Kitabı oku: «Mord aus gutem Hause», sayfa 3

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4. Kapitel

»Das muss bestraft werden, Herr Kommissar.« Mit diesen Worten hatte sie Zweifel zu einem ausführlichen Mittagessen bei sich zu Hause eingeladen. Er ahnte, dass sie dabei erfahren wollte, welcher kühle Grund ihn dazu bewogen hatte, aus heiterem Himmel nach Friedberg umzuziehen. Die Entscheidung kam ganz plötzlich. Die Vorstellung, weitere fünfzehn Jahre in Bad Wörishofen zu verbringen, bis zu seiner Pensionierung, überfiel ihn am Schreibtisch. Er sprang auf, wischte den Ausgangskorb mit dem unvermeidlichen Papierkram impulsiv vom Tisch und riss die Tür seines Büros auf. Lucy fiel vor Schreck die Kaffeetasse aus der Hand, mit der Folge, dass das neueste Rundschreiben des Innenministeriums hellbraun überflutet wurde.

»Das ist vollkommen unmöglich«, rief Zweifel. Lucy starrte ihn verdattert an und schnappte nach Luft.

»Aber das war doch jetzt Ihre Schuld. Lieber Himmel, was für eine Schweinerei!« Sie rieb hektisch am Ärmel ihrer rosafarbenen Bluse, der mit dunklen Tropfen gesprenkelt war. Die Kaffeepfütze breitete sich rasch auf ihrem vollbeladenen Schreibtisch aus und saugte sich zwischen all den Blättern, die lose herumlagen, fest. Ein braunes Rinnsal lief an ihrer Schreibtischunterlage entlang, bis es die Kante erreichte und unerbittlich auf den hellen Teppichboden tropfte. Lucy brachte im letzten Moment Maus und Tastatur in Sicherheit. Sie blickte Zweifel mit großen Augen an und fand keine weiteren Worte. Der schüttelte den Kopf und zwinkerte mit den Augen, als sähe er nicht richtig.

»Lucy! Mir ist gerade etwas klar geworden!«, rief er.

»Mir auch«, erwiderte sie trocken, zauberte eine Rolle Küchentücher unter ihrem Schreibtisch hervor und tupfte energisch und empört den Sumpf auf ihrem Schreibtisch trocken. Ein unangenehm säuerlicher Geruch nach feuchtem Papier und kaltem Milchkaffee machte sich bemerkbar. Zweifel legte beschwörend beide Hände flach auf ihren Tresen.

»Ich muss weg.« Lucy war sehr beschäftigt und hörte nur mit halbem Ohr zu.

»Wer muss das nicht?«, brummte sie. Zweifel winkte ab.

»Das meine ich nicht.« Etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Sie unterbrach ihre Trockenlegungsmaßnahmen und sah ihn stirnrunzelnd an. Er lächelte sie an und nickte.

»So ist es. Ich muss weg.« Eine halbe Stunde später präsentierte er das Versetzungsgesuch seinem Chef Alois Klopfer. Der wäre normalerweise aus allen Wolken gefallen, aber da er selbst kurz vor einem Karrieresprung ins Ministerium nach München stand, blieb er gelassen.

»In Augsburg dürfte mordtechnisch gesehen etwas mehr los sein als in Bad Wörishofen«, meinte er und unterschrieb das Gesuch.

»Ich bin nicht auf der Suche nach Morden, Chef. Ich brauche Veränderung.« Klopfer nickte.

»›Variatio delectat‹, wie der alte Lateiner Gerhard Polt in einem seiner Sketche im schönsten Premium-Bayerisch deklamiert. Aber warum gehen Sie dann nicht gleich nach München?« Zweifel schüttelte den Kopf.

»Ich will nach Augsburg zurück. Vor meiner Berliner Zeit hab ich dort ein paar Monate verbracht.« Er schloss kurz die Augen. »Und die habe ich in bester Erinnerung. Ich glaube einfach, dass das jetzt das Richtige für mich ist.«

»Sie werden dort nicht so leicht eine vernünftige Wohnung finden.« Zweifel winkte ab.

»Ach was, da mach ich mir keine Gedanken.« Er hatte aber sehr bald eingesehen, dass Klopfers Behauptung zutraf. Eher würden Störche auf dem Perlachturm nisten, als dass er ein passendes Nest in der Altstadt fände. Mit viel Glück bekam er den Zuschlag für eine winzige Zweizimmerwohnung unter dem Dach im alten Kern von Friedberg, direkt an der Stadtmauer. Das Wittelsbacher Schloss war nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Von seinem Fenster aus hatte er freien Blick in Richtung Westen auf die Silhouette von Augsburg: den Hotelturm, im Volksmund Maiskolben genannt, die Ulrichs-Kirche, den Perlachturm samt Rathaus, den Gaskessel. Seine engste Mitarbeiterin, Melinda Zick, die er vom ersten Tag an Melzick genannt hatte, witterte die drohende Veränderung.

»Gibts irgendwelche Neuigkeiten, die ich wissen müsste?«, hatte sie zwei Wochen später Lucy gefragt.

»Was meinst du, Mel?«

»Na, was meinen Chef betrifft, Lucy. Du hörst doch sonst immer das Gras wachsen.« Lucy zuckte mit den Schultern.

»Was das angeht: Außer Rasenmähern und Laubbläsern hör ich nix mehr in letzter Zeit. Frag ihn doch einfach, deinen Chef.« Doch Zweifel kam ihr zuvor und sorgte für Klarheit, als er die beiden noch am gleichen Tag in sein Büro bat.

»Der Fall Kronberger«, begann er und räusperte sich. Unvermutet verlor er den Faden, als er Lucy und Melzick in die Augen blickte.

»Also — der Kronberger-Mord …« Melzick verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen hoch. Lucy ahnte schon etwas und legte eine Hand auf den Mund. Zweifel ärgerte sich über seine plötzliche Unsicherheit und klatschte einmal in die Hände, was die beiden zusammenzucken ließ.

»Um es kurz zu machen: Das war mein letzter Fall hier.« Melzick schluckte.

»Was soll das heißen?«

»Ich habe meine Versetzung beantragt. Ich gehe nach Augsburg.« Lucy schlug nun auch die zweite Hand vor den Mund.

»Sie haben das wirklich ernst gemeint«, flüsterte sie.

»Also hast du doch was gewusst«, stieß Melzick hervor. Lucy schaute sie aus großen Augen an und schüttelte den Kopf.

»Er hat nur gesagt, er muss weg, mehr nicht, Mel. Und vorher hat er mir so ’nen Schreck eingejagt, dass die Flecken nie mehr rausgehen aus meinem Schreibtisch.«

»Ich versteh kein Wort, Lucy. Und ich versteh überhaupt nur Bahnhof!«, rief Melzick und funkelte ihren Chef an. Der hob beschwichtigend beide Hände.

»Da gibt es gar nicht viel zu verstehen. Lucy, erinnern Sie sich an meine Worte? Was hab ich gesagt, nachdem Sie Ihren Schreibtisch mit Kaffee überschwemmt hatten?« Lucy starrte ihn an und dachte nach.

»Das ist vollkommen unmöglich.« Zweifel nickte.

»Genau.«

»Was ist unmöglich?«, wollte Melzick wissen. »Chef! Jetzt reden Sie doch mal Klartext!« Zweifel deutete mit beiden Händen vielsagend auf seinen Schreibtisch und auf den Rest seines Büros.

»Sehen Sie sich das an. Können Sie sich vorstellen, dass ich noch fünfzehn Jahre an diesem Tisch in diesem Büro hocke?«

»Klar!«, rief Melzick spontan. Zweifel lachte kurz auf.

»Ganz ehrlich, Melzick«, er schüttelte den Kopf, »das glaub ich Ihnen nicht.« Lucy war schon ein Stückchen weiter.

»Er hat Recht, Mel.« Melzick kratzte wild auf ihrem Kopf herum.

»Aber, Herrgott nochmal, wer denkt denn so weit in die Zukunft? Ich denk höchstens bis zum nächsten Ersten.«

»Das tu ich auch«, sagte Zweifel. »Am nächsten Ersten bin ich woanders und viel mehr weiß ich auch nicht.« Melzick schüttelte den Kopf. Sie ahnte, dass da nichts zu machen war. Außerdem fehlten ihr die Worte. Sie nahm Zweifels Entscheidung persönlich. Es war ein harter Schlag und sie wollte plötzlich nur noch weg. Ohne Lucy oder Zweifel auch nur eines Blickes zu würdigen, stürmte sie aus dem Büro. Eine wilde Wut schlug in ihrer Brust. Eine schwere Enttäuschung hatte sie im Genick gepackt. Sie brauchte frische Luft. Sie riss ihr Fahrrad aus dem Ständer, sprang auf und trat mit voller Kraft in die Pedale. Zweifel beobachtete sie aus dem Fenster seines Büros. Lucy stand neben ihm. Sie seufzte. Er drehte sich zu ihr um.

»Sie wird schon drüber wegkommen«, brummte er und seine Stimme klang heiser. Lucy zuckte mit den Schultern.

»Da wäre ich nicht so sicher.« Zweifel war immer noch unwohl beim Gedanken an diese Szene. Aber nichts konnte ihn von seinem Entschluss abbringen. Er griff nach der Flasche Wein, die er Lucy mitbringen wollte. Dabei war er so in Gedanken, dass sie ihm aus der Hand rutschte, auf den Boden knallte und in tausend Scherben zersprang. Lucys Worte kamen ihm in den Sinn:

»Das muss bestraft werden.« Er fluchte laut, fischte die Scherben aus der Weinpfütze und warf sie in den Müll. Den Rest beseitigte er in aller Eile mit Papiertüchern. Er riss das Küchenfenster auf, schnappte seinen Schlüsselbund und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

»Sie sind zu spät, Herr Kommissar«, begrüßte ihn Lucy, »das verschärft die Sache noch.«

»Vielen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung, Lucy. Welche Sache meinen Sie?« Lucy deutete mit einem soßenverschmierten Kochlöffel hinter sich.

»Chili con Chili sin Carne.«

»Mir schwant nichts Gutes«, erwiderte Zweifel und hielt ihr die Flasche Wein vor die Nase, die er noch rasch im Feinkostladen besorgt hatte. »Ist Melzick schon da?« Lucy nahm die Flasche entgegen, studierte das Etikett und meinte:

»Sieht teuer aus. Zufall oder Absicht? Sie brauchen nicht zu antworten. Folgen Sie mir einfach, Herr Kommissar.« In der geräumigen Wohnküche war für zwei gedeckt. Zweifel schnupperte nach dem köstlichen Duft, der in der Luft lag.

»Hab sie nicht eingeladen«, sagte Lucy beiläufig und rührte in der gusseisernen Pfanne, in der etwas sehr Scharfes vor sich hin köchelte. Zweifel setzte sich zwanglos an den Tisch.

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Ah ja? Und wie lautet Ihre Theorie?« Er stand auf und fragte nach einem Korkenzieher. Lucy deutete auf eine Schublade.

»Ich bin sicher, Sie haben sie eingeladen, aber sie wollte nicht«, sagte er und zog mit einem satten Plopp den Korken aus der Flasche. »Melzick ist sauer«, fügte er hinzu und roch an dem Korken. »Liege ich richtig?« Lucy seufzte. Sie schaltete den Herd aus, wischte mit dem Handrücken über ihre Stirn und drehte sich zu ihm um.

»Sauer ist gar kein Ausdruck. Sie ist so aus dem Häuschen, dass sie durch die Straßen marschiert, Parolen skandiert und den Leuten mit ihrem Transparent auf die Nerven geht.« Zweifel schaute sie fassungslos an.

»Transparent? Nur weil ich nach Augsburg gehe?«

»Nee, weil das Klima den Bach runtergeht. Mit Ihnen hat das nix zu tun. Glaub ich wenigstens.« Zweifel machte ganz hinten in seiner Kehle ein Geräusch. Lucy konnte nicht heraushören, ob es ein erleichtertes oder ein empörtes Grunzen war. Er schenkte einen kleinen Schluck in sein Glas und füllte Lucys zur Hälfte. Sie nahm Zweifels Teller und häufte mit einem großen Holzlöffel eine riesige Portion darauf.

»Jedenfalls hat Mel heute was Besseres vor, als in meiner Küche die Reste wegzufuttern.« Zweifel warf einen skeptischen Blick auf den dampfenden Vulkan, den sie ihm gerade vor die Nase stellte.

»Das sind Reste?«

»Bei diesem Gericht bleibt immer was übrig. Sie werden es schon merken.« Zweifel wartete, bis sie ihren eigenen Teller gefüllt hatte und sich zu ihm setzte.

»Ihnen ist sicher bewusst, dass vorsätzliche Körperverletzung strafbar ist«, sagte er. Lucy strahlte ihn an.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Zweifel hob sein Glas.

»Vielleicht trinken wir erstmal, solange meine Geschmacksnerven noch bei Bewusstsein sind.« Lucy stieß mit ihm an.

»Auf die Geschmacksnerven. Mögen sie nie verloren gehen.« Sie nahmen jeder einen tüchtigen Schluck.

»Es duftet wunderbar, Lucy.« Sie hatte bereits eine Gabel voll „Chili con Chili sin Carne“ zu sich genommen und antwortete mit vollem Mund.

»Wumbert miff niff.« Sie schluckte runter. »Aber riechen allein macht nicht satt, Herr Kommissar. Nur zu!«

»Lassen Sie doch bitte den Kommissar weg.« Lucy zog die Augenbrauen hoch. »Ja, und den Chef und den Zweifel am besten auch«, sagte er und wagte einen Bissen. Die Explosion auf seiner Zunge erfolgte zeitlich verzögert. Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Lucy warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Was bleibt denn dann noch übrig?«

»Adam«, hauchte Zweifel ganz vorsichtig, um nicht Feuer zu spucken.

»Also gut, Adam. Sie brauchen aber deswegen nicht rot zu werden.« Zweifel antwortete mit einem langgezogenen Zischen. »Soll ich die Feuerwehr rufen?«, fragte Lucy ungerührt.

»Nicht nötig. Aber Melzick hat eine kluge Entscheidung getroffen«, sagte er und rieb sich mit dem Zeigefinger die Tränen aus den Augen. Lucy aß weiter, als hätte sie einen Eisbecher vor sich.

»So ’ne Demo wär nix für mich«, meinte sie.

»Weil man da zu Fuß geht?«

»Nee, wegen meiner latenten Aggressivität.« Zweifel verschluckte sich, obwohl er nur eine einzige Saubohne im Mund hatte.

»Sie und aggressiv?«, japste er und griff nach seinem Weinglas. Sie nickte.

»Tausend Leute oder mehr um einen rum, die eine Energie rauslassen, dass die Sonne schwarze Flecken bekommt, die wie mit einer Stimme brüllen und schreien, die ihre Wut hinaustrommeln, was das Zeug hält — haben Sie eine Ahnung, was das mit einem macht?« Zweifel hatte sich etwas erholt und fand zu seiner Überraschung allmählich Geschmack an Lucys Gaumenschmaus. Er nickte.

»Hab ich. Aber haben Sie eine Ahnung«, fragte er und nahm unerschrocken die nächste Gabel in Angriff, »was dieses Essen mit einem macht?« Lucy strahlte ihn wieder an.

»Freut mich, dass es Ihnen schmeckt. Wenn der Teller schön leer ist, gibts auch einen Nachtisch.«

Zacharias gab Jocelyn einen Stoß in die Seite, nahm seinen Teller und stand auf.

»Die haben superleckere Brownies hier.«

»Ziemlich rassistische Äußerung, Zack«, frotzelte Phil. Melzick sprang sofort auf den Zug auf.

»Hätte ich von dir nicht erwartet. Man sagt nicht „Brownie“, man sagt „schokoladenartig gefärbter Kleinkuchen“.«

»Von mir aus, große Schwester, soll ich dir ein politisch korrektes Schokoteilchen mitbringen?« Mel sah Phil an.

»Müssen wir nicht langsam los?« Sein Handy vibrierte im gleichen Moment.

»Lass dir die Dinger einpacken, Zack, wir sind spät dran. Ist ja schon zwölf vorbei«, rief er, während er die eingehende Nachricht stirnrunzelnd las. »Am Hauptbahnhof scheint es Ärger zu geben.« Er schob Melzick zwei Scheine hin. »Kannst du schon mal zahlen? Ich muss erst mal jemanden beruhigen«, sagte er und tippte gleichzeitig eine Nachricht. Wenig später eilten die vier quer über den Rathausplatz.

»Warum nehmen wir denn keine Straßenbahn?«, keuchte Zacharias und hielt Jocelyn die Tüte mit den Brownies hin. Sie schüttelte den Kopf.

»Erstens sind wir noch keine dreißig. Zweitens dauert es zu lang«, schnaufte Phil und verschärfte das Tempo. Melzick hielt locker mit. Immer öfter mussten sie größeren Gruppen ausweichen. Überall waren Papptafeln zu sehen, mehr oder weniger gekonnt beschriftet, an Holzstöcken befestigt, mit denen die Empörten mehr oder weniger herumwedelten. Jocelyn und Zacharias folgten in einigem Abstand. Phil wollte dem größten Gedränge ausweichen und nahm die kurze Querstraße, die „Unter dem Bogen“ hieß, und die vom Rathausplatz zur Annastraße führte. Von dort waren es nur wenige hundert Meter bis zum Königsplatz. Dann mussten sie nur noch die Bahnhofstraße entlang spurten. Zacharias sah die roten Dreadlocks seiner Schwester im Gewimmel auf dem Königsplatz verschwinden. Er packte Jocelyn am Arm.

»Lassen wir die zwei doch allein für die Olympiade trainieren. Wir warten hier.« Jocelyn war kaum außer Atem. Sie hatte die Blicke einiger Passanten aufgefangen und fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.

»Geht’s dir gut?«, fragte Zacharias und biss in einen Brownie. Sie nickte. Er wusste, dass das eine Lüge war.

»Wir können jederzeit abhauen«, raunte er ihr zu. Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Ok, soviel ich weiß, treffen sich alle hier am Kö’. Phil wird eine Ansprache halten und dann geht’s los.« Er schaute sich um. In allen Hauptverkehrsstraßen, die zum Königsplatz führten, standen Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei.

»Unsere freundlichen Begleiter sind auch schon bereit. Hast du Angst?« Jocelyn schaute ihn aus großen dunklen Augen an. Sie sagte nichts. Er legte einen Arm um ihre Schulter. Trotz der hochsommerlichen Hitze kroch etwas Kühles in seinen Nacken.

5. Kapitel

In der Zwischenzeit war Phil zusammen mit Melzick auf dem Bahnhofsvorplatz angekommen. Dort beherrschte eine Großbaustelle das Bild. Der Umbau des Augsburger Hauptbahnhofs würde noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Der Haupteingang war schon länger gesperrt. Die Reisenden mussten die südliche Unterführung nehmen, um zu den Bahnsteigen zu kommen. Der schmale Weg dorthin war auf der einen Seite von einem modernen Postgebäude begrenzt und auf der anderen Seite von mehreren behelfsmäßigen Containern. Dort waren unter anderem die Bahnhofsbuchhandlung und eine Bäckerei untergebracht. Über der Post befand sich im ersten Stock ein riesiges Fitnesscenter. Dessen Fenster gingen auf den Bahnhofsplatz und waren wegen der Hitze weit geöffnet. Die lautstarken Kommandos der Fitnessfeldwebelinnen gellten über den ganzen Platz bis hinüber zum Fuggerstadt-Center auf der anderen Seite des Bahnhofs und vermischten sich mit Trillerpfeifen und Trommelschlägen. Hunderte von Teilnehmern belagerten das Gelände und machten sich warm für die Demo. Es waren viele Ältere darunter, wie Melzick feststellte, als sie Phil außer Atem folgte. Der bahnte sich ebenso höflich wie energisch seinen Weg durch die dichtgedrängten Massen. Etwa ein Dutzend seiner engsten Helfer hatte jeweils eine große Gruppe um sich geschart und briefte die Leute. Keine Gewalt, keine Waffen, keine Glasflaschen, keine faschistischen Parolen. Sie wiederholten diese Selbstverständlichkeiten mit lauter Stimme und schier unerschöpflicher Geduld. Sie erklärten den Weg zum Königsplatz, auf dem sich alle bis um 13 Uhr einfinden sollten. Sie tranken Wasser. Sie lächelten. Sie verbreiteten gute Laune. Phil hatte sie bestens vorbereitet. Vor dem Buchhandlungs-Container stand eine kleinere Gruppe Männer um eine junge Frau herum. Sie entdeckte Phil und winkte ihm hektisch zu. Einer der Männer versuchte, sie am Arm zu packen. Phil war mit wenigen Schritten bei ihr und zwängte sich durch den dichten Ring, den die Männer um sie gebildet hatten.

»Hallo Chris«, rief er, »wo liegt das Problem?« Der Anführer der Männer drehte sich zu ihm um.

»Misch du dich nicht ein. Wir kommen ohne dich klar.« Der Mann war einen Kopf größer als Phil, Mitte fünfzig, trug eine grüne Anglerweste über schwarzem T-Shirt und olivgrüne Hosen, deren Taschen ebenso prall gefüllt waren, wie die seiner Weste. Seine Aggressivität waberte Phil entgegen wie eine üble Schweißwolke. Seine Begleiter ähnelten ihm in unangenehmer Weise. Phil fixierte sein Gegenüber unerschrocken.

»Ich bin sicher, Sie haben einen Grund für Ihre Verhaltensweise. Aber meine Kollegin hat den Eindruck gewonnen, dass sie nicht angemessen ist.« Phil sprach in freundlichem Ton. Der Mann verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust.

»Da schau her! Meine Verhaltensweise ist nicht angemessen. Freundchen, ich sag dir jetzt mal was. Deine Kollegin hier hat uns saublöd angequatscht. Hat was gefaselt von: Kein Alkohol, keine Parolen und was weiß ich noch alles. Sind wir jetzt schon so weit, dass wir uns von kleinen Gretas rumkommandieren lassen müssen.« Phil blickte in die rotunterlaufenen Augen und ihm war klar, dass er es mit einem besonderen Exemplar zu tun hatte. Das war auch Melzick nicht entgangen, die sich unbemerkt herangepirscht hatte. Sie war gespannt, wie Phil reagieren würde. Der musterte der Reihe nach jeden einzelnen der Männer, die seinen Blicken höhnisch, hämisch oder dämlich grinsend begegneten.

»Sie sind zu siebt.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Sie dürften bestimmt alle schon einiges im Leben durchgemacht haben.« Der Anführer glotzte ihn sprachlos an. Er hatte keine Ahnung, worauf dieses Jüngelchen hinauswollte. »Sie wissen, wie man mit Krisen umgeht, wie man seinen Mann steht, wie man sich durchsetzt, stimmt’s?«, fuhr Phil fort und knuffte ihn jovial in den Oberarm. Der ein oder andere seiner Zuhörer ließ sich zu einem Nicken hinreißen. Chris stellte erleichtert fest, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses stand und bewegte sich ein paar Schritte seitwärts. Gebannt hörte sie Phil zu. Der machte mit dem Zeigefinger eine verschwörerische Bewegung, so dass der Anführer sich unwillkürlich zu ihm runter beugte. Die Männer rückten noch enger um ihn zusammen, um kein Wort zu verpassen.

»Von mir aus«, raunte Phil, »können Sie weiterhin dem Alkohol frönen. Das ist ein freies Land.« Heftig zustimmendes Nicken ringsum. »Hier geht heute ’ne ziemlich große Party ab, das werden Sie ja schon mitgekriegt haben. Ist aber eine ganz besondere Party. Ich schätze mal, wir werden 6000 bis 7000 Gäste haben und ich bin der Gastgeber. Und außerdem bin ich Optimist. Ich vertraue auf die Vernunft der Leute. Die Polizei ist da anders. Die gehen vom Schlimmsten aus. Wenn es nach denen ginge, würden die uns am liebsten wieder nach Hause schicken. Aber das läuft bei mir nicht.« Wieder blickte er reihum jedem tief in die Augen. Er hatte den richtigen Ton getroffen. Nur der Anführer schien sich noch nicht beruhigt zu haben.

»Deine Party interessiert mich einen feuchten Dreck.« Er tippte Phil mit seinem dicken Zeigefinger mehrmals heftig auf die Brust. »Ich lass mir von niemandem sagen, was ich zu tun und zu lassen habe!« Phil blickte ihn unbeeindruckt an.

»Wenn das so ist …« Er kramte in seiner Hosentasche und hielt eine Münze mit Daumen und Zeigefinger in die Höhe. »Hier bitte. Ich geb Ihnen fünfzig Cent. Suchen Sie sich eine Parkuhr und unterhalten Sie sich mit der. Ich bin sicher, Sie werden sich gut verstehen.« Er warf die Münze in die Luft, drehte sich um und ließ das Rudel stehen.

»Komm Chris, wir müssen los.« Er schnappte die junge Frau an der Hand und blickte sich suchend nach Melzick um, doch die war ihm schon ein paar Schritte voraus. Er grinste.

»Ich hab’s nicht klimpern gehört. Hat er die Münze selbst gefangen?«

»Nee, einer seiner Kumpels.«, sagte Chris. »Du bist gerade rechtzeitig aufgetaucht. Die hatten sich schon richtig an mir festgebissen. Das wär irgendwann eskaliert.« Sie waren jetzt auf gleicher Höhe mit Melzick.

»Diese Art der Konfliktlösung hab ich so noch nicht erlebt«, meinte sie.

»Für ein therapeutisches Gespräch war keine Zeit«, gab er zurück.

»Ich kann sie nicht ausstehen, diese Profilneurotiker«, sagte Chris. Sie liefen zurück zum Königsplatz. Der Strom der Demonstranten überschwemmte die Bahnhofstraße in ihrer ganzen Breite. Ein beweglicher Wald aus Bannern und Transparenten wälzte sich an Kaufhäusern, Handyshops, Konditoreien, Schuhgeschäften und Imbissläden vorbei. Es knisterte in der Luft vor Erwartung.

»Wird ’ne geile Party, wie es aussieht«, sagte Melzick. Phil schüttelte den Kopf.

»Das wird viel mehr. Das kann ich dir versprechen.«

Sokrates war unruhig. Er spürte, dass etwas in der Luft lag. Carlo legte seine schwere Hand beruhigend auf den glatten schwarzweißen Fellrücken seines Kompagnons.

»Sind nur Leute, alter Junge. Jede Menge Leute«, brummte er und tätschelte Sokrates’ Hinterkopf. Der gab einen Hundeseufzer von sich und blieb flach liegen, weil er Carlo vertraute. Tausende Zweibeiner hatten sich inzwischen auf dem Königsplatz versammelt und verursachten Schwingungen, die die Annastraße entlang pulsierten und auf Sokrates’ empfindliche Sinne trafen. Aber er war ein kluger Hund. Er war ein zufriedener Hund. Er hatte noch weniger als eine Stunde zu leben, aber das wusste er nicht. Er blinzelte träge, während seine Ohren wachsam auf Empfang blieben. Carlo wagte ganz gegen seine Gewohnheit einen Blick in die Holzschatulle. Nach seiner Überzeugung brachte es Unglück, das vor der Mittagspause zu tun. Erfahrungsgemäß machten die Euros dann einen Bogen um ihn und die Geldbörsen blieben fest verschlossen, da konnte er noch so ergreifend „El Condor Pasa“ auf seiner Flöte spielen. Zuweilen weigerte er sich, darin einen Zusammenhang zu sehen und tat seiner Neugier keinen Zwang an, nur um dann wieder die gleiche Erfahrung zu machen. An guten Tagen lagen sechzig Euro und mehr in seiner Schatzkiste. Aber es gab auch Tage, an denen er über zehn Euro froh sein musste. An diesem Morgen lagen gerade mal ein paar 50-Cent-Stücke in der Schatulle. Carlo verzog seine Lippen, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Nicht, dass es jemandem aufgefallen wäre, aber sein Stolz verbot es ihm, Enttäuschung zu empfinden. Er stellte sich stattdessen vor, am Abend genug verdient zu haben, um Sokrates und sich ein schönes Essen zu gönnen. Er griff nach seiner Flöte, ohne zu ahnen, dass Sokrates kein Abendessen mehr brauchen würde.

»Lucy, der Nachtisch war zu viel für mich«, stöhnte Kommissar Zweifel. »Mir war nicht bewusst, dass Ihre Bestrafung so hart ausfallen würde.« Lucy nahm die beiden Dessertteller vom Tisch und stellte sie in die Spülmaschine.

»Jetzt nehmen Sie mal das mit der Strafe nicht so wörtlich, Herr Komm …, ach so, das darf ich ja nicht mehr sagen, Adam. Ich wollte Sie nur in einen Zustand versetzen, in dem Sie meinen Fragen wehrlos ausgeliefert sind.« Zweifel rülpste dezent hinter vorgehaltener Hand.

»Das scheint mir eine etwas teure Verhörmethode zu sein. Aber immerhin — sie hat ihren Zweck erfüllt. Ich verspreche, die Aussage nicht zu verweigern. Aber nur, wenn ich eine Tasse von Ihrem speziellen Koffeingetränk bekomme.« Lucy schüttelte den Kopf.

»Wie wollen Sie in Zukunft ohne mich auskommen?« Zweifel lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Die Frage habe ich mir noch gar nicht gestellt.« Lucy hantierte an ihrer Kaffeemaschine und seufzte zum wiederholten Mal.

»Das ist typisch für Jungs in Ihrem Alter. Einfach mal so eine Entscheidung treffen, ohne sich groß Gedanken zu machen.«

»Ah, ah, ah«, widersprach Zweifel, »Sie meinen die Jungs in meinem Alter, die sich ’nen Porsche kaufen, obwohl sie nur in einen Fiat passen, oder die sich ’ne zwanzigjährige Zweitfrau zulegen, obwohl sie mit ihrer Erstfrau schon nicht klarkommen. Bei mir ist das was anderes.«

»Natürlich, Sie haben ’nen Cadillac und der Rest ist Schweigen.« Die Kaffeemaschine unterstrich mit ihrem röchelnden Fauchen Lucys Worte. Zweifel nahm sie wörtlich und schwieg so lange, bis sie ihm einen dampfenden, verführerisch duftenden Becher vorsetzte. Beide bliesen sie sachte eine Gänsehaut auf die goldbraune Flüssigkeit und nahmen einen ersten Schluck.

»Alles, was mich interessiert, Adam, ist, warum Sie ausgerechnet jetzt die Flucht ergreifen«, sagte Lucy ungewohnt ernsthaft. Zweifel nahm noch einen zweiten und einen dritten Schluck, dann setzte er seinen Becher vorsichtig ab.

»Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Lucy.«

»Jetzt sagen Sie bloß noch, ich soll’s nicht persönlich nehmen, dann nehm’ ich Ihnen persönlich sofort den Becher weg.« Zweifel strich mit der rechten Hand über seinen kahlen Kopf.

»Es ist ganz einfach, Lucy. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich dringend eine Veränderung brauche. Ich hasse Routine. Die macht mich depressiv. Ich will nicht am Sonntagabend schon wissen, wie die Woche ablaufen wird. Bad Wörishofen ist mir zu klein geworden. Ich brauche mehr Auslauf.« Lucy ließ sich das durch den Kopf gehen und pustete nachdenklich in ihren Kaffeebecher. Sie bedachte Zweifel mit einem langen Blick. Dann zog sie die Nase kraus und schnalzte mit der Zunge.

»Ich geb’s nicht gerne zu, aber ich glaube, ich kann Sie verstehen«, sagte sie und lächelte ihn resigniert an. Er nickte.

»Die Frage ist, ob Melzick es versteht. Aber da kann ich ihr nicht helfen.«

»Es kommen harte Zeiten auf uns zu. Ich sehe einen Tsunami von Problemen am Horizont meines Schreibtischs«, erwiderte sie und verdrehte die Augen. Er musste grinsen.

»Haben Sie schon mal überlegt, ein Buch darüber zu schreiben?«

»Worüber?«

»Über Ihren Schreibtisch.«

»Ha!«

»Lachen Sie nicht. Es gibt ein ganzes Buch über den Schreibtisch von Thomas Mann.«

»Wer liest denn so was?«

»Ich zum Beispiel.«

»Also gut, dann glaube ich das auch noch. Aber dann können Sie genauso gut ein Buch über Ihren Cadillac schreiben.«

»Wer würde denn so was lesen?«

»Ha! Ich bestimmt nicht.« Zweifel nahm noch einen Schluck. Lucy tat es ihm nach. »Machen Sie sich keine Gedanken um Melzick. Wenn es ihr zu blöd wird, schmeißt sie den Job hin, packt ihren Rucksack und geht nach Kanada.«

»Hat sie das gesagt?«

»Nicht wörtlich, aber ich kann zwischen den Zeilen hören. Immerhin müssen wir jetzt mit Ihrem Nachfolger klarkommen, der ja noch gar nicht feststeht und außerdem auch noch mit Frau Dr. Schimmelpfeng.«

»Wer ist das denn?«

»Klopfers Nachfolgerin.«

»Woher wissen Sie das?«

»Klopfers Post geht durch meine Hände, das wissen Sie doch. „Herrn Polizeirat Alois Klopfer persönlich-vertraulich“ stand auf dem Umschlag.«

»Und für das Vertrauliche sind Sie persönlich zuständig?«

»Wer sonst wohl würde dafür in Frage kommen? Die Frau Doktor Sch. hat unserem Noch-Chef eine Zehn-Punkte-Liste zukommen lassen. Oberste Priorität hat für sie demnach ein Namensschild an ihrem neuen Büro. Maße, Schriftart, Schreibweise — alles detailliert festgelegt. Sie hat sogar aus einem Katalog für Büroeinrichtungen ein Muster ausgeschnitten. Das Ding wird größer als mein Bildschirm.«

»Jetzt übertreiben Sie aber.« Lucy schüttelte den Kopf.

»Das wird die härteste Nuss, die ich je zu knacken hatte. Möchten Sie noch ein Tässchen?« Zweifel sah auf die Uhr und wiegte den Kopf hin und her. »Haben Sie etwa noch einen Termin?«, wollte Lucy wissen.

»Ich muss noch ein paar Umzugskisten packen.«

»In meinen Augen hat das Zeit. Wieviel Zeug haben Sie denn? Denken Sie minimalistisch. Alles, was Sie nicht innerhalb einer Stunde eingepackt haben, brauchen Sie nicht.«

»Interessanter Gedanke. Den muss ich erst verarbeiten. Vielleicht hilft mir dabei doch ein zweites Tässchen. Und dann erzählen Sie mir mal, wie Sie der Frau Doktor Sch. das Ordnungssystem Ihres Schreibtischs erklären wollen.«

Die Wasserflasche war leer. Die staubige Luft im „Weißen Hasen“, die Hitze, das Warten — eine Flasche war eindeutig zu wenig. Aber diese Einsicht kam zu spät. Nur noch etwa dreißig Minuten. Viel länger konnte es nicht mehr dauern. Der Lärm, den die Demonstranten auf dem Königsplatz machten, war selbst hier, ein paar hundert Meter entfernt, durch die geschlossenen Fenster zu hören. Der Zeitablauf war klar. Um 13 Uhr startete das Ganze mit einer kurzen Ansprache. Dann würde sich der Zug Richtung Annastraße in Bewegung setzen. Eventuelle Verzögerungen durch die Polizei waren nicht auszuschließen. Es würde genügend Zeit bleiben, geeignete Ziele auszusuchen, sich zu konzentrieren und die Sache zum Abschluss zu bringen. Danach würde es ein Leichtes sein, das Gebäude unbemerkt zu verlassen und in dem zu erwartenden Chaos zu verschwinden.

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