchel bei dem Versuch nach ganz rechts außen zu kriechen, um doch noch einen größeren Ausschnitt des ungleichen Paares zu Gesicht zu bekommen.

Das Brüllen des Mannes kam unerwartet und brachte den Jungen dazu, sich heftig auf die Zunge zu beißen. Es war ein pfeifendes, röchelndes Brüllen in einer erstickten Tonlage, wie es der Junge noch nie vernommen hatte. Es brach mehrfach ab, um dann mit einer heulenden Ouvertüre wieder aufgenommen zu werden, sich in einem dauerhaften Crescendo zu steigern und nach einem Fortissimo zu ersterben. Erst jetzt sah der Junge, dass die Füße mit den pflaumenfarbenen Nägeln verschwunden waren. Ein winziger Rest des roten Kleides blitzte neben der Barriere des Türrahmens auf. Es bewegte sich in typischer Manier über hart arbeitenden Zwergenhüften. Die Füße vollendeten ihr Werk an einer anderen Stelle und überließen den malträtierten Oberkörper des Mannes dem Brüllen. Als die Beinkolben der Kleinwüchsigen ihre Anstrengungen verlangsamten, ging auch das Brüllen des Mannes in ein Schluchzen und Gurgeln über, begleitet von einem Tränenstrom und einer Ladung Rotz, der ungehindert aus der Nase lief. Dann rollte sich der Körper des Mannes zur Seite.

Der Junge hockte wie in Trance auf dem Holzstapel. Er nahm nicht wahr, dass er seine rechte Hand zwischen seine Beine gekrallt hatte, wo eine pochende Erektion seine Unaufmerksamkeit schmerzhaft bedauerte. Er war nicht mehr daran interessiert, wie die Zwergin nach getaner Arbeit mit geblähten Wangen die Fesseln des Mannes löste und ihm mit einer linkischen Geste das Badetuch reichte, damit er sich reinigen konnte. Es war für ihn nichts Aufregendes an dem Gedanken, dass das Paar in Kürze das Badezimmer aufsuchen würde, um sich frisch und präsentabel zu machen. Sein einziger Gedanke war, sich kletternd und rutschend davonzumachen und so schnell zu laufen, wie es seine Füße vermochten. Blind für seine Umwelt überquerte er Straßen und Plätze, erntete missbilligende Blicke von Passanten und animierte einen bulligen Rottweiler zu einer halbherzigen Beißattacke. An einer modernen Installation, die aus rostfreien Stahlporen Wasserfontänen in ein Kiesbecken spie, hielt er schwer atmend inne und trank mit gierigen Zügen.

Was ihn verstörte, war nicht das Gesehene, sondern die Tatsache, dass er etwas über sich gelernt hatte. Ganz ohne eigenes Zutun hatte das Abnorme der Situation die Erregung bei ihm ausgelöst, nach der er seit geraumer Zeit auf der Suche war. Es war die komplexe Mischung aus Furcht, Selbstekel und der Gewissheit einem abseitigen Akt beizuwohnen, die ihn lähmte durch das unergründliche Verlangen eines geborenen Voyeurs, das ihn innerlich vibrieren ließ.

Der junge Mann hielt seinen Kopf unter den Wasserstrahl, der so kalt war, dass die Haut ertaubte und kümmerte sich nicht um die missbilligenden Blicke der Passanten. Er rubbelte sich mit den Händen durch das Haar und sah die Welt durch die verzerrende Perspektive der Wassertropfen auf seiner Brille. Er fühlte sich leicht und befreit, weil er sich über einen Teil seines Selbst klar geworden war. Jetzt war es nur noch ein kleiner Schritt bis er mit sich auch im Reinen sein würde. Er schlenkerte mit den Armen und spürte die unangenehmen Stiche der Holzsplitter. Seine Mutter würde sie mit einer Pinzette entfernen und mitfühlend seiner Geschichte lauschen, wie es zu dem Vorfall gekommen war. Natürlich würde er ihr die Wahrheit ersparen.

Er hatte ihr gegenüber auch nichts davon erwähnt, was der Auslöser war, der ihn mit nach vorne geneigtem Oberkörper und verzerrtem Gesicht am Sarg seines Vaters taumeln ließ, sodass die wenigen Trauergäste herbeistürzten, um ihm Beistand zu gewähren und die Mutter mit dem Hausarzt schuldbeladene Blicke tauschten. Niemand, der den folgsamen blonden Jungen mit den guten Manieren und dem offenen Blick kannte, hätte vermutet, dass sein Zusammenbruch mit dem Wiederkäuen der letzten Stunden des Verstorbenen zusammenhing. Die graue, klamme Haut, die seine duldsame Mutter mit einem in Franzbranntwein getränkten Schwamm abrieb. Die Koliken, die den selbstgerechten Mann zu Boden zwangen und ihn um den Tod als Erlösung flehen ließen und die Lippen, die in einem fort bebten, ohne Vergebung zu erlangen.

Unendliche Erleichterung, Genugtuung und das Wissen, an einem düsteren Geheimnis teilzuhaben, ohne sich jemals jemandem offenbaren zu können, hatten den sexuellen Höhepunkt ausgelöst. Noch Tage danach hatte sich der Junge vor seinem eigenen Spiegelbild geschämt. Doch jetzt war ihm klar geworden, dass kein Fluch auf ihm lastete. Er war frei von den fruchtlosen Versuchen, sich in eine normale Beziehung einzupassen. Er sparte sich den demütigenden Gang zu den Prostituierten in dem Viertel, das die Stadt zum Straßenstrich auserkoren hatte und von wo er mit dem Gefühl der Niederlage heimkehrte, weil es auch die mütterlich verständnisvollen Huren mit all ihrer Kunst nicht vermochten, seinen Körper dauerhaft zu erregen.

Er akzeptierte die Tatsache, dass gegen die eigene Natur nichts zu erzwingen war und machte sich auf die Suche. Er suchte in winkligen Straßen, an verschwiegenen Plätzen, in den dunklen Nischen vollgestopfter Buchhandlungen und mit den Jahren auch im Internet, das zu seinem persönlichen Messias wurde. Er goutierte Porträts ausgesucht hässlicher Menschen, las mit glühenden Ohren die Ergüsse eines Otto Weininger über das gänzliche Unvermögen der Frauen zur Wahrheit, erschauerte bei dem Gedanken an das Ausweiden der Verstorbenen durch die Geier in der zoroastrischen Religionsmythologie und tat jedes Mal freudig überrascht, wenn ihn das Schicksal mit einem orgiastischen Gefühl belohnte. So war er nach und nach von einem unbedarften Voyeur zu einem geachteten Besucher geworden.

Die Briefe der inhaftierten Frau allerdings mochten sein geordnetes Dasein in andere Bahnen lenken. Er war sich noch nicht schlüssig, welche Rolle ihr zufallen könnte.

Gedankenverloren fuhr er mit dem Zeigefinger liebkosend über den Griff des Teppichmessers. Die Klinge war dunkel und stumpf von geronnenem Blut. Er legte die Briefe aus der Hand und begann das Werkzeug zu säubern. Der nächste Einsatz war nicht fern und nur eine perfekt präparierte Schnittfläche brachte perfekte Ergebnisse.

VII.

Sie hatte die Hände brav gefaltet und korrigierte ihre Position auf der grauen Tischplatte noch einmal mit einem Seitenblick, um sicherzugehen, dass das Arrangement nicht zu künstlich wirkte. Als Beigabe versuchte sie sich an einem scheuen Lächeln, denn er war blond und blond und Lächeln passten sehr gut zusammen.

Die Korrespondenz zwischen ihnen war schnell vertraulicher geworden, überschritt aber nie das schickliche Maß an Distanz, das zwei Werbende halten sollten. Bei seinem ersten Besuch trug er eine ordentlich aufgebügelte Cordjacke und einen schüchternen Gesichtsausdruck, der gut zu seinem karierten Hemd passte. Seine hellen Augen blinzelten hinter der Lausbubenbrille und der runde Schädel mit dem blonden Haarfilz ruckte entschuldigend zur Seite als er umständlich erklärte, das Konfekt, welches er mitgebracht habe, sei von der Anstaltsleitung nicht freigegeben worden.

Sie machte ihm die Freude und fragte in der richtigen Reihenfolge nach dem Befinden seiner Mutter und der Rezeptur des Konfekts. Sie hörte seinen Ausführungen aufmerksam zu und arbeitete mit sparsamer Gestik. Als die Sprache auf die Symptome der Altersdemenz kam und er die Probleme der richtigen Auswahl passender Pflegekräfte anschnitt, erlaubte sie sich den Anflug eines Lächelns, während er seine Anekdoten ausbreitete wie eine Auswahl missglückter Manöver. Mit der Autorität einer Fachkraft, aber im Tonfall wahren Mitgefühls versicherte sie ihm, dass er die Pflege seiner Mutter ausgezeichnet organisiere und die anale Fixierung der tüchtigen Polin kein Grund zur Beunruhigung sei. Mit nach oben gedrehten Augäpfeln tat sie so, als rufe sie sich wissenschaftlich fundierte Werte ins Gedächtnis zurück und dozierte mit weicher Stimme, dass erfahrene Pflegekräfte häufig einen für andere ungesunden Hang zu Desinfektionsmitteln, Hauterkrankungen und Hygieneproblemen im weitesten Sinne hätten.

„Berufskrankheit, eine geradezu zwangsläufige Obsession bei wirklich guten Kräften“, sagte sie voller Überzeugung.

„Interessanter Aspekt – daran hatte ich noch gar nicht gedacht“, erwiderte der üppige Mund unter den blonden Haaren und wiederholte ‚Berufskrankheit‘, als wolle er sich den Begriff für alle Zukunft einprägen. Dabei saugte sich sein Blick an ihren Händen fest, die ihre madonnenhafte Erscheinung in der losen Anstaltskleidung konterkarierten und mehr von ihr preisgaben, als sie offenbaren wollte. Seine Stimme wurde leise und unsicher, obwohl er sich über die besondere Art des Eiskonfekts ausließ, das er für sie mitgebracht hatte. Sie rückte ihren Oberkörper nach vorne und brachte ihre Brüste als Ablenkung ins Spiel, aber sein Blick hing noch immer an den roten verhärmten Händen mit den prominenten Venenkanälen, die die rissige Haut mit einem bläulichen Netz unterspülten.

In drängenderem Ton forderte sie ihn auf, bei Aromen, Pulvern und Kakaomasse mehr ins Detail zu gehen, aber seine Stimme verharrte in der Tonlage relativer Interessenlosigkeit, während er Fakten herunterspulte wie in einem Schulreferat. Er geriet mehrfach ins Stocken, wenn sie ihm die Hände entzog, sie ineinanderschob und schließlich in ihrem Schoß vergrub. Erst dann klärte sich sein Blick langsam wieder auf und sein Stimmvolumen nahm an Lebendigkeit zu.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, dass er von ihren Händen nicht abgestoßen war, sondern ihre Gesellschaft schätzte. Veränderungen hingegen schätzte er nicht und nahm die zaghaften Versuche zur Verbesserung der Handoptik durch das Anstecken eines Bernsteinrings in der Farbe ihrer Haare mit einer Serie skeptischer Blicke zur Kenntnis. Sie benötigten keine weit ausholende Konversation, um zu einer stillen Übereinkunft zu kommen, sondern lediglich einen beiläufigen Blickkontakt, der dazu führte, dass sie ihre geröteten Hände mit Zuversicht präsentierte.

Auf ihr Betreiben hin plauderte er amüsant über sein Berufsleben als freier Handelsvertreter, der sich auf Süßigkeiten aller Art spezialisiert hatte. Es gefiel ihr, dass er die Eigenschaft geschmolzenen Zuckers beim Fertigungsprozess der verschiedensten Bonbons aus erster Hand beschreiben konnte und ehrfürchtig davon berichtete, dass entgegen seiner Prognose Erdbeerbrause mit einer Beimischung von Minze der Renner der Saison war. Er zeichnete mit lebhaften Gesten die Versuchsküchen der Hersteller in die abgestandene Luft und philosophierte über exotische Geschmäcker mit Kombinationen von Ingwer, Basilikum und Curry. Er bewies Hochachtung vor der Fähigkeit, mit einer Unzahl von Billigartikeln riesige Umsätze zu generieren und die Herzen von Menschen zu erobern, die den bunten Verpackungen und dem zarten Schmelz verfallen waren. Die Varianten waren schier unerschöpflich und malten ein Bild von einer heilen Welt. Wenn sie ihm zuhörte, drehte sie die Handflächen ihrer Hände nach oben und neigte sich nach vorne, um sein unschuldiges Lächeln genau in Augenschein zu nehmen.

Im Gegenzug offerierte sie ihm einen nüchternen Blick in ihren Alltag. Sie klagte nicht, sprach nicht über die Einsamkeit und Monotonie oder das gelegentliche Mobbing, das man als Strafgefangener zu erdulden hatte. Hinter ihrer Schilderung der strukturierten Abläufe konnte der aufmerksame Zuhörer die nutzlos verrinnende Zeit, den seelenlosen Widerhall in den Korridoren und die stupiden Beschäftigungen ausmachen. Die Vergangenheit berührte sie mit keinem Wort. Man sprach nur indirekt darüber, wenn man sich mit bekräftigendem Kopfnicken einigte, dass die Dokumentation eine gelungene Situationsanalyse war. Janina hatte den Zusammenschnitt nie zu sehen bekommen.

Für heute hatten sie sich vorgenommen, über die Zukunft zu sprechen. Natürlich war die Zukunft auch schon vorher in ihrer Korrespondenz angeklungen. Auf zwei parallel verlaufenden Schienen hatten ihre Gedanken einen intimeren Verlauf genommen, bis die Zensur dicke schwarze Balken auf das Papier schmierte und sabotierte, dass sich mehr als eine vage Kumpanei entwickelte. Sie hatten gelernt in Andeutungen zu schwelgen und hoben sich das wirklich Wichtige für ihre Blicke auf, die sie sich über den grauen Tisch zuwarfen. Die Aufsichtsperson stand mit verschränkten Armen und einer betont desinteressierten Miene abseits, um die Indiskretion als Unaufmerksamkeit zu tarnen. Bei jeder Änderung der Körperhaltung allerdings spannten sich die Muskeln der Aufsicht und strenge Blicke fixierten die ungehorsame Extremität, die es gewagt hatte, die Ordnung des Strafvollzugs zu verletzen.

Derart gemaßregelt vollzogen sich die Rituale einsilbig und von intensiven Blicken begleitet. Zigaretten der beliebtesten Tauschmarke wurden schweigend überreicht und die kurze Begrüßungsformel hing isoliert im Raum, bevor sie in die allgemeine Sprachlosigkeit tropfte. Mark wirkte wie immer nervös und überspielte die peinlichen Pausen mit einem Stakkato witzig perlender Bemerkungen, die den Gesundheitszustand seiner Mutter einschlossen wie ein angenehm verpacktes Bulletin. Er erzählte seine Anekdoten den gefalteten Händen der Frau, die ihn mit ruhigem Interesse ansah.

Die Hände amüsierten sich über sein ernsthaftes Bemühen zu erläutern, dass sich das Verkosten von Schokoladenpudding blond anhöre und ein knackiger Keks im Rachenraum eindeutig maskulin wirke. Die bei den Kiosk Kids so beliebten Apfelkracher seien schrill und verdrängten die Orangenaromen eines Weichgummis in die Seniorenecke, wo der Geschmack als wohlklingende Sinfonie wahrgenommen werde. Mithilfe besonders geschmacksbegabter Individuen sortiere man die muffig–schlammigen Untertöne aus den Neukreationen aus und lege zunehmend mehr Gewicht auf die akustische Korrektheit der Süßigkeit, die von einem Gefühl der Omnipotenz bis zu einer glucksenden Babyseligkeit eine revolutionäre Generation des Hörschmeckens entstehen lasse.

Die Frau hinter den Händen streute einige wenige Bemerkungen ein, während ihre Augen ruhelos durch den kargen Raum wanderten. Sie entschied, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war und wandte sich zu der blassen Frau in Uniform. Unter normalen Umständen hätte sie einem solchen Experiment nie zugestimmt, aber sie hatte zu viel zu gewinnen. Sie nickte der Beamtin zu. Ein streng nach hinten gebundener Pferdeschwanz und ein freudloser Mund nickten zurück. Noch ein mahnender Blick zur Uhr, das Klirren eines Schlüsselbundes und die beiden waren allein. Die verhärmten Hände der Frau schossen nach vorne und klammerten sich an die Unterarme des Mannes.

Aus unterschiedlichen Gründen hatten sie auf diesen Moment gewartet.

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