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Kitabı oku: «Adams Söhne», sayfa 23

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VII. Kapitel

Es kam, was der Arzt wohl gefürchtet hatte: während die Brustwunde ohne Mühe heilte, breitete sich auf der heftig angegriffenen Hirnhaut eine Entzündung aus, die, mit unablässiger Aufmerksamkeit Tag und Nacht bekämpft, endlich verging, aber eine neue Sorge zurückließ, wie bei jeder dieser Entzündungen zu geschehen pflegt. Nach der unmittelbaren Gefahr des Lebens, die geschwinder abzog, als man hatte hoffen dürfen, kam nun die äußerste Prüfung der Geduld, da das Gehirn des Kranken vor jeglicher Anstrengung oder Reizung zu behüten war, damit der Genesungsprozess sich vollziehen könne. Bis in den Sommer hinein blieb Berthold verurteilt, still das Bett zu hüten, nichts als seine Tapete zu seh’n, kein Buch in die Hand zu nehmen, und sich nur an den regenkalten Lüften zu erquicken, die der in diesem feuchten Land doppelt feuchte Juni in die offenen Fenster hereinwehte. Sein kostbarster Trost war, außer des Vaters geliebtem Angesicht, die wohltuende, klangvoll streichelnde Stimme der Frau Marie, die ihn zu pflegen fortfuhr und ihm nun ›Gutes mit Bösem‹ vergalt, wie sie scherzend sagte, da sie sich zu seiner Vorleserin ernennen ließ: einfach, ohne Kunst – aber nicht ohne Natur – gab sie ihm täglich ›einige Löffel Medizin‹ aus den Büchern ein, die er nicht lesen durfte. Zuweilen hörte er sie auch, wenn sie unten sang und eine wärmere Luft durch alle Fenster strich. Ihre Musik, ihre liebevolle Sorge, ihre schwebende Gestalt erfüllte das ganze Haus. Sie schien nur für Berthold zu leben und lebte doch für alle. Es war eine Veränderung mit ihr vorgegangen, die keinem entgehen konnte: ihre Gesundheit und Schönheit war bei diesen unendlichen Mühen erstaunlicher Weise gediehen, statt sich aufzureiben, und über ihr Gemüt war eine herzhafte Freudigkeit gekommen, wie sie selbst Saltner kaum an ihr gekannt hatte. Auch an den schlimmsten Tagen war ihr das Vertrauen niemals ganz entfallen; sie sah es nun belohnt, eine verklärende Dankbarkeit lag oft stundenlang auf ihrem Gesicht. Sie blickte wohl auch Berthold so zufrieden und glücklich an, als sei er ihr geschenkt; und stieg etwa in den andern noch eine Sorge auf, ob man auf dieses Geschenk schon bauen dürfe, so fing sie an, sanft zu schelten, oder richtete einen großen, stumm vorwerfenden Blick auf den Zweifelnden; oder sie ging auch ans Klavier, um mit ihrem tiefen Alt ein kernhaftes Volkslied von Hoffnung und Gottvertrauen zu singen.

Man konnte denn auch nicht froher über sie sein, als es der Alte war; er ereiferte sich sogar gegen Wittekind, als dieser nur einmal den Kopf schüttelte, dass sie ihren Samaritereifer übertreibe:

»Das soll sie auch!« rief er aus, »dazu ist sie da! Und darum ist sie mir nun vollends an das Herz gewachsen! – Sehen Sie denn nicht, zum Teufel, wie sie glücklich ist? Sie haben mir einmal die blutige Beleidigung angetan – nicht lange, nachdem Sie mir den Jungen aus dem Wald gebracht hatten; wissen Sie noch – mich, Ihren Freund, zu beklagen, dass mir so ein Unglück ins Haus geregnet sei; da sagte ich Ihnen schon: und wär’s nur um die Marie, um die allein müsst’ ich Gott für dies ›Unglück‹ danken! – Sie hatte wieder einen Beruf. Und das braucht der Mensch. Darum ist sie nun glücklich. Lassen Sie sie geh’n, reden Sie nicht hinein!«

Wittekind lächelte und schwieg. Er schwieg jetzt zu allem. In jener ersten Nacht an Bertholds Bett hatte er sich gelobt, nichts mehr zu wollen, als dass sein Kind genese, nie zu verraten, dass er für Marie noch fühlte. ›Sie ist nun glücklich‹, dachte er. ›Ja, durch Berthold; für ihn…‹

Aber er lächelte, ohne Bitterkeit.

»Bei dieser Gelegenheit«, fuhr der Alte fort, »kann ich Ihnen sagen: es ist dabei geblieben, von diesen Kerlen ist nur einer erwischt, der, den Ihr Berthold nicht kennt; von den andern ist bis heute jede Spur verloren – wunderbar genug. Ich hab’ den Polizeidirektor heute wieder gesprochen; er war zugeknöpft wie ein großer Mann; das gab er aber doch von sich, dass dieser Riedau, den sie auch verhaftet hatten, wieder entlassen sei: sie hätten nichts gegen ihn beweisen können. Wissen Sie, was ich glaube? Von Anfang an ist mir aufgefallen, dass die Polizei von der Sache schon zu wissen schien, eh’ Berthold ein Wort darüber reden konnte. Wie war das möglich, wenn kein Angeber da war? Alles dazu genommen, was Ihr Sohn uns erzählt hat – dieser Riedau, sag’ ich Ihnen, arbeitet für die Polizei! Er schickte den Berthold nur hin, um einen Zeugen zu haben, das ist meine Meinung. Dann mischte sich der Zufall hinein, wie das seine Art ist, Berthold hörte alles eh’ sie ihn bemerkten – sie fielen über ihn her, um ihn los zu werden —«

»O diese Mörder! Diese Kannibalen!« rief Wittekind aufflammend aus. »Wo ich sie antreffe, erwürg’ ich sie!«

»Oho!« rief der Alte.

Wittekind sah ihn an.

»Missfällt Ihnen das?« fragte er. »Sind Sie andrer Meinung?«

»Das sollten Sie wohl vom Saltner nicht denken«, erwiderte der Alte. »Alle Teufel, Sie haben ja Recht. Ich dachte nur in dem Augenblick: überlass’ das mir; das ist meine Sache! Meine alte, angeborene Kampfwut zuckte mir in den Fingern. Darum sagt’ ich: Oho!«

Wittekind drückte ihm die Hand und wendete sich ab.

»Nun, Sie haben wenigstens Ihren Berthold noch«, fing der Alte wieder an, »und werden ihn auch behalten. Der Doktor zweifelt nicht mehr: Alles wird ausgesogen; die gute Natur Ihres Jungen – so zart er auch aussieht – hat sich mächtig bewährt! – Über den Riedau aber wollt’ ich Ihnen noch sagen: Baron Tilburg war in Salzburg, mit seiner chronisch leidenden Frau; ich hab’ ihn heute geseh’n. Der Baron zweifelt nicht, dass damals bei Waldenburgs Tod dieser selbe Riedau ein schändliches Spiel gespielt und dem Grafen Lana Papiere zugeschoben hat, die durchaus nicht für ihn bestimmt waren; ein junger Bursch von Kellner, der dabei als Pudel gedient hat, und den der Tilburg ausfragte, ist mit allerlei Verdächtigem herausgekommen.«

»Und so ein Kerl«, sagte Wittekind mit Ekel, »geht frei und fröhlich herum? – Ist das Ihre zweckmäßige und gerechte Welt?«

»Erlauben Sie! Von einer ›gerechten‹ Welt hab’ ich nie gesprochen; und was die Zweckmäßigkeit betrifft – nun, so ist vielleicht eine wunderbare Ökonomie darin, dass solche Schufte wie Riedau von der Weltordnung benützt werden, um der Gesellschaft, dem Staat allerlei gute Dienste zu leisten, zu denen Sie oder ich nicht zu brauchen wären. Ich glaube und sage auch da: verloren geht nichts! – Wer weiß, wozu dieser Lumpenhund einstweilen noch aufgespart wird … Die Tischglocke läutet. Gehen wir zum Essen!« – —

Der ganze Juni war über Bertholds langsamer Besserung verstrichen; am Nachmittag des ersten Juli lag er auf seinem Sofa, mit dem er das Bett nun endlich hatte vertauschen dürfen, horchte auf den Regen, der zuweilen laut an die Fenster klatschte, und freute sich auf den Augenblick, wo die Tür aufgeh’n und die getreueste Pflegerin hereintreten würde.

Er hatte den Arm aufgestützt und den Kopf an die Hand gelehnt; auf seinen Wangen bildete sich schon der leichte Schimmer einer ersten Röte, die Lider beschwerte noch eine schmachtende Mattigkeit. Das Bärtchen über seinen schönen Lippen war während der Krankheit wie unverschämtes Unkraut fortgewachsen; er nahm einen Taschenspiegel von dem Tischchen, das neben dem Sofa stand, und weidete sich mit ernsthaftem Gesicht an diesem gedeihlichen Fortschritt. ›Warum sollte ich dann nicht lieben dürfen?‹ dachte er. ›Ernsthaft lieben – bis zum Wahnsinn – oder bis zum Heiraten? Shakespeare war achtzehn Jahre alt – zwei Jahre jünger als ich – da nahm er ein Weib, acht Jahre älter als er. Man sagt zwar: es war ein törichter Streich … Ich weiß es nicht. Wie sollt’ ich wieder leben ohne diese holde, himmlische Marie? Ich zittre vor Freude, wenn ich an sie denke. Wenn ich ihre Stimme höre, wird mir so wohl, so gut; und dann läuft es auf einmal so schaurig süß über mich hin … Ach, und ihre Augen, ihre Sternen-Augen. Bin ich wieder gesund, was wird dann aus mir? Dann ist meine Seligkeit aus; dann fort – und mein Leben, meine Seele lass’ ich hier. Ja, ja, Marie! Meine ganze Seele!‹

Eine seiner Phantasien aus der Fieberzeit fiel ihm bei diesem Gedanken ein; die einzige, die er nicht vergessen, die er später im träumerischen Wachen fortgesponnen hatte.

Ihm war in seinem wilden, märchenschaffenden Hirn – in den ersten Tagen – als sei die Frau, die er zuweilen an seinem Bette stehen oder sitzen sah, jene ›Ellis‹ aus Turgenjews Visionen; aber nicht ein unbestimmtes Gespenst ohne Zweck und Sinn, sondern ein werdendes Leben, vom Schöpfer dazu bestimmt, ihm seine vom Leben scheidende Seele langsam aufzufangen, ihn dann fortzusetzen: so spukte in seinem glühenden Kopf Saltners Theorie. Marie und Ellis wuchsen ihm zusammen; er sagte zuweilen Ellis, wenn er die andere rufen wollte; aus beiden ward ihm ein drittes, unheimliches Wesen, das zuerst nur ein Hauch, nur ein Schatten war, aber an sein Lager immer wiederkehrend von seinem Leben sich nährte, bis sie ein Körper ward, Fleisch und Blut gewann, sich rundete, sich füllte: endlich wird er sterben, und dann hat sie sein ganzes Leben, dann schreitet sie aus der Tür, als die neue Gestalt seiner wandernden Seele, als sein neues Ich! – So vollendete das allmählich erwachende Bewusstsein den ersten, verworrenen Traum. Sein Geist hielt ihn fest, es ward ein rundes Märchen daraus, deutlicher und sinnvoller als jene Ellis-Visionen; und immer blieb darin eine geheime, schmerzlich süße Beziehung auf die Frau, die so oft an seinem Lager saß, in die er verliebt war, an die er, wie er meinte, seine Seele verloren hatte.

Er hielt es endlich nicht mehr aus, diese Phantasien nur so im Kopf zu wälzen und zu kneten; die natürliche Sehnsucht kam ihm, ihnen eine Form zu geben, an die er sie dann losward. Auf seinem Tischchen lag unter allerlei andern Dingen ein Taschenbuch mit einer Photographie seines Vaters. Er nahm den Bleistift und ein Blatt daraus, um – zum ersten Mal dem Verbot ungehorsam – sein Märchen niederzuschreiben. Mit einer kühnen Erfindung schrieb er ›Mariellis‹ als Titel hin. Dann begann er mit einer mondscheinfahlen Nacht, in welcher der Held dieser ›Visionen‹ im Bette liegt, erwacht, und ein bleiches, nebelstreifiges, formlos menschenähnliches Gebilde neben sich sitzen sieht. – —

Die Tür ging auf, und die schöne Frau, auf die er sich gefreut hatte, stand wie ein Schreckbild vor ihm.

»Was tun Sie da?« fragte sie, mit ihrem holden, strengen Gesicht.

Er machte keinen Versuch, seine Untat zu verbergen; seine Ehrlichkeit hielt die schon zuckenden Finger fest.

»O, Sie sind ein Sünder!« sagte sie; »das hätte ich nicht gedacht! Wie können Sie das tun?« —

Sie war herangetreten, nahm ihm das Blatt fort, und gab ihm einen leichten Schlag auf die Hand.

Berthold errötete vor geheimer Freude; diese vertraulich strafende Berührung lief warm über ihn hin. Er konnte sich nicht enthalten, seine Hand zu küssen und die junge Frau dankbar anzulächeln.

»Wenn Sie solche Torheiten machen«, sagte sie, »komme ich nicht wieder. Was schreiben Sie denn da? ›Mariellis‹? Was heißt das?«

»Das ist ein Märchen, das ich im Fieber ausgegoren habe; als leidlich vernünftiger Mensch hab’ ich’s dann fertig gebraut. Und nun wollt’ ich es endlich —«

»Niederschreiben?«

»Ja.«

»Das sollen Sie aber noch nicht. Artige Kinder tun nichts Verbotenes – Ist es wirklich ›vernünftig‹?«

Er glaubte zu versteh’n, wie sie das meinte, und nickte.

»Es ist so vernünftig, wie ein Märchen sein kann. Zu lesen für jedermann!«

»Und Sie wollen es aus dem Kopfe loswerden?«

»Ja; es rumort da schon so lange. Ich lechze —«.

»Dann diktieren Sie es mir«, sagte sie kurz und setzte sich an den Tisch. »Grübeln Sie aber nicht, um es schön zu machen, sondern sprechen Sie frisch drauf los!«

»Beste Frau Marie! Auch das wollen Sie für mich tun? – Sie sind ein Engel des —«

»Himmels«, ergänzte sie ruhig. »Glauben Sie nicht, dass das noch niemand vor Ihnen gesagt hat; es kommt schon im Dante vor. Sagen Sie jetzt nichts, als was zur Sache gehört; fangen Sie ruhig an!«

Sie las ihm noch die ersten Sätze vor, die er selber geschrieben hatte; dann fuhr sie darunter fort, mit geschwinden Fingern. Er nahm seinen Verstand zusammen und diktierte ohne Zögern, um sie nicht warten zu lassen; und doch wusste er kaum, wie er sich fassen sollte. Da lag er als ›Poet‹ – er, Berthold Wittekind, der Student, der Jurist – und eine Frau mit dem schönsten Haar und den tiefsten Augen schrieb nieder, was er ihr vorsagte. ›Ich liebe sie unaussprechlich!‹ dachte er; ›ich liebe sie grenzenlos!‹ —

Dann diktierte er weiter. Das Märchen von der lebenaussaugenden Mariellis, noch etwas unklar geformt, wie ihr Mondschein-Nebel, noch etwas überschwänglich im Ausdruck, flog auf das Papier, geschwinder als er dachte. Zuweilen blickte Marie, durch die Erfindung oder einen Gedanken betroffen, von ihrem Papier flüchtig auf und zu dem Phantasten hinüber; nahm dann aber still ein neues Blättchen, wenn eines zu Ende war, und kritzelte mit dem stumpf werdenden Stift geduldig fort.

Wittekind öffnete die Tür zu seinem angrenzenden Zimmer und wollte herein; als er aber sah, was hier vor sich ging, zeigte er nur noch ein verwundertes Gesicht, machte eine Bewegung mit der Hand und zog sich leise zurück. Die junge Frau schrieb weiter, bis das Märchen aus war. Sie legte die Blätter zusammen.

»Was für ein sonderbarer Mensch Sie sind«, sagte sie, auf seine Stirn blickend, auf die sich im Eifer des ›Schaffens‹ eine blonde Strähne gelegt hatte. »Was in Ihrem Kopf alles vorgeht! Sie lassen sich beinahe totschlagen und phantasieren dann Märchen im Andersen’schen Stil. Aber es ist zugleich etwas Schauerliches darin; – wirklich schauerlich.«

Es schien sie nachträglich zu überlaufen; auch leuchtete etwas wie Respekt und Bewunderung in ihren Augen auf.

Sie trat dann an Wittekinds Tür und klopfte. Wittekind selber kam.

»Sie haben jetzt Ihren Sohn allein«, sagte sie und lächelte; »da können Sie auch lesen, was sich ›sein Krankenlager erzählt‹. Der Verfasser ist dann brav und geht zu Bett! Der Doktor will es so. Es wird Abend. Ich komme noch und sage gute Nacht!«

Die hohe Gestalt ging in ihrem leichten, fast geräuschlos schwebenden Schritt hinaus. Wittekind sah ihr nach, den Rücken gegen Berthold gewendet; so gefasst und still, wie er in diesem Zimmer sich all die Tage, all die Wochen gezeigt hatte. Vor sich niederblickend kam er endlich an den Tisch, auf dem jene Blätter lagen; sah zu Berthold auf, lächelte ihn liebevoll an, und nahm das Märchen in die Hand.

»Darf ich?« fragte er.

»Aber, Vater!« erwiderte Berthold. »Es ist ja kein Geheimnis. Sie kennt es ja auch.«

Wittekind blickte wieder auf, er schwieg aber. Er begann zu lesen. Bei der Überschrift ›Mariellis‹ schien er schon zu stutzen. Langsam las er weiter. Berthold, dem plötzlich der Atem eng ward, ließ die Augen nicht von seines Vaters Gesicht; sein junges Autoren-Herz begann stark zu schlagen. ›Was er wohl zu dieser Phantasterei sagen wird?‹ dachte er. ›Ob’s ein Unsinn ist?‹

Wittekind sagte nichts. Als er am Ende des ersten Blattes war, hielt er inne; er schien in tiefes Nachdenken zu versinken und starrte schräg in die Ecke. Berthold verwunderte sich beklommen: ›warum liest er nicht?‹ Er glaubte auf des Vaters erblassendem Gesicht ein kummervolles Herabsinken der Züge, einen traurigen Ernst zu seh’n, den er in diesen schweren Wochen nie wahrgenommen hatte. Immer hatte er im Stillen die Selbstbeherrschung, die freundliche Ruhe bewundert, die auf diesem edlen Gesicht wie ein festes Gepräge lag. Was geschah ihm denn jetzt? Was las er denn da heraus? – Berthold lag, den Kopf in der Hand, und rührte sich nicht. Nach einer langen Stille – oder erschien sie nur dem Verfasser so lang – trat Wittekind an das Fenster, das zweite Blatt in der Hand, strich sich über die Augen und blickte dann zurück.

»Es wird dunkel«, sagte er sanft, »und die Schrift ist nicht sehr deutlich; mit dem Bleistift hastig hingeschrieben. Auch sind meine Augen müde; du weißt, mit dem Nachschlafen bin ich noch nicht fertig. Und mir wird keine Stunde davon geschenkt; darin ist meine Natur unverschämt genau – besteht auf ihrem ›Schein‹, wie Shylock. Vorhin bin ich bei hellem Tage im Lehnstuhl eingeschlafen. Lass’ mich die Blätter mitnehmen und in meinem Zimmer nachher bei der Lampe lesen. Ich komme dann wieder und sag’ dir, wie dein Märchen mir gefällt. Jetzt solltest du aber nicht mehr phantasieren, sondern zu Bette geh’n, dem ›Gesetz‹ gehorsam!«

»Das will ich auch«, sagte Berthold. »Lies es, wann du willst!«

»Nein, noch heute, noch in dieser Stunde«, erwiderte Wittekind lächelnd. »Die Schriftsteller, hab’ ich immer gelesen, sind ungeduldige Leute! Und haben neugierige Väter – natürlich.« – —

Er raffte die Blätter zusammen, nickte ihm zu und ging in sein Zimmer. Die Tür ward geschlossen. Berthold horchte eine Weile; er hörte den Vater langsam auf und ab geh’n. Darauf ward es still. Zögernd stand er vom Sofa auf, entkleidete sich und legte sich in das frische, angenehm kühle Bett. ›Irgendwas drückt ihn!‹ dachte er, wieder nach Wittekinds Tür horchend. ›Wie gern nähm’ ich es ihm ab, wenn ich könnte; – aber zu was bin ich gut! Ich liege nur so da, vegetiere wie eine Pflanze, die man an einen Stock gebunden hat, weil sie sich beinahe zu Tode gekrochen hatte; man muss schon zufrieden sein, wenn sie wieder aufwächst. Ah was! Es wird auch besser werden; meine Zeit wird kommen!‹

Tiefe Dunkelheit brach herein, Marie erschien wieder, lüftete noch, zündete sein Nachtlicht an, plauderte eine Weile; auf sein herzliches Bitten sang sie ihm noch leise ein Lied, das er besonders liebgewonnen hatte, das ihm immer ein wunderbares Gefühl von Freudigkeit und Lebenslust zurückließ. Dann schloss sie die Fenster, gab ihm ihre volle, warme Hand zur Guten Nacht, – dieselbe, die ihn vorhin so beglückend gestraft hatte – und verließ das im Helldunkel träumende Gemach. Er war glücklich, verliebt; auch jugendlich hoffnungsvoll, er wusste nicht warum. Flüsternd, summend wiederholte er sich die Melodie, die Worte. Nach und nach entschlummerten seine Gedanken; er ward selig müde; nur ein Gefühl hielt ihn noch wach: Vater Wittekind war noch immer nicht gekommen. Warum kam er nicht? Wie war das möglich? Jeden Abend saß er an diesem Bett, seit der Krankheit; hielt noch Bertholds Hand, küsste seine Wangen. Und die Tür zwischen ihren Zimmern blieb offen. Jetzt war sie geschlossen. ›Was ist mit dem Vater?‹ dachte er und hob seinen Kopf. ›Hat er es gelesen oder nicht? Ist er eingeschlafen?‹

Die Müdigkeit, die Ruhe verließ ihn, er stand endlich leise auf, um dieses Rätsel zu lösen, und öffnete, fast unhörbar, die Tür. Wittekind war noch nicht zu Bett gegangen; die Lampe brannte auf seinem Arbeitstisch, er selber saß im Lehnstuhl davor, den Kopf auf die Brust gesunken; seine schweren, aber gleichmäßigen Atemzüge waren zu vernehmen. ›Er schläft!‹ dachte Berthold. Leise trat er näher, um sein abgewandtes Gesicht zu seh’n. Er irrte nicht: die müden, etwas geröteten Lider waren fest geschlossen; der Atem ging auch durch die Lippen, die ein wenig geöffnet waren, so wenig, dass es für das Auge kaum zu erkennen war. Auf dem Tisch lagen die Blätter des ›Märchens‹ auseinandergestreut, offenbar gelesen; auf eines war ein Tropfen Tinte gefallen, aber schon getrocknet.

›Was steht denn da geschrieben?‹ dachte Berthold. ›Verse?‹ – Neben den kleineren Blättern lag ein größeres, es standen einige Zeilen darauf, von Wittekinds Hand. Berthold starrte betroffen hin; er las:

 
›So hat sie mir das Leben ausgesogen;
Ich scheine rüstig, wandle wie die Schatten
Ach, hast so fest uns beide angezogen,
Dass wir verloren
Alles, was wir hatten.
Nimm’s! – Gib nur ihm dein Herz! Nur ihm!
Ich will‹ – —
 

Hier brach es ab, mit dem Ende des Verses.

Die letzten Worte ›Ich will‹ waren mit Mühe zu erkennen, denn irgendeine Feuchtigkeit war auf sie gefallen, die die Buchstaben aufgelöst oder in die Länge gezogen hatte. In der nächsten Zeile war die Feder noch angesetzt worden, aber beim ersten Zug ins Papier gestoßen und zersprungen, so dass eine Menge kleiner Tröpfchen sich über das Blatt verspritzt hatte. Der Federstiel lag daneben.

»Mein Gott! Was ist das!« flüsterte Berthold, dem sich die Worte bis an die Lippen drängten. »Vater! Du! – Marie!«

Er starrte noch einmal auf die Verse, er kam nicht über den ersten hinweg:

 
›So hat sie mir das Leben ausgesogen.‹
 

Das Herz stand ihm still. ›Wie kann das sein!‹ dachte er, im Gehirn betäubt. ›Er – so ruhig – so froh – so glücklich. Mein Gott, mein Gott, wie hat er uns betrogen. Ich dachte nur an mich. Mein verliebtes Herz … Vater! Vater!‹

Er sah wieder hin, er las:

 
›Ach, hast so fest uns beide angezogen.‹ – —
 

Seine Hand ging nach seiner Brust, nun fühlte er endlich drinnen den Schmerz, und ein wildes Pochen. Er begriff nun alles.

»Ja, ja, ja«, flüsterte er. »So ist es … Vater und Sohn … Und um meinetwillen, um meinetwillen hat er es in sich begraben; – da steht es:

 
Nimm’s! – Gib nur ihm dein Herz – —
 

Nein, nein!« sagte er auffahrend, mit fast vernehmbarer Stimme. Gleich darauf erschrak er, denn es war, als hätte Wittekind ihn gehört. Dieser begann sich zu regen; sein Gesicht verzog sich, sein Atem ward unruhig, gestört.

Die Finger bewegten sich. – Wenn er jetzt erwachte!

Berthold ging rückwärts zur Tür, auf den nackten Füßen. Er selber hörte sich kaum, so geräuschlos ging er.

Noch lag der Vater wie im Schlaf; nur zu träumen schien er; ein langer Seufzer ward aus seinem Atmen. Berthold kam in sein dunkleres Zimmer; er lehnte die Tür nur an, um nicht laut zu werden. Dann schlich er in sein Bett.

Ihn fröstelte. Er hüllte sich eng in seine Decke, schloss die Augen und horchte.

Wittekind lag, er war nicht erwacht; der tiefe Schlaf, der ihn übermannt hatte, ruhte noch auf ihm. Aber Traumbilder hatten begonnen, sich in ihm zu regen; sinnlose, verrückte Träume, die in seinem überreizten Gehirn wie Funken hin und her fuhren und die Seufzer in seiner Kehle weckten.

Er sah sich mit Marie auf der Gartenterrasse, wie bei jenem Wiederseh’n; er sprach mit ihr von Waldenburg und von Catilina … Auf einmal ward sie jene Aurelia Orestilla – jetzt im Traum fiel ihm der Name ein, dessen er sich damals nicht erinnert hatte – und sie sagte mit höhnischem Lächeln: ›Einen so großen Sohn, wie du hast, will ich nicht im Haus; der ist mir im Wege: darum werde ich nie dein Weib!‹ – ›Was für ein böses Lächeln‹, dachte Wittekind; jedoch im nächsten Augenblick war er Catilina, nahm einen Dolch in die Hand, der auf einer Bibel lag, und ging durch einen langen, endlosen Saal in das nächste Zimmer: denn dort schlief ja sein Sohn. ›Du musst also sterben!‹ dachte er, als er vor ihm stand, und hob seinen Dolch. Der Jüngling lag mit einem goldenen Schein um den Kopf unter der weißen Decke; er sah dem Eugen Dorsay, aber auch dem Berthold gleich. Dem Catilina Wittekind sträubten sich die Haare; er seufzte; er fühlte, dass seine Haare nass an der Stirne klebten; aber er stieß zu. Und der Sohn schrie auf…

Wittekind fuhr empor. Er war aufgewacht. Er rang nach Atem und starrte um sich her. Die Haare klebten wirklich nass an seiner Stirn, die der Schweiß bedeckte.

Jetzt stand ihm der Traum, der ganze, entsetzliche, vor den Augen, und seine Haare stiegen von der schaudernden Haut empor, wie er es nie gefühlt hatte. Die Hände auf den Armpolstern seines Stuhls, erhob er sich, lehnte sich an den Tisch. Da lagen die Blätter, die Verse. Ihm graute. ›Heiliger, gerechter Gott!‹ dachte er, ›wer spielt so mit uns? So grässliche Träume können sich in unser Hirn schleichen – wir erleben sie – wir, wir selbst – wir werden Scheusale im Schlaf, und vollbringen Gräuel, die wir nicht denken könnten? – Gott, wer sind wir denn?‹ – — Ein Grauen schüttelte ihn, das in seufzendem Schmerz verging. Er sah auf die Tür, die zu Berthold führte.

Dort lag dieser Sohn – sein Sohn. War ihm etwas gescheh’n? Hatte dieser höllische Traum in fratzenhafter Gestalt ihm verkündigen sollen – — ›Ich bin noch von Sinnen!‹ dachte er und schüttelte den Kopf. Aber eine aufwallende, bittersüße Sehnsucht zog ihn in das andere Zimmer hin. Er musste ihn seh’n, seinen Berthold; ihm in die lieben Augen blicken, ihm sagen…

Die Kirchenuhren in Salzburg schlugen; er horchte. Es war schon spät. Berthold schlief gewiss. So wollte er ihn doch seh’n, sich seines Schlafes freuen, den letzten Schatten dieser gräulichen Phantome von sich abschütteln. Er nahm die Lampe, ging leise zur Tür, die sich öffnete, als er sie berührte. Dann schlich er an das Bett; nicht als Catilina, ach, mit einem Herzen voll unerschöpflicher, opferbringender Liebe, mit Tränen in den Augen, Lächeln auf den Lippen; er konnte sich nicht enthalten, zu flüstern:

»Mein geliebter Berthold!«

Der Jüngling lag mit geschlossenen Augen, regungslos ausgestreckt, und schien fest zu schlafen. Wittekind bedeckte die Lampe mit der Hand, damit ihr Schein ihn nicht störe, und trat an das Kopfende des Bettes, hinter seinen Sohn.

Er neigte sich vor, das beschattete Gesicht zu seh’n; ahnungslos, wie es in der zugedeckten Brust da unten klopfte, wie fern ihr der Schlummer war. Es zog ihn sehr, wenigstens seine Stirn zu küssen; doch er wagte es nicht, Berthold konnte davon erwachen. Ihm blieb nur der Anblick, und dass er mit lautloser Bewegung der Lippen flüstern konnte:

»Ich begehre ja nichts, mein Kind! Nichts, nichts, als dein Glück!«

Plötzlich bewegte sich Bertholds Kopf, und seine Lider zuckten. Eine Träne aus Wittekinds Auge war auf ihn gefallen; die Überraschung machte ihn unruhig, ohne dass er’s wollte. Jetzt hielt er sich nicht länger, schlug die Augen auf und wandte sich so, dass er das Gesicht des Vaters sehen konnte.

»Oh!« sagte dieser; »hab’ ich dich geweckt?«

»Lieber Vater!« sagte Berthold stammelnd. »Das ist gut, dass du mich geweckt hast. Nun können wir einander doch noch Gute Nacht sagen.«

Er sprach nicht weiter, er lächelte nur.

»Ja, ja – es ist mir sonderbar ergangen«, entgegnete Wittekind. »So im Lehnstuhl sitzend war ich eingeschlafen.«

»Das bedeutet, dass du zu wenig schläfst. Geh’ nur gleich; sag’ mir nur Gute Nacht!«

»Ja, ja«, murmelte Wittekind.

Bertholds junges Herz vermochte sich nicht länger zu halten.

»Fehlt dir etwas, Vater?« fragte er, doch mit äußerer Ruhe, nur die Stirn bewegend. »Bist du nicht —?«

»Was sollte mir fehlen, Kind?«

»Du hast Tränen in den Augen. – Bist du nicht glücklich, Vater?«

»Das ist allerdings nicht erlaubt«, erwiderte Wittekind lächelnd: »Männer dürfen keine Tränen in den Augen haben. Besonders deutsche Männer – nicht wahr? – O ja, ich bin glücklich. Das sind ein Paar Freudentränen: weil ich nun nicht mehr zweifle, du bleibst mir. Ich bin ganz glücklich, Kind!«

»Vater!« stieß Berthold hervor; er hatte dessen Hand ergriffen und küsste sie.

» Aber was ist denn mit dir?« fragte Wittekind verwundert. Indem er die Lampe hob, sah er, dass es feucht in den jungen Augen schimmerte. »Was hast du da? Du?«

»Hier?« sagte Berthold ruhig und legte sich eine Hand auf ein Lid. »Lass’ das nur. Das tut nichts; – weniger als bei dir. Ich, ich bin glücklich. Und ich weiß, was ich muss, was ich will. Und ich werd’ es tun!«

»Was willst du tun?« fragte Wittekind.

»Ich sag’ dir’s ein ander Mal«, antwortete Berthold, dem ein rätselhafter Ausdruck überschwänglicher Freude, dann ein geheimnisvolles Lächeln über Lippen und Augen ging. »Jetzt, Vater, gute Nacht! Du musst schlafen; ich auch!«

›Schlafen?‹ dachte Wittekind.

›Ich werde gewiss nicht schlafen‹, dachte Berthold. ›Aber es wird gut!‹

»Ich liebe dich, Vater!« rief er plötzlich aus.

»Berthold!« rief Wittekind, setzte die Lampe fort, und trat zu ihm. Sie hielten sich umschlungen, jeder in seinen Gedanken.

Der Regen schlug wieder laut an die Fenster; ein Windstoß warf ihn, nachdem er lange unhörbar herabgefallen war, gegen die klingenden Scheiben.

»Was für eine Nacht!« sagte Wittekind endlich, um etwas anderes als seine Gedanken zu sagen. »Mach’, dass du zu Schlaf kommst!«

»Meine schönste Nacht!« hauchte Berthold vor sich hin.

»Was sagst du, Kind?«

»Nichts, Vater. – Es regnet; ja. – Morgen scheint die Sonne!«

»Weißt du das gewiss?«

»Ich – ich sage nur so. – — Es gibt keinen solchen Vater mehr, wie du … Ich will aber dein Sohn werden, endlich; sollst noch Freude an mir – — sollst mich doch noch achten!«

»Kind, ich glaube, du träumst!«

»Ja —ich träume, Vater. Einen schönen Traum. Einen…«

Er konnte nicht mehr; eine schluchzende Bewegung nahm ihm jetzt die Stimme. Er wandte sich ab, gegen die Wand; dann sagte er mit einer letzten Anstrengung:

»Also gute Nacht!«

Wittekind nahm die Lampe.

»Ja, ja, gute Nacht!« erwiderte er, vor sich niederblickend, und ging in sein Zimmer.

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04 aralık 2019
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