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Kitabı oku: «Adams Söhne», sayfa 18

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Drittes Buch

I. Kapitel

Zehn Monate waren seit jenem Juli-Morgen vergangen.

Über den Gräbern von Waldenburg und Sohn war der Winterschnee gefallen und wieder weggeschmolzen; der kalte Frühling des Jahres 1888 war in der zweiten Hälfte des Mai endlich warm geworden, und als Pfingsten heranrückte, wehten sommerliche Lüfte. Auch über die Salzburger Ebene wehten sie am Gebirge hin; das verspätete Grün entfaltete sich plötzlich, der Schnee auf den Bergen zog sich gegen die höchsten Kämme zurück. Ein unendlich erheiternder, goldiger Glanz hatte sich am letzten Tage vor Pfingsten ausgebreitet, die erste Hitze war mit ihm gekommen, die die einen, nach Menschenart, schon zum Stöhnen und Klagen trieb, von den andern als Entschädigung genossen und als Verheißung begrüßt ward. Wittekind fuhr mit seinem Sohn, auf der Bahn von München her, gegen Salzburg zu; der Untersberg wuchs mehr und mehr, in die blaue Luft ragend, ein letzter silberner Schimmer lag auf seinem Scheitel. Sie sah’n ihn freudiger wieder, als sie ihn verlassen hatten: nicht die Trennung stand vor ihnen, sondern gemeinsame Festtage; eine frohe Erwartung belebte sie, und nur der Schatten gewisser Erinnerungen zog ihnen aus dem Salzachtal entgegen und flog über den sonnigen Tag. Sah Wittekind dann aber auf Berthold, so blieb ihm nur die Freude; so wohl tat ihm der Anblick seines aufgeblühten Jungen, den der lange Winter, wie es schien, gehärtet und gestählt hatte. Nicht nur der junge, kräuselnde Bart machte ihn männlicher; auch die Züge um Aug’ und Mund waren reifer, charaktervoller geworden, die Farbe der Gesundheit hatte sich befestigt.

Ein lebhaftes, freies Lächeln verklärte und verschönerte ihn, so oft er vom Fenster aufblickte und die geliebte Nähe seines Vaters fühlte. In den hellen Augen spielte freilich noch gern dieser weiche Glanz, aus dem der Schwärmer hervor sah; ›aber warum sollte er auch nicht!‹ dachte Wittekind. ›Ist er nicht noch so jung? Soll er nicht mehr irren? Und sollte nicht jeder von uns ein wenig von diesem Glanz bis zum Tod behalten?‹ Auf dem Münchener Bahnhof hatten Vater und Sohn sich diesen Morgen beim Wiederseh’n umarmt; gegen Mittag hatten sie sich aufgemacht, um Saltners Einladung zu folgen und die Pfingsttage bei ihm zuzubringen, in seiner ›Einsiedelei‹, die die Schicksale des vorigen Jahres so unerwartet bevölkert hatten. Es war ihnen beiden wunderbar genug, dass sie dort sowohl die braune Kathi, als die Witwe Eugens wiedersehen sollten; und sie wurden umso stiller, je näher der Waldrücken des Kapuzinerbergs herankam, der den bescheiden hingestreckten Mönchsberg überragte. Berthold war mehr romantisch erregt, Wittekind beklommen. Er suchte sich ruhig und gelassen vorzustellen, wie er die schwergeprüfte Frau in diesem ihrem Asyl nun wohl finden möchte; mit der Gelassenheit jedoch wollte es nicht geh’n. In sein ›altes Herz‹, wie er es zu nennen suchte, schienen die Mailüfte hineinzuwehen; es kam auch etwas wie Meerluft dazu, ein Hauch von jenem Mittag, an dem er Marie von Tarnow bei den hohen Buchen wiedergesehen hatte. Wie wenig ahnte er damals, was ihm die nächsten Tage in Blitz und Donner enthüllten: Eugen Dorsay ihr Mann, Waldenburg ihr ›Schwiegervater‹ – es klang ihm wie Blasphemie – und dann beide ins Grab gemäht…

Sie fuhren an der Vorstadt Mülln vorbei, darauf über die Salzach, wo damals Kathi den Tod suchte und Berthold ihr nachsprang; endlich kam der Bahnhof, und sie sahen eine mächtige Gestalt, mit weißem Bart, die mit dem Taschentuch winkte. Als sie ausstiegen, stand Saltner schon an ihrem Wagen; er umarmte sie beide, küsste sie auf die Wangen, klopfte dann Berthold auf die Schulter und lächelte Wittekind an. Der Alte war nicht verändert, ebenso aufrecht wie früher, die Bewegungen noch jugendlich rasch; nur schien das hagere Gesicht nicht so tief gebräunt.

»Sie sind also willkommen!« sagte er kurz. »Das wissen Sie. Redensarten machen wir nicht. Nur noch eins: wir sind gute Freunde, und das wollen wir bleiben; darum – volle Freiheit. Sie leben in meinem Haus, wie es Ihnen gefällt. Ich will des Teufels sein, wenn ich Sie geniere; Freiheit über alles. Sie werden ja auch dem alten ›Einsiedler‹ seine kleinen Unarten gönnen. Und nun fahren wir ab!«

Er drückte beiden noch einmal die Hand, ihnen herzlich zunickend; darauf ging er voran, zum Wagen, der unten auf dem Platz auf sie wartete. Wie damals von Grödig rollten sie miteinander im offenen Gefährt dahin; am Schloss Mirabell, an der alten Brücke vorbei, dann in die Vorstadt Stein, die sich am Fuß des Kapuzinerbergs hinzieht.

»Gleich werden wir’s haben«, sagte Saltner im Fahren, mehrmals nacheinander. »Und dann werden wir sie ja seh’n, unsre liebe Frau Marie … Von außen wie eine Blume; da fehlt nichts. Was das Inwendige betrifft – nun, Sie werden ja seh’n. Dem kleinen Ding, der Kathi, geht’s besser als der Marie. Die siebzehn, achtzehn Jahre! – Ich hab’ das dumme Ding nicht wieder herausgegeben, und hab’ recht gehabt. Da hat sie niemand gestört, und alles ist gut vernarbt und geheilt, als verstünde es sich von selbst. Sie hilft meiner alten Haushälterin, die ein rechtes Wrack ist, schafft fleißig, fühlt, dass sie was nütz ist – und sieht schon wieder so aus, wie dieser Sommertag. Nun, Sie, lieber Herr Wittekind – oder ohne ›Herr‹: lieber Freund – Sie haben heute auch ein anderes Gesicht als damals im Juli, als wir uns am Meer trafen; als meine Marie mir telegraphiert hatte: ›Eugen ist tot; kommen Sie, wenn sie können‹ – und ich komme angefahren und finde noch einen tot, den Vater! – Hol’ mich der Teufel, Sie hatten damals auch so ein hippokratisches Gesicht; wie vom Blitz getroffen. Jetzt sind Sie wieder jung und rot. Das da ist mein Haus!«

Sie hielten vor einem steingrauen, nicht großen, unregelmäßigen Gebäude, das an der Straße stand; eine alte Frau, die Haushälterin, kam hüstelnd aus der Tür, die Gäste mit angenehmer, zutraulicher Höflichkeit zu begrüßen.

Darauf stürzte ein kleiner, halberwachsener Diener hervor, um sich des Reisegepäcks zu bemächtigen und es mit einem unnötigen Aufwand von Kraft und Eile in das Haus zu tragen. Drinnen empfing sie eine erfrischende Kühle; die junge Sommerglut war in die dicken Mauern noch nicht eingedrungen, obwohl das Haus gegen Südwesten und recht am Fuß des Kapuzinerberges stand. Rückwärts stieg aber noch ein baum- und schattenreicher Garten in mehreren Terrassen und Vorsprüngen ziemlich hoch hinauf, bis er die alte Mauer erreichte, die den Berg vor Zeiten zu einer Festung machte. Allerlei Fußwege schlängelten sich in ihm empor und nach rechts und links; sonnige und gedeckte Ruheplätze, Zelte, Tische und Bänke schauten hier und da aus dem zart leuchtenden Frühlingsgrün hervor, jedes ein Luginsland, das von seiner erhöhten Lage auf die Stadt, die Zitadelle und in die Ferne blickte.

Saltner hatte im Hans sogleich Wittekinds Arm ergriffen und zog ihn mit seiner unwiderstehlichen sanften Gewalt in diesen Garten hinaus; »hernach«, sagte er, »mögen die Herren sich schön machen und Reisestaub abspülen, so viel sie wollen, erst aber begrüßen wir unsre liebe Frau!« —

Wittekind, dem das Herz schlug, nickte, sie stiegen in der warmen, sinkenden Sonne bergauf, Berthold hinter ihnen.

Auf einmal raschelte es seitwärts im Gebüsch; sie sahen hin und bemerkten zwischen den noch dünn belaubten Zweigen ein junges, wangenrotes Gesicht, in dem ein paar feurige braune Augen blitzten.

»Die Kathi!« flüsterte Berthold.

Als das Mädchen sich beobachtet sah, schien es noch mehr zu erröten und wandte sich ab, sodass nur noch eine der gebräunten Wangen sichtbar blieb. Darauf trat sie sacht’ zurück, zog einen Zipfel ihres schwarzen Kopftuchs vor ihr Gesicht und huschte hinter den Bäumen davon.

»Ein dummes Ding«, murmelte der Alte; »aber besser so, als dreist. Sie schämt sich. Lassen wir sie jetzt. Das Mäuslein kommt schon wieder. Bitte, leise. Da sitzt sie!«

Er meinte Marie, die noch etwas höher, unter einem Schutzdach in Gestalt eines riesigen grauen Sonnenschirms, auf einem Gartenstuhl saß. Ein Buch lag auf ihrem Schoß; sie las aber nicht, sondern blickte nach Salzburg hinüber. Wittekind sah von unten in die groß aufgeschlagenen, beschatteten Augen hinein, die ihm noch nie so erstaunlich und bedeutend, so wunderbar gewölbt und in ihrer tiefen Höhle wie die wirklichen Weltfühler und Lichtgebilde der Seele erschienen waren. Es ward ihm aber nicht wohl, diese schönen Sterne so fremd und unweltlich in den verklärten Tag hinausdämmern zu seh’n, mit einer ruhigen, starren Müdigkeit, die den jungen und luftgebräunten Wangen, der Frische und Reinheit der Farben widersprach. Die Gestalt war nicht voller geworden, auch nicht abgemagert; das Antlitz hatte an Jugend nicht verloren und an Schönheit gewonnen, wie sein Gefühl ihm sagte; es war aber so lebensstill, so witwenhaft, dass sein Herz sich zusammenzog und er die Arme sinken ließ und steh’n blieb, als habe es keinen Zweck mehr, zu ihr hin aufzugeh’n.

»Wir müssen doch guten Tag sagen«, flüsterte Saltner endlich.

Er nahm wieder Wittekinds Arm und zog ihn weiter. Das Geräusch der Schritte weckte die träumende junge Frau; als die Männer herankamen, war sie aufgestanden und begrüßte sie mit einem herzlichen, frohen Lächeln, in dem von jener Müdigkeit und Starrheit nichts mehr zu spüren war. Ihre Hand war freilich kühl, als sie die des beklommenen Wittekinds ergriff. Eine Weile hielt dieser sie fest, er wusste nicht warum, und betrachtete die große, charaktervolle, edel geformte Hand, in der die Adern so zart bläulich schimmerten.

»Es ist lange her«, sagte er nur; die Worte kamen ihm so schwer und als eine überflüssig nichtige Form über die Lippen.

Sie nickte, und entzog ihm sanft die Hand, um sie auch Berthold zu geben. Der Bart, die erhöhte Männlichkeit des Jünglings schien sie zu verwundern; sie blieb aber still. Zuletzt nickte sie dem Alten zu, mit dem guten, einverstandenen Blick eines Kindes, das den Vater begrüßt.

»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte endlich ihre klangvolle, doch etwas matte Stimme.

›Wozu?‹ dachte Wittekind. Er ließ sich jedoch auf einen der Stühle nieder, die um den ihren herumstanden, und betrachtete das Bild, auf das vorhin ihre Augen sich gerichtet hatten. Die Türme und Kuppeln der Stadt stiegen, von allerlei Sonnenlicht glänzend, aus dem Schatten der Gassen auf, die sich an die braune Wand des Mönchsbergs legten und an deren steinerner Unbeweglichkeit die graue Salzach so eilig vorüberströmte. Lichter und Schatten wechselten herrlich an der hohen Festung, die den Saltner’schen Terrassen grade gegenüber lag; hinter ihr silberte der Gipfel des Untersbergs, der ›Salzburger hohe Thron‹. Glocken begannen in der Stadt zu läuten; nicht in so tiefem Ton, wie ihn Wittekind aus seiner Heimat gewöhnt war und jetzt so gerne gehört hätte. Sie waren hell, heiter, klangen fast wie die Einleitung zu einem Fest zusammen.

›Freilich, das Pfingstfest!‹ dachte er. ›Ist es denn nicht ein Fest? Und das fröhlichste? Das Frühlingsfest?‹

Er wandte den Kopf nach Marie. Sie lächelte wieder, als sie es bemerkte. Indessen er fühlte wohl, dass es erzwungen war.– ›In der war kein Frühling.‹ Nun fiel ihm auch Saltner ins Auge, der neben ihr aufrecht stand; der Alte hatte den Kopf gegen die Brust sinken lassen, als würde er ihm zu schwer, und zog an seinem langen Bart, dass ihm einige der festen Haare zwischen den Fingern blieben. Ja es schien, als fiele ihm ein Tropfen auf die Hand; seine Augen waren durch die gewaltigen Brauen verdeckt, die sich tief hinabgezogen hatten.

Dennoch mochte er empfinden, dass er beobachtet ward; er legte plötzlich eine seiner braunen Hände auf Bertholds Schulter, wandte sich mit ihm ab, indem er ihn sacht herumdrehte, und einige Worte murmelnd führte er ihn nach der andern Seite der Terrasse. Dort blieben die beiden steh’n, bald in eifrigem, halblautem Gespräch. Wittekind sah sich allein mit Marie. Ein erstes, unsicheres Gefühl von Freude ging ihm durch die Brust.

»Haben Sie die Kathi schon geseh’n?« fragte die junge Frau, nachdem sie stumm die Lippen bewegt und ein suchendes Zögern überwunden hatte.

»Sozusagen, geseh’n«, antwortete Wittekind. »Sie stand hinter einem Gebüsch – und lief wieder fort.«

»Sie begreifen«, sagte Marie, vor sich niederblickend, »dass es im Anfang – nicht leicht für mich war, dieses Mädchen täglich zu seh’n; in einem Hause mit ihr. Denn Herr von Saltner hatte mir nicht verhehlt – —«

Sie brach ab. Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort:

»Er stellte mir anheim, ob er sie wieder zur ›Gemse‹ hinaufschicken solle. Nein; das wollt’ ich nicht. Da hätte sie bei ihren Leuten keine guten Tage gehabt – hätte nicht so wunderbar gedeihen und genesen können, wie bei diesem göttlichen – — wie bei Herrn von Saltner. So ist sie geblieben, und ich – — ich hab’s ausgehalten. Ich näherte mich ihr; da ging’s. Hab’ mich mit ihr beschäftigt, sie dies und das gelehrt; und dazu das Mitleid … Nun bin ich ganz zufrieden, dass sie da ist; hab’ sie lieb, und hoffe, es geht ihr gut!«

»Wie sich doch immer zeigt«, entgegnete Wittekind, »dass ›gut sein‹ und ›weise sein‹ eigentlich dasselbe ist.«

»Ach, sagen Sie nicht, ich sei gut«, antwortete sie, den Kopf langsam schüttelnd. »Ich bin ein Stein, weiter nichts. – — Wissen Sie denn das? Lanas sind geschieden!«

»Wer ist geschieden?« fragte Wittekind; er hatte den Namen überhört, in seine Gedanken versunken.

»Graf Lana und die Gräfin. Ich hatte gedacht, der Graf werde sich nie dazu versteh’n … Aber man sagt – wie die Baronin Tilburg mir schrieb – er habe Papiere gefunden oder bekommen, mit so furchtbaren Dingen, dass ihm seitdem davor graue, die Gräfin wiederzuseh’n. Der Himmel mag wissen, wie sich das verhält; aber wahr ist: er hat sich nie mehr bemüht, sie wieder aufzufinden. Und nun sind sie geschieden.«

»Und wo lebt die Gräfin?«

»In Venedig, hör’ ich. Es soll ihr gar elend geh’n; ihre blühende Gesundheit zerrüttet; wenige Menschen, die sich ihrer annehmen. Der Graf meidet die große Welt, lebt auf seinen Gütern.«

»Ich würd’ ihn noch mehr bedauern«, sagte Wittekind mit einem ernsthaften Lächeln, »trieb’ er es umgekehrt! Denn auf ›meinen Gütern‹ und ohne die große Welt leb’ ich auch. – — Freilich —«

Er verstummte.

»Freilich —?« fragte sie und blickte ihn wieder an.

»Reden wir nicht von mir«, erwiderte er; »es ist besser. Kurz, ich lebe noch – und habe gelebt.«

»Daheim?« fragte sie. »Als wir uns damals noch einmal gesehen hatten – nach Waldenburgs Tod – Sie kamen mit Herrn von Saltner zugleich —«

»Ja, ja!« murmelte er. »Auf die Nachricht hin – —«

Marie fuhr fort:

»Haben Sie seitdem beständig auf Ihrem Landgut gelebt?«

»O ja! Wo denn sonst? – Nur ein paar Wochen in meiner Vaterstadt und in Berlin – um einzuseh’n, dass die ›große Welt‹ mir diesmal nicht viel nütze. Da ging ich nach Haus’. Hab’ gearbeitet, geschafft, studiert, vom Morgen bis zur Nacht: das tut immer gut, auch wenn man’s nicht glauben will. Zu Weihnachten kam mein Frühling, mein Berthold.« —

»Und wie geht es dem? – Wie dieser werdende Bart ihm steht!« —

Marie lächelte, nachdem sie bei Wittekinds Reden die Lippen in stiller Wehmut bewegt hatte.

Er nickte.

»Er wird noch ein Mann werden, hoff’ ich! – Mit seiner Wissenschaft liegt er freilich noch im Streit; er will etwas anderes – und weiß nicht, was es ist. Ein wunderliches Gefühl, das mit anzuseh’n. Aber ich habe Geduld.« —

»O haben Sie nur Geduld!« fiel Marie ihm ins Wort, indem sie plötzlich die Stimme hob, die bis dahin nur so gedämpft, so müde gesprochen hatte. »Sie, ein so glücklicher Vater – — vergessen Sie das nie. Wie fühlt’ ich das schon damals – auf der ›Hedwigsruhe‹ – so ein Vater und so ein Sohn – —«

Sie konnte nicht weitersprechen, oder wollte nicht. Der Atem schien ihr zu stocken. Langsam stand sie auf.

Wittekind schwieg. Es ward eine lange Stille. Sie wandte endlich den Kopf zu ihm; ihr Blick wollte ihm offenbar für dieses Schweigen danken. Sie ließ nun auch die Tränen seh’n, die ihr groß und still in den Augen standen; bis sie die linke Hand erhob und die beiden Tropfen mit einem leise hingleitenden Finger abschöpfte.

»Das ist so gut«, sagte sie fast flüsternd, »dass ich nun solche Tränen um ihn weinen kann! – — Um Eugen«, setzte sie hinzu.

»Das ist der segnende Tod«, erwiderte er und nickte. »Sie haben die Tränen vergessen, die seine – menschliche Schwachheit Ihnen sonst wohl auspresste, und weinen nur noch um das Edle in ihm. – Ja, ja, der Tod ist stark!« fuhr er bewegter fort. »Er füllt die Abgründe und trägt Berge weg – er löscht die großen Feuer des Zorns und des Hasses aus, bläst die verglimmende Liebe aus der Asche – und wie er den Großen klein macht, macht er den Kleinen groß. Ihr ruheloser Toter hat nun seinen Frieden, in Ihrem verklärenden Gedächtnis hat er seinen Tempel; – geht es ihm nicht gut?«

Sie schwieg. Dann aber sagte sie, ohne aufzublicken:

»Ich danke Ihnen. Sie vergolden mir seinen Tod. – — Wie das Gras nun wächst über alledem … Die Welt, die so schnell vergisst, weiß von ihm nichts mehr; von seinem Vater erzählt man sich wohl noch zuweilen, dass der Graf Lana ihn erschoss und mit einer fürstlichen – Begnadigung dafür büßte; übers Jahr wird auch das wohl vergessen sein. Dann erinnern sich nur noch die Tilburgs und Ihresgleichen, dass der Geheimerat Waldenburg ein so bezaubernder Gesellschafter und goldener Redner war, der die Menschen so wunderbar zu gewinnen wusste.« —

»Nun, sie haben Recht!« fiel Wittekind ein. »Er gewann die Menschen – so wie der Teufel Seelen gewinnt. Er kam mir wie eine Spinne vor, die ich einmal sah, als ich in jungem Wald ging: die Spinne schwebte und kroch an ihren Fäden in der Luft, ein hässlicher Klumpen mit den langen, dünnen, raubgierigen Beinen, aber von rückwärts schien die Sonne an ihr hin und scheinbar durch sie hindurch, die Beine glänzten wie das reinste Gold, auch der Leib war ringsum vergoldet; kein Tier konnte märchenhafter und reizender sein. So eine goldene Spinne war auch Waldenburg. – Warum ihn der Graf erschoss, und nicht er den Grafen, das mag Zufall heißen; aber ich glaube, Waldenburg fand einen gerechten Tod!«

»Er starb doch für seinen Sohn«, sagte Marie leise.

»Nun ja, es fügte sich so. Hätt’ es sich anders gefügt, er hätte vielleicht wie ein zweiter Catilina an seinem Sohn gehandelt.« —

»Wie meinen Sie das?« fragte sie.

»Ich erinnere mich noch vom Gymnasium her – wir lasen den Sallust. Man sagt dem Catilina nach, dass eine schöne Römerin, die er um jeden Preis besitzen und zu seinem Weib machen wollte, diese Ehre ausschlug, weil er einen schon erwachsenen Sohn hatte: darauf tötete er diesen Sohn. – Verzeihen Sie; der Vergleich missfällt Ihnen, wie ich sehe. Ich sage auch nicht, dass Waldenburg ein Catilina war; ein Genussmensch war er, kein Verschwörer, kein Italiener mit Dolch und Gift. Er hätte vielleicht nicht den Mut gehabt … Aber er war schlecht; glauben Sie mir das. Und auch das war diabolisch an ihm, dass die, mit denen er sprach, in der Regel schlechter von ihm fortgingen, als sie gekommen waren; dass sein kaltes Herz und sein blendender Geist wie schleichendes Gift auf die Menschen wirkten, und von der ätzenden Säure dieser goldenen Spinne etwas mit hinausging!«

Marie sah Wittekind an. Sie hatte wieder den milden, guten Blick für ihn, mit dem sie ihn damals an der Ostsee bis ins Herz erwärmt hatte.

»Bei Ihnen ist’s umgekehrt«, sagte sie dann in halb verhaltener Bewegung.

»Wieso umgekehrt?«

»Sie sind wie Saltner … Warum soll ich es nicht sagen. Sie haben die himmlische Eigenschaft, dass die Menschen in Ihrer Gegenwart stets besser werden, statt schlechter; – ich hab’s an mir selbst gespürt.«

Wittekind stand so betroffen da, dass er weder etwas erwidern, noch sich regen konnte. Eine heiße Freude stieg ihm ins Gesicht.

»Darum werden Sie wohl auch selten so vernichtend urteilen«, fuhr sie fort, »wie jetzt über Waldenburg. Denn bei all Ihrer Menschenkenntnis werden Ihnen die Menschen selten so niedrig und erbärmlich vorkommen, wie sie wirklich sind: vor Ihnen gibt jeder sein Bestes, denk’ ich, auch ohne dass er es weiß oder dass er’s will!«

»Ich glaube, Sie irren doch«, antwortete er lächelnd, obwohl es ihm noch große Mühe kostete, sich zu fassen. »Die Erbärmlichkeit macht es einem zu schwer, sie nicht zu durchschau’n! – — Aber was sagen Sie mir da, teure gnädige Frau. Nie hab’ ich gehofft, dass Sie mir ein so beglückendes Wort – — Nie hat mir ein Mensch so ein gutes, erhebendes Wort gesagt. Warum tun Sie das? – Das ist gefährlich. Ich bin ja ein Mensch; eitel sind wir alle. Und ich hab’ Sie in diesem einsamen Winter ja doch – nicht vergessen … Sehen Sie, auf einmal steh’ ich nun wie in hellem Feuer; die Hoffnungen – die begrabenen – — Frau Marie!«

Er trat einen Schritt auf sie zu, eine Hand auf der Brust. In seinen klaren blauen Augen war plötzlich eine Flamme aufgegangen, die sie noch nie darin gesehen hatte, die sie jetzt erschreckte. Sie war aufgestanden und streckte unwillkürlich wie zur Abwehr die Hände aus.

»Nein, nein!« rief sie aus, doch die Stimme sogleich wieder dämpfend; »ich beschwöre Sie um alles, sprechen Sie nicht weiter; tun Sie mir nicht so weh. ›Hoffnungen‹ … Ich bin ja tot; ich will vom Leben nichts mehr; was ich Ihnen da gesagt habe, das hab’ ich wie aus dem Grab gesagt. Verzeihen Sie mir’s, wenn es gefährlich war … Ach, das dacht' ich ja nicht!«

»Warum sind Sie ›tot‹?« fragte er; ihr mitleiderregender Anblick gab ihm eine Art von Ruhe wieder.

»Fragen Sie noch, warum? – Eine Frau, die so geirrt und die das erlebt hat – ist deren Leben nicht aus? Sagen Sie mir nichts; ich weiß, wie es ist; lasst mich, wie ich bin! Ich tue ja nichts, ich nehme mir das Leben nicht, ich trage ja mein Schicksal; aber aus der Welt bin ich heraus – nicht nur aus der Tilburg’schen, in der ich es nicht mehr aushielt – nein, aus Eurer auch. Ich bin in den ›Wald‹ gegangen, wie es Saltner nennt. Lasst mich da in Frieden! Stört mich nicht mehr auf!«

Eine fieberhafte Röte stand ihr auf den Wangen; ihre Arme zitterten. Die innere, eingeschlossene Leidenschaft entlud sich, und umso erschütternder, da die Stimme sich wenig hob – damit kein andrer sie hörte – und die schöne Gestalt sich fast nicht bewegte. Wittekind stand ebenso versteinert da; sein Herz war auf einmal still und hoffnungslos geworden.

»Und Sie glauben nicht«, murmelte er nach einem Schweigen, dem er gern ein Ende machen wollte, »dass Sie wieder jung werden? Dass es anders wird?«

»Nie, nie, nie!« gab sie ihm zur Antwort. »Er und ich sind tot!«

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04 aralık 2019
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