Kitabı oku: «Der Mann hinter dem Bild», sayfa 2
„Nur deine Stadtbilder haben etwas damit zu tun?“
Ich nickte ihm zu.
„Ich glaube, ich verstehe ziemlich gut, was du meinst“, sagte er dann. „Aber wie kommst du drauf? Du hast bestimmt nicht mal einen Internetanschluss, um einen solchen grundsätzlichen Wandel in der Gesellschaft beobachten zu können. Und nen Computer? … Auch nicht. Der Umgang mit Computern gilt heute als vierte Kulturtechnik, neben Schreiben, Lesen, Rechnen.“
„Hatte aber mal einen.“
„Irgendwann mal, ja. Und du benutzt bestimmt auch kein Handy oder ne Digitalkamera.“
„Hatte ich auch mal.“
„Das ist alles lange her, Mattis. Die Entwicklung ist in den letzten Jahren rasant verlaufen. Was weißt du da noch vom digitalen Zeitalter?“
„Man kann eine solche Entwicklung auch erspüren.“
Hepe lachte kurz auf. „Ach, Mattis, unser altes Ding. Man kann etwas errechnen und abschätzen, wenn man über die richtigen Informationen verfügt. Manchmal kann man auch ein wenig erspüren. Aber nur erspüren, dass so eine massive Veränderung vor uns liegt. Also nee. Allein mit dem Gespür. Das geht nun wirklich nicht.“
Wir schwiegen.
„Erinnerst du dich an das Panikhaus.“
Langsam hob sich sein Blick von meinem Penta-Bild. Er sah zu mir hoch. Schaute mich überrascht mit wachen Augen an. Jetzt hatte ich die Grenze überschritten. Jetzt waren wir wieder dort angekommen, wo wir uns damals getrennt hatten. Jetzt hatte ich die Tür zu unserer gemeinsamen Vergangenheit wieder weit aufgestoßen. Ich hatte sie aufgestoßen.
„Ach ja, das Panikhaus“, hörte ich ihn leise sagen. „Ist schon ‘ne Ewigkeit her.“
Wieder schwiegen wir.
„Ich hatte etwas erspürt“, sagte ich dann. „Und du hattest etwas errechnet. Aber du hattest dich verrechnet.“
„Ich hatte etwas anderes erwartet, Mattis. Ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, dass die Sache so ein Ende finden würde.“
„Du hattest dich verkalkuliert, Hepe? Wieso hast du dich so irren können?“
„Was soll das heute noch, Mattis. Es ist mehr als dreißig Jahre her.“
Er starrte wieder auf das Penta-Bild, schien sich nicht davon lösen zu können. Ich schenkte noch einmal nach, stellte mich mit meinem Glas ans Fenster und betrachtete die Bewegung der Kräne, die gerade den Chinesen löschten. Ein Druck, fast schon einen Schmerz machte sich in meinem Bauch breit.
Signale meines Körpers. Meist ignoriere ich sie. Doch jetzt meldet sich etwas Stärkeres. Zu viel Wein wahrscheinlich.
Ich hörte, wie Hepe sich erhob und sich mir von hinten näherte. Dann spürte ich, wie er eine Hand auf meine rechte Schulter legte.
„Hör mal, Mattis. Ich hab da ne Idee. Ich kann dir helfen, hier rauszukommen.“
Auf dem Panamafrachter wurde das Ablegemanöver vorbereitet. Ein Schlepper war in den Namibiahafen hineingefahren und ging längsseits. Am Kai standen die Festmacher und warteten rauchend auf ihren Einsatz.
„Will ich hier rauskommen, Hepe?“
„Brauchst du nicht ein wenig Geld, Mattis? Du könntest sicher etwas mehr Geld brauchen.“
Er hatte Recht. Natürlich hatte er Recht. Mit vierhundert Euro oder weniger im Monat konnte ich mir kaum noch Farben und Malwerkzeug kaufen. Neue Rahmen waren für mich unerschwinglich geworden. Ich kaufte ausschließlich in Billigmärkten ein. Für die öffentlichen Verkehrsmittel zahlte ich nicht. Ich ging zu keinem Arzt. Und auch Volo musste ich mal etwas dafür geben, dass er mir ständig etwas mitbrachte, dass ich hier wohnen, Strom und Wasser nutzen konnte.“
„Ich weiß nicht, Hepe.“
Er schob mir von hinten eine Visitenkarte in die Hand.
„Das ist in der Innenstadt. Da kannst du vorbeikommen. Sagen wir mal, morgen, also, ich meine heute so um drei Uhr. Ich kann dir, glaube ich, ein sehr gutes Geschäft anbieten. Brauchst nichts zu befürchten. Wenig Arbeit und ein wenig Geld.“ Er knetete meine rechte Schulter, gab mir dann einen liebevollen Klaps auf den Hinterkopf.
Ich sagte nichts und blieb am Fenster stehen, bis ich die beiden Besucher den Kai entlanggehen sah. Die Schöße ihrer Mäntel flogen auf und ab. Ein Sturm war aufgezogen. Auf dem grünen Kran an meiner Seite hatten sich die fünf Möwen niedergelassen, die ich hier oft sah. René ging immer ein paar Schritte hinter Hepe. Dann beschleunigte er, zog den Maschendraht zur Seite und ließ Hepe durchschlüpfen. Der Panamafrachter wurde gerade aus dem Hafenbecken in den Sturm geschleppt.
Ich wusste nicht, ob ich ihn wiedersehen würde.
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1 eine Welt nur dem Schein nach
Ich spielte das Schlagzeug für Krystle Warren. Doch ich blieb nicht im Takt. Vom Mikro drehte sie sich fragend zu mir. Aber meine Hände schlugen nicht so zu, wie es der Musik entsprach. Krystle brach ab. Alle sahen zu mir. Das Publikum blieb stumm. Und ich schlug weiter zu. Immer weiter, aber auch langsamer. Ich konnte es nicht steuern. Wie eine Äffchenspieluhr für Kinder, die auslief.
Viele Leercontainer. Ich wurde von den LKWs wach, die mit Containern über die Brücke hinter meinem Schuppen fuhren. Manche hatten leere andere volle Container geladen. Bei Fahrten mit leeren Containern hörte sich das KlackKlackKlack an der Schwelle zu Brücke lauter und heller an als mit vollen. Außerdem rasselte dann immer etwas. Zwischendurch KlackKlack und dann nichts mehr. Nur zwei Achsen. Privatwagen. Menschen, die im Hafen arbeiteten.
Noch ein Geräusch - aus dem Parterre meines Schuppens.
Wie spät war es wohl? Bestimmt später als ich dachte. Warum war das plötzlich wichtig? Nie fragte ich mich nach der Uhrzeit. Hier galt die Hafenzeit, die gar keine war, weil Zeit darin keine Bedeutung hatte. Schlagartig fiel mir Hepe wieder ein.
Er war hier gewesen. In der Nacht.
Hatte ich das auch geträumt? Hier bei mir? Wir hatten uns wiedergetroffen.
Nach allem. Nein, ich sollte denken, wie es wirklich war: Nach mehr als dreißig Jahren. In der letzten Nacht. Vor wenigen Stunden.
Mir war schlecht. Vielleicht vom Rotwein. Immer häufiger vertrug ich Rotwein nicht mehr so gut.
Der Aldi-Parkplatz. Sonntags am Nachmittag. Nach dem Mittagessen.
Wie kam ich jetzt darauf?
Unsere Sonntage waren immer gleich getaktet. Acht Uhr Frühstück, zwölf Uhr Mittag, sechzehn Uhr Kuchen, neunzehn Uhr Abendbrot. Der Rhythmus der Familie. Er gab das Leben, den Verlauf des Lebens vor wie die Nacht und wie der Tag. Etwas Verlässliches. So verlässlich und so geordnet, dass er nichts anderes zuließ. So wurde ich erwachsen, so sollte ich leben. Der Fernseher lief schon beim Frühstück. Wir sprachen ohnehin kaum miteinander. Als gäbe es nichts mehr zu sagen. Eine programmierte Familie. Man gab Familie ein und erhielt Frühstück, Mittag, Kuchen, Abendbrot, Fernsehen . Neues war nicht vorgesehen für die verbleibende Lebensspanne. Unser Laufwerk ließ sich nicht erneuern.
Wie hatte ich dort nur beginnen können zu malen? Es hatte mich sehr viel Kraft gekostet.
Am Sonntagnachmittag trafen sich alle auf dem leeren Aldi-Parkplatz zum Chickenspiel. So nannten wir es. So hatte Hepe es genannt. Er organisiert alles, den Zeitpunkt, den Ablauf, die Zuschauer, natürlich die Wette und die Gegner. Oft war ich einer der Gegner. Unsere Ausgangspositionen hatte Hepe mit Kreide auf dem Asphalt markiert. Wir hielten einen Abstand von vielleicht fünfzig Metern. Rechts und links unserer Strecke hatten sich Jugendliche aus unserem Viertel aufgestellt. Auch aus anderen Stadtteilen kamen viele, um durch die Wette ein wenig Geld zu verdienen. Hepe zögerte den Beginn immer gern hinaus, weil er hoffte, noch weitere Wetten abschließen zu können. Er trug ständig ein kleines Heft bei sich, in das er alles eintrug. Jeden Einsatz. Jede Wette. Alle kleinen Geschäfte. Die Geldscheine stopfte er in die eine Tasche seiner Hose, das Hartgeld in die andere. An solch einem Sonntag konnte ich mehr als zwanzig Mark verdienen, meine Provision, wie Hepe immer sagte. Das Geld brauchte ich für Farben und Leinwände.
Denn manchmal überkam mich eine Idee ein besonderes Bild zu malen. Sie verfolgte mich. Ich wurde damit wach, dachte während des Unterrichts tagelang an nichts anderes, skizzierte die Idee immer wieder auf irgendwelche Blätter. Ich grübelte über Motive, das Licht, Farben, die Perspektiven und natürlich den Stil. Niemand wusste von meiner Manie. Doch, Hepe bemerkte es. Er kannte mich gut. Manchmal war ich wie besessen und konnte gar nicht erwarten, endlich am Sonntag für ihn zu starten.
Allein und geduldig stand ich dann mit meinem Pegasus-Mountainbike an der Ausgangsposition, der Pole-Position mit der Sonne im Rücken. Mein Gegner auf der anderen Seite blinzelte immer wieder zu mir herüber. Er war noch umringt von Freunden, die ihm Mut zusprachen. Hepe hatte vorher mit mir gesprochen, wenngleich ich vieles nicht verstanden hatte.
„Ich schaff‘ uns die Minimalbedingungen, um den Gewinn zu sichern. Kannst dich drauf verlassen“, erklärte er mir ständig wieder. „Wir haben die besten Voraussetzungen für den Gewinn. Die Spielstruktur ist einfach. Du hast damit Erfahrung. Und die Anreize sind hoch genug. Es ist ein typisches Gleichgewicht bei entgegengesetzten Interessen. Aber wir gewinnen. Hundert Pro.“
Dann folgte das, was ich besser verstand: “Wir wissen zwar nicht ganz genau, wie sich der andere verhält. Aber wir wissen, wie du dich verhältst, Mattis. Du weichst nicht aus. Sonst ist das Geld weg. Der da hinten ist ein Schisser. Du kannst so gut wie sicher sein, dass er den Lenker rumreißt. Hundert Pro.“
Vor wenigen Minuten noch hatte er den anderen gegenüber behauptet, ich hätte heute keinen guten Tag, wollte es aber trotzdem versuchen. Das schwemmte noch ein wenig Geld in seine Taschen.
„Ruhe!“, brüllte er dann über den Parkplatz. Mehr als fünfzig Kinder und Jugendliche schwiegen.
„Los!“, hörten wir Hepe, und ich trat mit aller Kraft in die Pedale. Blitzschnell musste ich starten. Das entmutigte meinen Gegner. Und ich musste schnurstracks auf ihn zufahren. Keine Schlenker. Keine Schwächen zeigen. Den Blick richtete ich auf mein Vorderrad, nicht auf den Gegner, denn sonst hätte ich Angst bekommen. Und er würde vielleicht meine Angst sehen. Nur manchmal blickte ich kurz hoch, um sicher zu sein, dass ich die Richtung hielt.
Ausweichen oder nicht? Wer ausweicht, verliert. Die Regel war einfach. Wichen beide aus oder fuhren beide ineinander, dann erstattete Hepe das Geld zurück. Fast alles. Natürlich hofften unsere Zuschauer immer insgeheim, dass wir kollidieren würden, auch wenn sie dadurch kein Geld gewannen. Sie kamen vor allem, um einen Unfall, um Blut und uns vor Schmerz weinen zu sehen. Aber auch wegen des möglichen Gewinns. Mit beidem kalkulierte Hepe.
Wir trugen keine Fahrradhelme. Niemand trug sie. Ich fuhr in zwei Jahren sieben Mal und wich niemals aus. Als ich gerade sechzehn geworden war, raste ich in das andere Fahrrad hinein, brach mir das linke Schlüsselbein und einen rechten Mittelfußknochen.
Tiefe Angst beschlich mich vorher immer, Angst, die Hand oder den Arm zu brechen. Dann hätte ich nicht mehr zeichnen und malen können. Teile meines Rades waren kaputt. Mein Vater fuhr mich schweigend ins Krankenhaus und wieder zurück. Vor Schmerz liefen mir die Tränen herunter. Doch ich ließ meinen Vater keinen Laut hören. Er hätte sich genauso verhalten. Er verhielt sich genauso.
„Scheiße, wir haben so gut wie keinen Gewinn gemacht, Alter“, war die einzige Bemerkung von Hepe gewesen. Aber ich dachte mir: Ein Feigling ist genau genommen der Vernünftigere. Ich war ein unsinniges Wagnis eingegangen. Hepe aber nur ein Risiko. Ein geringes Risiko sogar. Für ihn war ohnehin genug Geld übriggeblieben. Nie schloss er Wetten ab, ohne sich seinen Anteil vorher zu errechnen und zu sichern.
Wochenlang konnte ich mich kaum ohne Schmerzen bewegen. Nur einmal, nach vielleicht einer Woche, fragte meine Mutter: „Tut’s noch weh, Mattis?“ Ja. Ich konnte mich nachts nicht einmal im Bett drehen. Jedes Aufstehen und Hinlegen schmerzte. Jedes Husten oder gar Niesen.
„Geht schon“, antwortete ich nur. Sie fragte nie wieder.
Ich schlüpfte in meine Jeans Dann wusch ich mich am Spülstein. Zwei Gläser und eine halbleere Flasche Rotwein standen dort. Er war also hier gewesen. Also doch. Mir war immer noch schlecht. Ich sah lange durch die etwas matten Scheiben hinaus in den Hafen, um meinen Magen zu beruhigen. Meist gelang es. Der Chinese hatte den Hafen verlassen. Alle ankommenden Container waren verräumt. Ein Carrier stellte neue Container bereit. Seine hohen Warntöne klangen sehr nah. Aus dem Parterre hörte ich wieder Geräusche.
„Bist du das, Volo?“
Er stieg die Treppe herauf und hielt eine Plastiktüte mit kyrillischer Aufschrift in der Hand. Eine blank abgewetzte, dunkle Anzughose, einen Pullunder über dem verknitterten, weißen Hemd. Wie immer. Und dazu der „Roma-Hut“, wie ich ihn nannte. Der Hut war schwarz und hatte eine kurze Krempe, die hinten hochgeschlagen war. Ein richtiger Spießerhut.
„Hab kaputte Europapalette ins Regal gelegt. Für Winter“, hörte ich seine tiefe Stimme.
Ständig sammelte er im Hafen Holz für unsere alte Hexe, stapelte es mit Begeisterung in die Regale, stapelte es mehrfach um und sprach vom Winter bis zum nächsten Winter immer vom Winter. Volo war wintergeschädigt. Ich dagegen wusste meist gar nicht, welche Jahreszeit wir gerade hatten. Auch diesen Rhythmus hatte ich verlassen.
Ich begann Wasser für den Tee aufzusetzen, bevor Volo sich drum kümmern würde, denn sein Tee war stark wie Kaffee und bekam mir nicht. Häufig aber hatte er den Tee schon bereitet, wenn ich aufwachte.
„Tee muss stark sein wie Chamma, sonst der Zucker schmeckt nichts.“
Ich hatte inzwischen aufgegeben, das Synonym für wie Chamma zu suchen. Es gab wahrscheinlich keines. Aber stark verallgemeinert und aus allen Zusammenhängen heraus schrieb ich wie Chamma eine Bedeutung zu wie wie verrückt oder wie es nur geht . Andererseits benutzte Volo auch Wendungen wie: „Mann ist gestorben wie Chamma.“
Und so ging ich der Sache nicht mehr nach. Es war sinnlos.
Er öffnete die Plastiktüte und breitete auf einem Teller klebrigen, ukrainischen Halva aus. Die ukrainische Spezialität war fast ausschließlich aus dem Mus von Sesamkernen, Nüssen, Rosenwasser und sehr viel Honig hergestellt, der auf dem Teller auslief. Es schmeckte süß, mehr als süß, ungenießbar süß. Volo aß immer sehr viel Halva. Ich verstand nicht, wie er so dünn bleiben konnte.
„Ist von Igor der Schlachter. Kommt mit Türgriff für Volkswagen und ist weg mit Turnschuh.“
Ich kannte Igor der Schlachter nicht, hatte aber schon von ihm gehört. Alle LKW-Fahrer aus der Ukraine hatten bei Volo solche Namen. Und alle brachten etwas mit. Volos Funktion bestand unter anderem darin, hier alles Mögliche zu besorgen. Vom schicken Schulranzen bis zur Tiefkühltruhe. Das war sein Geschäftsmódel. Mehrere Geschäftsmodelle nannte er Geschäftsmódels. Offiziell aber bewachte Volo einen Teil des Namibiahafens.
Deshalb war seine Frage auch nicht abwegig, während er sich Unmengen Zucker in den Tee schaufelte: „Waren Männer Freunde anunpfirsich?“
Übelkeit stieg wieder in mir hinauf, und ich zögerte ein wenig mit der Antwort.
Die Frage war ohnehin nicht einfach zu beantworten, weil ich genau wusste, wie hoch Volo Freundschaft schätzte. Seitdem ich einmal ein Portrait von einem betrunkenen, eingeschlafenen Volo mit Sabber aus dem Mund und verrutschtem Hut gezeichnet und ihm geschenkt hatte, war ich sein Freund. Sonst bestand für Volo nur ein einziges Freundschaftskriterium: Hätte die Person ihn in Afghanistan aus der Kampfhandlung herausgezogen, als er verletzt war oder hätte sie ihn zurückgelassen. Dieses Kriterium ging auf eine persönlich erlebte Geschichte zurück, die ich in sehr verschiedenen oft widersprüchlichen Variationen kannte. Und ich, Mattis Jensen, hätte ihn, Volodymyr Lypar, wie Chamma da rausgezogen. Anunpfirsich.
„Einen kenn ich von früher. Den anderen kenn ich nicht“, wand ich mich aus der Affäre.
„Ist reicher Mann. Anderer Mann ist sein Krieger. Aber nicht gut aufgepasst. Ich kein Meter von reicher Mann. Und anderer hat nicht gemerkt. Echt wahn!“
„Wo war das?“
„Bei kaputte Europapaletten.“
Volo strich ständig durch den Namibiahafen. Nie wusste ich, wann er mal schlief, obwohl sein Bett oder eher eines seiner Betten im Parterre stand. Oft überreichten ukrainische Lastwagenfahrer mir Nachrichten für ihn. Manchmal wurden sie mündlich überbracht: Ich Daniil Bruder von Lesya der Alte mit ein Bein. Nächste Woche dicker Yakov ohne Zahn mit drei Karton Nemiroff.
„Ist kein guter Mensch, Mattis.“
„Wer von beiden?“
„Reicher Mann.“
„Und woher weißt du das?“
„Och, Mattis“, antwortete er etwas genervt. „Wenn reicher Mann hat Krieger, warum?“
„Weil er sich nicht selbst verteidigen kann?“
„Kann Präsident von Russland nicht selbst verteidigen, Mattis? Ist starker Mann. Viel Sport. Viel Mut. Und auch reich. Aber hat Krieger. Weil ist schlechter Mann. Warum reich? Weil schlechter Mann.“
Das war Volos Logik. Ich war nicht in der Verfassung, dagegen zu argumentieren Er würde dann auch noch ein lang währendes, kompliziertes logisches System errichten und erstaunlicherweise immer wieder auf Argumente zurückgreifen, die er irgendwann schon einmal erwähnt hatte.
„Vielleicht hast du Recht.“
„Nix vielleicht.“
„Gut, aber ich muss mal zu ihm rüber.“
„Warum?“
„Vielleicht kann ich ein kleines Geschäft machen.“
„Neues Geschäftmódel ist gut. Aber nicht mit schlechter Mann.“
„Wie spät?“
„Warum du fragst das? Du fragst nie, wie spät.“
„Wie spät, Volo?“
„Zwanzigstnachzwei.“
„Zwanzignachzwei, wo?“
„Zuhause.“
Also war es erst zwanzig nach eins.
„Kannst du mir deine Uhr leihen?“
Er blickte mich erstaunt an. Ich hatte ihn noch nie nach seiner Uhr gefragt. Darüber hinaus war es auch eine besonders schwierige Frage. Volo besaß die Replik einer russischen Armbanduhr, Poljod Kursk Signal, mit einem roten Stern und einer U-Boot-Silhouette auf dem Ziffernblatt. Er liebte diese Uhr. Es war seine letzte. Davor waren über ihn hunderte dieser Uhren nach Deutschland eingesickert. Aber es war nun einmal seine letzte. Auf der Rückseite stand auf Kyrillisch: Gewidmet den Helden des U-Bootes Kursk.
Er löste sie vom Arm mit den Worten: „Aber nicht dran spielen.“
Ich suchte von meinem Kleiderständer einen Pullover heraus, der nicht mit Farbflecken besprenkelt war und machte mich mit Hepes Visitenkarte auf den Weg. Die Fähre im Namibiahafen legte schon nach wenigen Minuten an. Zum Glück erkannte ich Jupp Voormann, auch ein Bekannter von Volo, im Ruderhaus. Jupp transportierte für Volo oft große Pakete aus der Stadt herüber, vor allem Flachbildfernseher, aber auch Kühlschränke, Waschmaschinen oder hochwertige Matratzen.
Die Gangway schwenkte mit den gleichen hohen Tönen herunter, wie sie von den Kränen und Brücken aus dem Hafen zu hören waren. Jupp schob seine Tür auf und ließ mich in die Fahrerkabine eintreten. Er erzählte von Kindern und Enkelkindern, von Nichten und Neffen und beförderte mich ohne Bezahlung aus dem Namibiahafen hinaus zur Stadtseite. Auf dem Wasser hatten sich unruhige Wellen gebildet. Die kleine Fähre schaukelte, und der Bug fiel so tief in die Wellentäler hinein, dass die Scheibenwischer kaum gegen den Wasserschwall ankamen. Eine Sturmflut kündigte sich an. Volo hatte wohl deshalb heute Morgen das Holz im Parterre auf höhere Regalflächen geräumt.
Auf der Stadtseite begann ich mit der Suche nach einem Fahrrad, denn beim Laufen schmerzte mir heute mein Fuß. Auch über meinem linken Schlüsselbein spürte ich einen unangenehmen Schmerz. Erinnerungen an den Aldi-Parkplatz.
Fast immer fand ich Fahrräder, die nicht abgeschlossen waren. Jemand hatte zuvor das Schloss aufgebrochen, um damit zu fahren. Dann hatte er es abgestellt, weil er es nicht mehr brauchte. Niemals würde ich gewaltsam ein fremdes Schloss öffnen, aber warum sollte ich den Umstand nicht nutzen? Schnell entdeckte ich, was ich suchte. Eine Mischung aus City- und Hollandrad. Die Reifen waren aufgepumpt, der Rahmen nicht verzogen, die Gangschaltung funktionierte. Auf der Visitenkarte stand eine Adresse in der Innenstadt. In diesem Teil der Stadt kannte ich mich ein wenig aus, weil ich dort immer wieder Zeichnungen für meine Bilder anfertigte. Meine Stadtbilder. Nicht für die Penta-Bilder.
Auf den Weg wich ich ständig Fußgängern aus, die auf ihre Handys starrten und sich dabei auf die Radwege verirrten. Wenn ich klingelte, blickten sie nur kurz und irritiert auf. Ungewollt herausgerissen aus einer Welt, in die sie sofort wieder zurückkehren wollten. Sie schrieben Kurzmitteilungen oder Emails. Kaum jemand ging mit offenen Augen durch die Straßen. Fast alle glotzten auf die Displays ihrer Handys, wenn sie nicht gerade das Gerät am Ohr hielten oder laut vor sich hin in die Freisprechanlage redeten, als hätten sie eine ausgewachsene Psychose. Immer wollten alle in Echtzeit verfügbar sein. Immer erreichbar, greifbar, zugänglich. Also existent. Vielleicht fiel es mir nur deshalb auf, weil ich mich schon lange nicht mehr als Teil all dessen fühlte. Ich war hier fremd. Aber wie könnte ich das, was ich beobachtete, in einem Bild ausdrücken?
Ich suchte die Adresse, die auf Hepes Visitenkarte stand. Geschäftshäuser. Dicht an dicht. Nicht wie im Hafen. Hier sah man kaum Himmel. Straßen in engen Schluchten.
Es war ein neues, hohes Gebäude, vielleicht sogar eine kleine architektonische Sensation, weil es aussah, als sei es aus Schokolade hergestellt worden. Ein glänzendes Schokogebäude, über das Zuckerguss gekippt worden war, der weißlich an den Seiten herunterlief. In die reflektierende Glasur waren die Fenster eingesetzt worden. Eine große Büropraline mit einem kleinen Schild: Gesellschaft für Informationsökonomie mbH. Was sollte das bloß sein? Auf der Eingangstür ein eigenartiges Logo. Ein sitzender Indianer. Auch in einer Kakaofarbe.
Ich stellte das Rad ab, und betrachtete mich in einer der Zuckerscheiben, die mich und die gesamte gegenüber liegende Straßenfront spiegelte. Ein Bild auf dem Bild. Haare zu lang. Erste graue Strähnen. Ungepflegter Bart. Schlampiger Pullover. Und unten sah es auch nicht gut aus. Konnte ich mich so vorstellen, um ein Geschäft abzuschließen? Er hatte gefragt. Er konnte nicht erwarten, dass ich heute anders aussehen würde als gestern.
Die schwere Glastür mit dem Logo öffnete sich automatisch. Vor mir eine Rezeption. Wieder das schokoladenbraune Logo groß an der Wand. Eine junge Frau davor. Unsicher humpelte ich auf sie zu. Sie sah … irgendwie frisch aus. Langes, blondes Haar. Unauffällig geschminkt. Himmelblaue Augen. Gut gekleidet. Eine fast durchsichtige, helle Haut. Und sicher roch sie gut. Als sie mich erblickte, begann sie sofort zu lächeln, warf ihr Netz aus und fing mich ein.
„Mein Name ist … Mattis Jensen, “ stammelte ich verlegen.
„Guten Tag, Herr Jensen. Mein Name ist Nina Häusler.“ Eine warme, fast zärtliche Stimme.
Eine kleine Pause entstand. Aber nicht peinlich. Eher angenehm.
„Ah, ja. Ich hatte so einen vagen Termin mit Herrn Pinske. Ist das richtig hier?“
„Natürlich, Herr Jensen. Da sind Sie hier richtig. Lassen Sie mich das bitte kurz checken.“
Erst jetzt sah ich, dass sie ein unauffälliges Headset trug, das mit einem Bügel an ihrem Ohr steckte. Die blonden, langen Haare verdeckten es fast.
„Ja, nochmals herzlich willkommen, Herr Jensen. Wenn Sie durch diese Tür links gehen, dann erreichen Sie einen Warteraum. Man wird Sie dort abholen.“
Ich bedankte mich.
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Jensen.“
Sie ließ mich frei.
Meine Güte, das sollte Volo mal erleben.
Der Raum war groß. Sessel in gedeckten Farben auf teurem Holzboden. Acht oder zehn Männer. Drei oder vier Frauen. Eine imposante Espressomaschine. Gekühlte Getränke hinter Scheiben. Kekse, Schokolade, Sandwiches auf einem Tresen. Einige Flat-Screens an den Wänden. Sportwetten. Wirtschaftsinformationen. Der Ton leise eingestellt. Die Besucher saßen auf den Sesseln, allein oder in Gruppen. Alle gut gekleidet. Espressotassen oder Saftgläser in den Händen. Sie verfolgten die Programme. Ein Pferderennen in Australien. Die Entwicklung des Goldpreises in den letzten Tagen. Ein Börsenbericht aus Frankfurt. Eine kleine Gruppe von drei Männern trank aus Sekt- oder Champagnergläsern. Durch die hohen Glasfenster konnte man die Straße sehen. Mein Rad stand direkt davor. Dort hatte ich mich gerade von außen in der zuckrigen Scheibe begutachtet. Hätte ich durch die Scheibe blicken und trotzdem die Reflektionen wahrnehmen können, dann wären gleich mehrere Wirklichkeiten übereinander liegend sichtbar geworden.
Die Besucher in diesem Raum hatten mich von hier aus beobachten können. Aber niemand beachtete mich. Ohnehin schienen sich alle miteinander zu beschäftigen. Niemand sprach mich an. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich und nahm ein Käsesandwich, um etwas in der Hand zu halten. Kaum hatte ich hineingebissen, näherte sich mir ein unauffälliger, junger Mann im Anzug. Auch er trug an einem Ohr ein Headset wie die Frau an der Rezeption.
Wo war er nur hergekommen?
„Herr Jensen. Ich darf Sie zu Herrn Pinske begleiten.“
Die rückwärtige Wand öffnete sich ein wenig, als er mit mir darauf zuging. Dann ein Flur. Überall Holz und Glas. Moderne Plastiken. Glänzender Marmor auf den Böden. Ein kleiner Schwenk nach rechts, und wieder schob sich eine Wand auf. Ich ging hindurch, und die Wand schloss sich hinter mir mit einem leisen Flüstern. Der junge Mann war verschwunden.
Ein heller Raum mit einer großen Glasfront zu einem Innengarten. Über einen Felsen dort plätscherte Wasser. Man hörte nichts davon. Auf dem dunklen, glänzenden Holzboden lag ein dicker, orientalischer Teppich.
„Komm doch näher“, hörte ich Hepe. Er war verdeckt durch einen Paravent. Seide. Japanische Motive. Als ich um den Paravent ging, sah ich ihn auf einem Ledersessel sitzen. Er trug eine hellbraune Weste zu einer blauen Hose. Dazu eine dezente Krawatte. Hepe erhob sich schwungvoll und umarmte mich zur Begrüßung herzlich. Ich ließ es geschehen. Dann schlug er mit der Hand gegen einen zweiten Sessel neben sich.
„Hier kannst du dein Sandwich aufessen.“ Tatsächlich, ich hielt es immer noch in der Hand.
„Gefällt es dir bei mir?“
„Ja. Ich glaub‘ schon.“
Er lachte kurz auf. Unschlüssig setzte ich mich neben ihn. Auf einem kleinen Glastisch vor uns standen Kaffeetassen. Ohne zu fragen begann er, uns Kaffee einzuschenken.
„Milch und Zucker?“
„Nur Milch. Ein wenig.“
Der Kaffee würde mir nicht guttun. Das wusste ich jetzt schon.
„Ist fettarm. Ich muss auf meine Linie achten.“ Er klopfte lächelnd auf seinen Bauch. „Sitze immer irgendwo rum. Du allerdings könntest etwas zulegen. Du bist zu dünn, Mattis. Siehst nicht wirklich gesund aus.“
Ich ließ meinen Blick durch das große Zimmer schweifen und blieb am Schreibtisch hängen. Mehrere Screens flimmerten dort. Nichts lag auf dem Tisch. Dahinter hing ein großes Bild.
„Roy Lichtenstein!“, entfuhr es mir. „Ist es ein Original?“
„Was glaubst du denn, Mensch? Hängt da schon mehrere Jahre. Ich kann’s ehrlich nicht mehr sehen. Dieses Comiczeug. Aber jetzt bist du ja hier.“
Mein Blick glitt zum Paravent. Davor ein Stuhl. Auf den Armlehnen stand mein Bild 12 Punkt 9 . Eines der Nummernbilder. Der Paravent hatte es verdeckt.
„Tja, siehst du“, sagte Hepe, “ ich hab’s gefunden. Hing in einem Büro im vierten Stock. Ich betrachte es schon einige Zeit lang.“
Ich starrte auf das Bild und war zunächst erstaunt, dass es nichts in mir wachrief. Ich wusste, warum ich es gemalt hatte, in welchem Zusammenhang. Doch es war tot. Es hatte nie gelebt. Ich hatte damals tote Bilder geschaffen. Warum nur? Weil man mich dafür belohnt hatte?
„Es ist gut, Mattis. Ziemlich gut. Deine frühe Phase damals. Aber du kannst viel mehr. Das weißt du aber selbst. Tastest dich seit so vielen Jahren immer weiter voran. Was für eine Energie steckt bloß dahinter. Was für ein Eifer. Und vielleicht ja doch ein Gespür. Das Problem ist nur, dass niemand es wahrnimmt. Das sollten wir ändern. Findest du nicht auch?“
„Was sollten wir ändern?“
Ich biss in mein Sandwich, damit ich es endlich loswerden konnte, auch wenn mir davon schlecht werden würde. Hepe richtete sich etwas auf.
„Du hast mir heute Nacht erklärt, dass du das malen willst, was tatsächlich vor sich geht. Du malst etwas, was unsere Zeit betrifft, die Veränderung, die Bewegung, den Aufbruch, einen Umbruch, das Neue. Hab ich gut verstanden. Da bin ich auch ganz bei dir. Aber was soll das alles, wenn es niemandem bekannt ist, Mattis? Es sind doch Bilder, die man ansehen kann, die man ansehen müsste. Die muss man doch anderen Menschen anbieten.“
Endlich hatte ich das Sandwich aufgegessen.
„Finde ich gar nicht so wichtig, Hepe. Und ich weiß auch nicht, ob ich anderen Bilder überlassen will.“
„Das weißt du nicht?“
„Nee, und wer sollte sie mir schon abnehmen wollen?“
Hepe rutschte auf seinem Sessel nach vorn, um mir näher zu sein. Wieder diese Augen. Er hatte einen fesselnden Blick. Und er wusste es. Zähne wie helle Perlen an einer Kette.
Hatte er früher auch solche Zähne gehabt?
„Hast du’s probiert?“
Ich schwieg. Er sah mich noch eine Zeit lang an. Dann ließ er sich wieder nach hinten fallen.
„Deine Bilder damals. Dekorationskunst hast du sie genannt. Das mag stimmen. Davon hab ich keine Ahnung. Aber jetzt, Mattis, schaffst du doch etwas mit Aussagen. Aussagen über unser Befinden, über unsere Sicht auf die Welt. Das kann großes Interesse wecken. Da ist es doch wichtig, dass andere es sehen, darauf reagieren, drüber wütend oder davon angezogen sind. Was auch immer. Wichtig ist, dass sie reagieren. Dass sie darauf anspringen … Dass sie es … haben wollen.“
„Ja, aber es interessiert sich niemand dafür.“
„Natürlich, weil es keiner weiß, Mattis, weil deine Bilder da in deiner Hütte im Hafen rumstehen. Weil du sie versteckst. Wie viele sind das wohl? Zweihundert? Dreihundert? Ich bin nun nicht gerade ein Kunstmensch. Weißt du ja. War ich nie. Ich kaufe Bilder, weil sie mir in der Regel eine gute Rendite garantieren. Ich seh das mit der Malerei alles etwas einfacher. Bilder müssen nicht im Hoch-, sondern im Querformat gemalt werden, weißt du. Besser sind noch quadratische Bilder. Das können sich die Leute leichter zuhause hinhängen. Passt fast an jede Wand. Sie sollten Rot enthalten aber nicht viel Schwarz. Keiner will zuhause ein schwarzes Bild haben. Die Farben sollten leuchten. Und über die Motive sollte man ein wenig nachdenken können. Aber nur ein wenig. Das alles kann dann gemalt sein, gespachtelt, geritzt. Das siehst du vielleicht nicht so. Musst du ja auch nicht. Aber eines weiß ich. Deine Bilder, Mattis, haben Potential. Da lässt sich gut was draus machen.“