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Kitabı oku: «Adams Söhne», sayfa 6

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Wittekind richtete sich auf und ging langsam vom Fenster weg, gegen die Tür. Mitten im Zimmer jedoch blieb er wieder steh’n. Er sagte dann mit etwas bewegter Stimme, doch bedächtig:

»Aber du verlangst wohl nicht, dass ich dich beneide. Was mich betrifft, so würd’ ich lieber in dem Hundestall vor meiner Haustür verfaulen, als für so eine ›Loge‹ mein bisschen Selbstgefühl, meinen alten Aberglauben an Freiheit, Wahrheit, Menschenwürde opfern. … Aber das führt zu weit. Und über den breiten Fluss hinüber, bei so ungünstigem Wind, verstünden wir uns doch nicht. Also nehmen wir einander lieber wie wir sind, und damit holla. – Nur noch eine Frage!«

»Bitte!« erwiderte Waldenburg mit vollendeter Artigkeit, und mit jenem diabolischen, behaglichen Schmunzeln, als wären sie im schönsten Einverständnis, als sagten sie sich lauter gute Dinge.

»Wenn ich nun deine Aufrichtigkeit missbrauchte?«

»Bei wem?« fragte Waldenburg zurück. »Da, wo es mir schaden könnte, da verkehrst du nicht; die andern amüsiert oder ärgert es, ohne mir zu schaden.«

Nach kurzem Schweigen erwiderte Wittekind:

»Nun, eine gewisse Größe ist in deinem Zynismus; das muss man dir lassen. – Ich fragte selbstverständlich nur so beispielsweise; denn ich missbrauche keines Menschen Aufrichtigkeit. – — Also gute Nacht. Morgen willst du fort. Wir sind dann wieder weit auseinander, wie bisher; und sehr oft werden wir uns wohl nicht seh’n!«

Waldenburg lächelte:

»Warum nicht? Als Männer von Geist können wir uns ja über hundert Dinge vortrefflich, unterhalten, wenn wir auch über das hundertunderste verschiedener Meinung sind —«

»Über das Erste, Waldenburg.«

»Nun gut, über das Erste. Dann fangen wir morgen bei dem Zweiten an, wo wir uns versteh’n. Willst du morgen in Salzburg mein Gast sein? Ich gehe ins Hotel N… . Ein sehr angenehmes Haus. Du würdest vermutlich die Gräfin Lana bei mir seh’n —«

»Die Frau des früheren Ministers?«

»Ja. Eine ausgezeichnete Frau: – sie kann dir vielleicht einmal nützlich sein —«

Wittekind musste lächeln.

»Ich danke«, sagte er. »Ich brauche sie nicht.«

»Auch fändest du mit ihren Tilburgs die Blasse, die Amerikanerin, die dir gar nicht so übel zu gefallen scheint, du tugendhaftere Mensch.«

»Warum dürfte sie einem tugendhaften Menschen nicht gefallen?« fragte Wittekind. Er kam übrigens einen Schritt zurück, da er sich der Tür schon wieder genähert hatte.

Auf seinen Hut blickend setzte er hinzu:

»Was ist sie eigentlich? Witwe oder verheiratet?«

»Baronin Tilburg versichert, dass sie Witwe ist«, antwortete Waldenburg, ohne eine Miene zu verziehen. »Infolgedessen kommst du?«

»Ich danke«, sagte Wittekind.

Ein Missgefühl schüttelte ihn plötzlich. Sie bei ihm zu seh’n … Nein! – — Er ging wieder zur Tür.

»Ich möchte jetzt mit meinem Sohn einige Tage allein sein«, setzte er darauf hinzu.

»Nun, wie du willst! – Von Salzburg zieh’n wir dann an die Ostsee, ins Bad; ganz in deine Nähe. Bist immer willkommen, alter Freund; – ich sage das nur als avis au lecteur. Denn du wirst wohl nicht kommen. Du bleibst nun also bis ans Lebensende auf dem schmalen Pfade der Tugend; und auf dem festen Land. Ich brauche mehr Platz – und ein weniger solides, ein etwas lockeres Element. Mein alter guter Wahlspruch ist halt: Vogue la galère

»Also noch einmal: wohl bekomm’s!« sagte Wittekind mit ernstem Lächeln, und bot ihm zum Abschied die Hand.

Waldenburg schlug ein.

»Leb’ wohl, Idealist! Leb’ wohl, ›wahrer Mensch‹!« – —

Wittekind verließ das Zimmer. Er sehnte und freute sich, in das seine zu kommen, und zu seinem Jungen. Leise ging er über den halbdunklen Vorplatz; nur ein Lämpchen brannte an der Wand. Im Hause war es still.

Als er aber in sein Zimmer trat, in dem der unsichtbar gewordene Mond noch durch die erhellte Luft wirkte, sah er, dass er zu spät kam. Berthold lag schon im Bett, und in tiefem Schlaf; durch die Stille horchend konnte Wittekind seine ruhigen, gleichen Atemzüge hören.

VI. Kapitel

Die Sonne schien früh in die Zimmer der ›Gemse‹, so viele ihrer nach Osten lagen; sie schien auch auf die Betten von Vater und Sohn, doch ohne sie zu wecken. Als Wittekind, spät eingeschlafen, nach einer traumreichen Nacht spät genug erwachte, schlief Berthold noch immer fort. Der Vater staunte, lag noch eine Weile, wartete und träumte; endlich stand er auf. Er kam in den Garten hinunter, um dort am Felsen zu frühstücken; Kathi trat ihm morgenfrisch entgegen und überreichte ihm einen Brief.

»Den hat der lange Herr mit den halbeten Augen für Sie dagelassen«, sagte die Schelmin; »denn er ist schon fort. Und der Herr von Saltner ist auch schon in die Stadt hinunter.«

Wittekind öffnete das Billet; es war von Waldenburgs Hand, gleichmäßig und sauber geschrieben.

›Lieber Freund, das Schicksal hat gesprochen, wie gewöhnlich in Gestalt einer Frau! Unsere sehr verehrte Malade imaginaire, die Baronin Tilburg, hat in aller Frühe Botschaft herausgeschickt: ihre Nerven verlangen ungestüm nach Salzburg. Ich gehorche. Wir brechen auf. Adieu! An deiner Ostsee, hoff’ ich, sehen wir uns wieder!‹

Wittekind lächelte über die ruhelosen Nerven der Baronin; dann gab es ihm auf einmal einen starken, schmerzhaften Ruck. Frau von Tarnow war also fort; die weiße Sklavin dieser Baronin, mit der philosophischen Geduld und den unergründlichen Augen. Wozu sollte er sich verhehlen dass sie ihm einen Eindruck gemacht hatte, wie seit langen Jahren keine Frau. Ein paar Stunden lang; wie ein Frühlingstag im Winter war sie vorübergezogen; nun beginnt wieder die öde Zeit, wo der eintönige, kalte Schnee Vergangenheit und Gegenwart bedeckt. Er wird sie vergessen, wie so manches andere; – aber was heißt das: vergessen? Nur umso leerer wird sein Leben sein…

Aus so trüben Gedanken, einer ungewohnten Last auf seinem gesunden Herzen, weckte ihn der Morgengruß seines lieben Jungen, der nun endlich erschien. Berthold hatte blühende Wangen, fast wie ein so recht ausgeschlafenes Kind; ein tröstlicher Anblick für das Vaterauge. Auch der lustigen Kathi, die ihnen das Frühstück brachte, schien diese Rosenblüte seiner verjüngten Schönheit aufzufallen; sie sah ihn wieder mit offenherziger Bewunderung an. Aber sie hätte auch eine schöne Wachsfigur oder ein edles Pferd nicht harmloser angeseh’n; dieser zarte Jüngling war für sie aus einer andern Welt. Leise summend ging sie ins Haus zurück; Bertholds Augen folgten ihr mit nicht so ganz unbefangener Freude.

»Du bist mir noch eine Erklärung schuldig«, sagte Wittekind, als sie nun in dem kühlen Felsenschatten allein saßen; das ganze Gärtchen war um diese Stunde leer. »Warum du gestern diesen gewaltigen Hunger hattest; – und in Grödig, beim Wiederseh’n, sagtest du davon kein Wort!«

»Vater, ich konnte nicht«, erwiderte Berthold mit seinem treuherzigen Lächeln. Er erzählte dann stockend, aber peinlich wahrhaft, wie lange er gefastet hatte, und wie das gekommen sei. Er verschwieg auch nicht die Begegnung mit Afinger, und dass er diesem ›Weltverbesserer‹ versprochen hatte, ihn an einem der nächsten Abende zu besuchen. Wittekind hörte mit äußerer Fassung zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Seine Augen waren aber beständig auf dieses schwärmerische Antlitz gerichtet, in Freude, Sorge und Nachdenken.

»Ich mache dir keine Vorwürfe«, sagte er, als Berthold geendet hatte; »wozu! Du sagst dir, wie ich merke, schon selbst, dass es eine unendlich jugendliche Unvernunft war, so eine Hungerprobe auf dieser Erholungsreise anzustellen, die dein Arzt dir verordnet hatte. Ich verwehre oder widerrate dir auch nicht, diesen jungen Sozialisten aufzusuchen – denn dafür halte ich ihn – und ihn und seine Gesinnungsgenossen näher kennenzulernen. Die Welt erkennt man nur in der Welt. Auch wenn du vorläufig eine Weile mit den Irrenden irren solltest, das fürchte ich nicht. Dein Herz wird deinem Kopf schon die Wege finden. Aber eins muss ich dir sagen, Kind. Ob die Welt nun aus Plan oder aus Notwendigkeit so ›unvollkommen‹ ist, wie sie uns erscheint, – alle Bertholds der Welt können das nicht ändern. Und wie heilig ernst wir’s auch nehmen sollen, zu ihrer Verbesserung mit allen Kräften zu helfen, mit der einen großen Resignation müssen wir beginnen!«

»Ich weiß, Vater, ich war dumm«, entgegnete der Jüngling; »mit dem Hungern, mein’ ich. Ich weiß auch, dass nur ein Narr die Welt neu machen will. Aber so ruhig und geduldig zuseh’n wie du – Vater, das kann ich nicht! So wie es ist, frisst es mir am Herzen … Gestern sagt’ ich dir, als ich gegessen und getrunken hatte: ›ich bin wieder ein Mensch!‹ Wie falsch und wie dummstolz war das. Eine Bestie war ich wieder, die satt und zufrieden verdaut, nur um sich bekümmert. Und wenn ich diese sogenannten Menschen sehe, die vielleicht ihr ganzes Leben lang nichts anderes tun, als mit oder ohne Grazie verdauen – diese Tilburgs von gestern – oder diesen geistreichen Waldenburg mit den kalten Schlangen-Augen, die ihrer Beute nachgeh’n, ihrer schnöden Lust, denen das Leid der andern wohl gar noch eine grausame Freude, eine Erhöhung ihres Weltgenusses, ihres Selbstgefühls, ihres Vorzugs ist – so wird mir hart, furchtbar hart zu Mut, während ihr mich weich nennt; so wäre es mir eine Wonne, Vater, diese hochmütigen Schmarotzer, dieses blutsaugende Ungeziefer vom Erdboden zu vertilgen, damit für die Besseren Platz wird, damit die Unglücklichen Luft, Licht und Leben haben!«

Wittekind lächelte. Indem er seinem Jungen in die leuchtenden, fast brennenden Augen sah und heimlich erstaunte, sagte er:

»Es scheint, dein Sozialist hat schon abgefärbt! – Nun, was tut das. Deine neunzehn Jahre. … Ich gebe dir auch gern diese Tilburgs preis; und auch den – Waldenburg mit den Schlangen-Augen; mir scheint, du hast ein ahnungsvolles Gemüt. Aber, guter Junge! Wenn wir anfangen wollten, auszurotten, was uns nicht gefällt, wo hörten wir dann auf? Und was würde dann aus dieser leidlich zivilisierten Welt, als ein einziger Urwald, in dem lauter wilde Tiere sich gegenseitig zerfleischen? Welcher Engel vom Himmel hat dir denn auch gesagt, dass die andern, die du bedauerst, wirklich die ›Besseren‹ sind? Dass sie nicht auch gebrechliche, selbstische Menschen sind, die dich treten würden, wenn sie über dich kämen, die zu Tilburgs würden oder zu Waldenburgs, dass du dann auch wieder ergrimmen und dir sagen müsstest: vertilgen wir sie vom Erdboden, damit für die Besseren Platz wird!?«

Der Jüngling rückte unruhig auf seiner Bank; er möchte sie leicht umgeworfen haben, wäre sie nicht bodenfest gewesen. Mit der Hand über den Tisch fahrend erwiderte er dann:

»So soll man also alles geh’n lassen, wie es eben geht? Die einen sollen es gut haben, und die andern nicht?«

»Kind, wer hat es gut? – — Doch das führte zu weit. Wir wollen jeder tun, was wir können, dass möglichst viele es gut haben; aber mit dem Ausrotten, denk’ ich, fangen wir lieber nicht an. Besser noch die Welt, wie sie ist, als das große Chaos, aus dem mit vielem andern Guten und Schönen auch das Beste verschwinden würde: die edlen Schwärmer, wie du!«

Berthold lächelte jetzt; aber nur obenhin, einen Augenblick. Er antwortete nicht. Es trat eine Stille ein, wie so oft zwischen zwei Menschen, deren Gedanken nicht zusammenkommen. Der Jüngling fühlte sich auf einmal weit vom Vater weg, den er doch so liebte. Seine neunzehn Jahre konnten die fünfundvierzig diesmal nicht versteh’n; er sah das Gesicht des Afinger vor sich, den er besser begriff, und drückte die Augen zu. Der Vater betrachtete ihn, seine Tasse leise von sich schiebend. ›Noch so überschwänglich!‹ dachte Wittekind. ›Schon so beruhigt!‹ dachte Berthold.

Die Stimme des alten Saltner fuhr in ihre Gedanken hinein und weckte sie beide auf. Saltner kam aus dem Städtchen zurück; vom Heraufsteigen glühten seine braunen Wangen, seine mächtige Brust hob sich gewaltig bei dem beschleunigten Atmen. Er stieß aber doch einen kräftigen Jodler aus. Nachdem er dann Vater und Sohn begrüßt hatte, fragte er:

»Wie steht’s? Wollen die Herren hier ganz selbander bleiben – brauchen’s nur zu sagen – oder soll ich sie ein wenig in die Berge führen und ihnen von da oben die Welt zeigen, wie der Teufel dem Herrn?«

Wittekind blickte fragend auf seinen Sohn.

»Ich ginge sehr gerne mit Ihnen, wenn Sie so gütig sein wollen«, sagte Berthold, der bei Saltners Begrüßung aufgestanden war. »Auch soll ich tüchtig wandern, meint der Doktor. Übrigens – ich bin ja eigentlich schon gesund!«

Der Alte lächelte wohlgefällig und nickte ihm zu. Sein faltiges Gesicht schien zu sagen: ›In dieser hübschen Schale steckt doch wohl auch ein harter Kern!‹ – Sie brachen bald auf, in den sonnigen, fast schon heißen Morgen hinein.

Der Weg, den Saltner sie führte, ging die nächste, schmale, felsige Schlucht hinauf, dann bald in Waldesschatten, bald zwischen reifendem Roggen und Hafer, immer langsam steigend. Einzelne hohe Gipfel erschienen über den waldigen Abhängen zur Linken oder vor ihnen; endlich ward auch erkennbar, dass eines dieser Steingebirge der Untersberg war, dem sie näherkamen. Wittekind freute sich, ihn wieder zuseh’n, in veränderter, bedeutender Gestalt. Mehr noch freute ihn, mit den unersättlichen Augen seinem Berthold zu folgen, dessen feine Gestalt so elastisch und unternehmend voraufstieg. Der Jüngling schien beweisen zu wollen, dass ihm das törichte Hungern nicht geschadet habe; er bewies aber gewiss, dass nicht irgendein ernstes Leiden an ihm zehrte, dass in dem jungen Baum die Säfte der Jugend lebten. Rascher, als der Alte gedacht hatte, kamen sie, an sonderbaren, wie von Menschenhand zugehauenen, steilen Felsen vorbei, auf dem Erdbuckel an, den Saltner die ›schöne Aussicht‹ nannte. Dieser Ehrenname gebührte ihm: nach allen Seiten – nur einen absperrenden Waldhügel ausgenommen – entwickelte sich ein herrlich aufgebautes Alpengebiet, von den emporsteigenden Dachsteingletschern an über die formenschöne Berchtesgadener Gebirgswelt hin bis zum Untersberg, der mit seiner Riesenmauer den ganzen Norden verdeckte.

Der Alte zeigte ihnen Berg für Berg, wie man jemandem die Zimmer seiner Wohnung zeigt; dann aber führte er sie noch eine Strecke weiter, mit stummem Winken, als ginge es ins Allerheiligste. Durch das hügelige Wäldchen hinter ihnen kamen sie bald wieder ins Freie und zu einigen Aussichtsbänken, auf denen sie rasten konnten, um in die reichbelebte Ebene zu sehen. Die silberne Schlange der Salzach wand sich am Grunde hin, bis sie hinter der Salzburger Zitadelle für eine Weile verschwand. Saltner zeigte lächelnd auf die weite grasige Fläche zwischen Untersberg und Salzach:

»Da sehen Sie meinen See! Er liegt noch unter der Decke. Und dort am Kapuzinerberg sehen Sie mein Haus!«

Wittekind erwiderte nichts. Wie sie hier saßen, musste er der ›Hedwigsruhe‹ gedenken – und der blassen Frau.

Es gab ihm wieder einen herzhaften Stich in die Brust.

Seine Augen ruhten auf dem noch fernen Salzburg; sie suchten aber nicht Saltners Haus, sondern das, wohin man ihm diese Frau heute Morgen entführt hatte. So saß er ohne Regung da; aber die andern auch. Alle waren still.

›Da ist sie nun!‹ dachte er. Wie wenn sein Gedanke Stimme bekommen hätte, hörte er im nächsten Augenblick den Alten vor sich hin sagen:

›Da ist sie nun!‹—

Berthold sah auf und nickte.

»Sie meinen Frau von Tarnow!« sagte der Jüngling mit gedämpfter Stimme.

Sie hatten also alle drei an Frau von Tarnow gedacht…

Wittekind stand auf. Saltner folgte ihm. In den Augen des Alten bewegte sich, da er mit den Wimpern zuckte, ein feuchter Schimmer.

»Ja, ja, Frau von Tarnow!« murmelte er dann, mit der blaugeaderten Hand durch seinen Mosesbart gleitend. »Glauben Sie mir, das ist keine üble Frau. Ich – — ich kenn’ sie lange. So klein …« Er hielt die Hand bis zu seinen Knien hinab. »Wenn’s der so gut ginge, wie sie es verdient, dann platzten wir alle vor Neid! – Das heißt, die von uns, die für sie kein Herz haben. Ich wollt’s ihr wohl gönnen, Herr!«

Er seufzte dann und schwieg. Wittekind wollte etwas erwidern; aus irgendeinem unklaren Gefühl blieb er aber still. Sie traten den Rückweg an, alle in ihren Gedanken.

Raubvögel kreisten über ihnen in der blauen Luft, oder zogen mit raschem, rauschendem Flügelschlag vorüber, man hörte ihre hellen Rufe, sonst waren nur Axtschläge aus den Waldbergen vernehmbar, die an den gegenüberliegenden Wänden mit sonderbar verstärkter Stimme widerhallten. Die Sonne brannte jetzt in ihrer Mittagshöhe. Die scheinbar behauenen Felswände, an denen sie wieder vorbeikamen, schienen zu glühen; auch der Wiesengrund, über den sie schritten, hauchte warmen Dunst aus. Der Alte führte sie einen anderen Weg, in den dichten Wald hinein, der an niedrigeren Fortsetzungen jener Wände entlanglief; so im Schatten wollte er sie über die ›Hedwigsruhe‹ wieder zur ›Gemse‹ hinunterbringen. Es war hier menschenstille Einsamkeit. Auch alle Singvögel schwiegen. In zuweilen wieder verstummendem Gespräch gingen die Männer langsamer weiter; bis sie in der Nähe ein helles Hundebellen hörten und Saltner stehenblieb.

»Warum bellt denn der?« sagte er verwundert. »Das ist dort bei den Felsbrocken; da geht’s drüben steil in das Tal hinab. Da sieht man doch sonst weder Mensch noch Hund! Und der kleine Kerl bellt so eigen, als hätte er ‘was Absonderliches zu melden; so polizeilich. Finden Sie nicht auch?«

»Man sollte wohl hingeh’n«, entgegnete Wittekind.

Berthold nickte eifrig; seine jugendliche Phantasie war sogleich erregt. Der Hund bellte lauter, sie folgten seiner Stimme und standen bald neben dem zerrissenen, zerbröckelten Gestein, unter den Bäumen am Abhang. Ein wohlgekleideter Mann lag dort hart am Rand, offenbar in tiefem Schlaf; so unmittelbar über dem jähen Absturz, dass kaum zu begreifen war, dass nicht irgendeine Bewegung im Schlaf ihn in die Tiefe gestürzt hatte. Er lag auf dem Gesicht. Sein Hut war ihm von dem braunen, lockigen Haar herabgeglitten und hing an einer vorspringenden Wurzel. Seine eleganten Schuhe glänzten; der eine war abgestreift, man sah den kleinen, fast zierlichen Fuß in seinem halbseidenen Strumpf.

Ein auffallender, üppig schwüler Duft, wie Blumengeruch, stieg von dem Schläfer herauf. Der Hund, ein schmutzig grauer Rattler, hörte auf zu bellen und sah die Männer erwartungsvoll, mit klug wichtiger Miene an.

Eh’ Wittekind noch hinzutreten konnte, hatte der Alte sich hinabgebeugt, den Schlafenden an beiden Armen gepackt, und hob ihn so in die Höhe, vom Abgrund hinweg. Er setzte ihn dann sanft wieder nieder, mit dem Rücken gegen ein rundliches, bemoostes Felsstück. Man sah nun das Gesicht; es war jung, von ungewöhnlich schöner Farbe, Nase und Mund auch von edlem Schnitt; die Haare fielen in dichten Ringeln über die etwas niedrige Stirn. Die grünlich grauen Augen hatten sich geöffnet; sie schienen sich wieder schließen zu wollen, aber der Anblick dieser über ihn gebeugten Männer weckte doch in dem jungen Mann das Bewusstsein, die Lebensgeister auf. Er blies die Luft verwundert durch die Lippen. Er hob eine Hand zum Ohr und bog es mehrmals zusammen, immer um sich starrend.

Endlich sah er auch die Baumwipfel, die aus der Tiefe hier und da heraufragten, und schien zu begreifen, wo er lag, wo er gelegen hatte. Seine Stirn zog sich, wie vor Schmerz, zusammen. Er seufzte; dann aber suchte er leicht und herzlich zu lächeln und zeigte dabei seine kleinen, perlenhaft glänzenden Zähne.

»Aha! Lebensretter!« sagte er, mit wahrer oder erzwungener Heiterkeit. »Also eingeschlafen; am Abgrund. Ich hätte mir’s denken können – denn ich war so müde. Ergebensten Dank, meine Herren; Sie retten ein junges, hoffnungsvolles Leben. Na, das sehen Sie ja. Meinen ergebensten Dank!«

»Gehört der Hund zu Ihnen?« fragte Saltner trocken.

»Nein; ich weiß nichts von einem Hund. Der da? Ich kenn’ ihn nicht. Hat der mich etwa gerettet? Dann möcht’ ich ihm – — Wir werden ihm nachher eine große Wurst kaufen«, setzte der junge Mann hinzu, statt den andern Satz zu vollenden, und lächelte wieder. Er erhob sich dann langsam auf die Füße. Seine Gestalt war klein neben der des Riesen, aber schlank, aristokratisch; nur die Schultern etwas hoch und spitz. Ein Brillant glänzte auf seiner farbigen Krawatte. Die etwas abgetragenen Handschuhe waren stark mit Erde bedeckt. Er sah das, lachte auf und schlug sie mehrmals stark gegeneinander, wie wenn er Beifall klatschte; dann nickte er dem jungen Berthold, den er verwundert betrachtete, in drolliger Heiterkeit zu und zog den Schuh wieder an, den er verloren hatte.

»Wie kamen Sie denn hierher?« fragte Wittekind.

»Ja, wie kommt man zu solchen Dummheiten!« erwiderte der andre, der sich nun auch den Bart von einigen Erdkrumen reinigte; denn ein lichtbrauner, schöngeformter Schnurrbart kräuselte sich über der Oberlippe. »Ich war da drüben in Salzburg; hatte einen Brief bekommen, dass ich da nichts zu tun hätte, dass ich anderswo – — na, kurz, einen Brief. Ich steige also auf den Mönchsberg, eh’ ich wieder abreise; sehe auf die Stadt hinunter und in die Natur. Und da fallen mir hier so ein paar sonderbare, verrückte Felsen auf; die willst du besteigen! Dacht’ ich. Denn was sollt’ ich sonst? Ich hatte ja nichts zu tun! – Das war heute früh. Ich fuhr auf der kleinen neuen Bahn bis an die Berge, kletterte dann herauf. Und zu guter Letzt – bin ich hier eingeschlafen. Aber die Vorsehung, ohne die bekanntlich kein Sperling vom Dache fällt – — Kurz, da steh’ ich. Ein nützliches, wichtiges Leben ist gerettet. Und da ist ja auch noch mein Hut … Alles ist gerettet!«

Er lachte wieder auf. Es war ein etwas mühsam leichtsinniges Lachen, das Wittekind nicht gefiel. Dagegen erstaunte er, wie schön und dem Ohr sich einschmeichelnd der Fremde sprach; fast ein wenig zu gut, wie oft Schauspieler oder Prediger sprechen. Er fühlte sich an Waldenburgs Art zu reden erinnert. Der junge Mann verzog auf einmal das Gesicht, ward blass, und fragte nach dem nächsten Wirtshaus; es hungere ihn heftig. Auch die Rettungs-Prämie für den Hund, die Wurst, müsse ja gekauft oder gesotten werden.

»Nun, so geh’n Sie mit uns«, sagte Saltner; »zur ›Gemse‹. Da sorgt man für Mensch und Hund!«

»Ich schließe mich Ihnen also an, wenn Sie erlauben«, entgegnete der Fremde und machte sich sogleich auf den Weg.

Im Geh’n fiel ihm ein:

»Ich hatte doch einen Überrock. Wo ist der geblieben? Wo ich lag, da liegt keiner. Ah! Der ist also statt meiner —«

»Hinuntergerollt«, ergänzte der Alte.

»So scheint es. Der Glückliche!« sagte der junge Mann, mit einem verzerrten, unsinnigen Lächeln, das Wittekind sonderbar ergriff. Dann zuckte er die Achseln, und blickte einen der Männer nach dem andern mit jugendlicher Heiterkeit an.

»Jetzt bin ich der weise Bion – oder wie hieß er —: Omnia mea mecum porto! Denn mein bisschen Gepäck, das hab’ ich schon unterwegs verloren, eh’ ich nach Salzburg kam; in irgendeinem Coupé. Ich behalte nichts. Das ist schon mein Schicksal. Also auf zur ›Gemse‹! Ich vergesse«, setzte er hinzu und blieb wieder steh’n: »ich habe mich den Herren noch nicht vorgestellt. Dorsay ist mein Name. Eugen Dorsay. Vierundzwanzig Jahre alt; gegenwärtig – Reisender, oder was Sie wollen.«

Er schob die Füße und die Knie aneinander und verneigte sich mit vollendeter Grazie; die Schönheit seiner Gestalt, seiner Bewegungen war noch auffallender als zuvor. Die Herren erwiderten seine Höflichkeit Als er Wittekinds Namen hörte, stutzte er und betrachtete ihn aufmerksam; aber er blieb stumm.

»Wo ist der Hund?« fragte er nach einer Weile, da sie weitergingen.

Der ›Lebensretter‹ hatte sich ihnen anfangs angeschlossen, stand nun aber hinter ihnen still, wo zwei Waldwege sich kreuzten, und schien noch zu schwanken, wohin er sich wenden sollte.

»Heda!« rief Dorsay. »Her zu uns! – Die Wurst! Vergiss nicht: die Wurst! Der Lohn deiner Tugend!«

Der Rattler ließ sich aber nicht locken; den Schwanz zwischen die Beine nehmend wandte er sich langsam und trabte in anderer Richtung davon.

Dorsay hob die Arme, und mit pathetischen Bewegungen, als stände er auf der Bühne, rief er dem Flüchtling nach:

 
»He, Romeo! Mein Vetter Romeo! —
Bei Rosalindens hellem Aug’ beschwör ich dich,
Bei ihrer hohen Stirn, den Scharlachlippen…«
 

Der Hund lief nur umso hurtiger in den Wald hinein. Endlich lachte Dorsay auf. Er wandte sich zu Berthold:

»Sehen Sie«, sagte er, »das ist der Lauf der Welt! Die Tugend geht ohne Lohn davon; und das Laster – — nun, das Laster setzt sich an die Tafel!«

»Bei alledem gestatten Sie mir die Frage«, sagte Saltner mit einem fast grimmigen Gesicht, da er die dicken Brauen tief herunterzog: »was für ein starker, süßer Teufelsduft kommt denn da von Ihnen? Er ist gar nicht übel, aber von einer Gewalt – — Er liegt in der Luft, wie Weihrauch in der Kirche; man riecht ja den Wald nicht mehr.«

Statt zu antworten, griff der junge Mann in die Brusttasche, zog einen mit Golddruck verzierten Brief heraus und hielt ihn dem Alten vors Gesicht.

»Sie meinen, von dem Brief da kommt’s? Nun ja, von dem Brief. Das ist eben der, von dem ich vorhin sagte. Von einer Dame natürlich…«

Er lächelte, gar liebenswürdig leichtfertig, und steckte ihn wieder ein.

»Aber erlauben Sie«, brummte der Alte: »von so einem Brief in der Tasche wird nicht eine ganze Gegend lasterhaft; denn das ist wirklich ein lasterhaft süßer Wohlgeruch. Wenn die Sünde als Weib herumginge, das wär’ ihr richtiger Duft!«

Dorsay lachte laut. Es wirbelte wie eine Art von Musik zu den Wipfeln hinauf; denn diesem etwas bedenklichen Gesellen steckte ein eigener goldener Zauber in der Kehle.

»Sie haben übrigens Recht«, sagte er darauf. »Mein ganzer Rock – — Mir fällt jetzt ein: von demselben Duft hatt’ ich noch einen Rest, den hab’ ich mir, eh’ ich nach Salzburg kam, auf den Rock gegossen. Davon riech’ ich nun so nach Sünde. Pardon! Wie alles vergeht, wird auch das vergeh’n. Sie werden in der ›Gemse‹ staunen, werter Herr, wie tugendhaft ich auch sein kann. Wären wir nur erst dort! Ich hab’ eine Sehnsucht nach allerlei Labsal – und nach Ruhe – nach Kühle – — Mir wird gar nicht gut!«

Er sagte das noch scherzend; es war aber eine letzte Anstrengung, mit der es zu Ende ging. Da sie aus dem Wald in eine Lichtung hinausgetreten waren, die in der Sonne glühte, schien sich dem Fremden ein Druck auf die Augen, auf das Hirn zu legen, wie in zu heißem Bad; er hob seine Hand zum Kopf, sein Gesicht überfüllte sich mit Blut, er begann zu seufzen. Endlich stand er still. Er schwankte.

Saltner und Wittekind, schnell entschlossen und in schweigendem Einverständnis, fassten ihn rechts und links und führten ihn, so eilig wie sie konnten, über die Lichtung fort; der eine mehr als mannesstark, der andre von Riesenkraft: so trugen sie die schlanke, leichte Gestalt fast mehr, als sie sie führten. Er widerstrebte nicht, er sprach auch nicht; mit geschlossenen Augen seufzte er zuweilen leise vor sich hin.

Als sie dann in neuem Wald, auf dem Wege, der Wittekind gestern zur ›Hedwigsruhe‹ geführt hatte, vollends abwärts stiegen, schien die Schwäche von ihm zu weichen; er beteuerte mit freilich noch matter Stimme, er könne allein gehen, er bedürfe keiner Hilfe mehr. Doch in der Nähe der ›Gemse‹, da ihm die Sonne wieder auf den Scheitel brannte, begann er in erschreckender Weise zu stöhnen, und seine Glieder wurden wie Binsen, alle Kraft verließ ihn. Sie schleppten ihn noch eine Weile auf der Straße fort; etwa zwanzig Schritte vom Wirtshaus sank er ihnen bewusstlos aus den Armen.

Kathi stand vor der Tür, unter dem kleinen Schutzdach. Sie stieß den Schrei aus, den der junge Mann im Fallen unterdrückt hatte, lief herbei und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Indessen hatten die beiden Männer den Ohnmächtigen bald emporgehoben, Berthold half ihn tragen, soviel man ihm übrig ließ, und so kamen sie in das Haus und die Treppe hinauf. Sie legten ihn auf das Bett, in welchem Waldenburg diese Nacht geruht hatte. Er lag blass wie ein Toter da; einen Augenblick war Wittekind, als sähe er Waldenburgs kaltes, stilles Gesicht; aber der Ort, die Erinnerung an das hier geführte Nachtgespräch mochte ihn so täuschen und verwirren. Jedenfalls verflog die Ähnlichkeit bald. Dorsay lag lange, ohne sich zu regen; allmählich kehrte den blassblauen Lippen ihre Röte wieder, er schlug auch die Augen auf. Es währte aber noch eine Weile, bis sein Bewusstsein erwachte und er mit einem eigentümlichen Ausdruck von Pein nach etwas Wasser verlangte. Kathi, die ihn schon lange voll Mitleid betrachtet hatte, stürzte hinunter, um ein Glas zu füllen.

Sie kam aber zu spät zurück: denn der jugendliche Körper hatte sich mittlerweile schnell entschlossen, die Stärkung im Schlaf zu suchen, und wie wenn er aus den Armen der Ohnmacht in die des Schlummers sänke, war er mit einer Art von Lächeln, den Kopf auf die Seite legend, friedlich eingeschlafen. Fast unhörbar seufzend kam und ging sein Atem, nur zuweilen bewegte ein leichtes Zittern seine Glieder.

Als er wieder erwachte, waren Stunden vergangen; die Sonne, die schon tief im Westen stand, schien in sein Gemach. Die gute Kathi stand neben seinem Bett. Sie war mittlerweile oft hinabgestiegen, als Kellnerin aufzuwarten, und immer wieder hinauf, um das Erwachen dieses armen Menschen ja nicht zu versäumen, um sogleich zu hören, wessen er bedürfe. Sein erster Blick fiel, sehr verwundert, auf das junge Mädchen. Er wandte sich ganz herum; seine grauen Augen, deren grünlicher Schimmer eben erst erwachte, wanderten, noch wie im Traum, über das unbekannte, blumenhaft blühende Gesicht. Der gespannte Zug von kindlicher Sorge und süßem Mitleid, der darüber hinzog, rührte ihn in dumpfer, gedankenloser Weise, da er noch nicht begriffen hatte, wo er sich befand. Auf einmal wusste er alles. Er war Eugen Dorsay, und lag auf einem fremden Bett, und lebte; und es war gut, dass er lebte, da ein so reizendes Geschöpf ihn so gut und mitleidig ansah. Er lächelte ihr zu. Er lächelte so zufrieden und herzlich, dass sie tun musste, was er tat. Die beiden jungen Gesichter lachten einander an. Er grüßte sie mit den Augen, dann mit freundlichem, wiederholtem Nicken. Sie grüßte ihn ebenso.

»Kommen Sie!« sagte er nach einer Weile mit seiner einschmeichelnden Stimme.

Sie kam, näher tretend. Er nahm ihre Hand, betrachtete sie und streichelte einmal sacht darüber hin. Dann sah er ihr mit heiterem Ernst schweigend ins Gesicht, hob seinen Arm bis zu ihrer Schläfe, nahm eine der braunen Locken, die ihr seitwärts in die Stirn fielen, die längste, und wickelte sie langsam um seinen Zeigefinger. Das Mädchen blickte ihn verwundert und mit stockendem Atem an, ohne sich zu rühren. Sie hielt so still, als müsse das eben sein, als wäre es so bestimmt und beschlossen. Als er dann die Finger wieder aus dem Löckchen zog, atmete sie auf.

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