Kitabı oku: «Adams Söhne», sayfa 7
Er legte den Finger an seine Lippen, küsste ihn, und lächelte ihr wieder zu.
»Und wie heißen Sie?« fragte er.
»Kathi«, sagte sie leise.
»Gute Kathi. Wenn es nun doch eine abgemachte Sache ist, dass ich leben soll – so lassen Sie mich auch ganz leben. Verstehen Sie mich, mein Herz! Ein Glas Wein, etwas Warmes, etwas, davon man satt wird, wenn man hungrig ist. Denn der Hunger kommt. Da ist er schon, dieser hagere Wolf. Er heult! Ich werde sterben, Kathi, eh’ Sie wiederkommen. Ich hab’ lange nicht – — Aber was kümmert das Sie, oder irgendeinen Menschen. Fragen Sie nicht, was; ich will irgendwas. …«
Er zog ein Goldstück aus der Westentasche und hielt es in die Luft:
»So viel, wie das wert ist, bringen Sie mir zu essen!«
Über Kathis mitleidig trauriges Gesicht flog ein Kinderlächeln; sie sprang die Treppe hinunter. Unten erzählte sie den andern Gästen, Saltner und Wittekinds, die im ›Salettl‹ beim Schachbrett saßen, nur in fliegender Eile, der Herr mit den Glanzschuhen sei wach und habe Hunger.
Aus der Küche eilte sie dann wieder hinauf, um seinen Tisch zu decken; bald danach, um ihm den ersten Hungertrost zu bringen. Man hörte sie oft die Treppe auf und nieder laufen, immer mit einem fröhlichen Summen oder Zwitschern auf den Lippen. Endlich kam sie wieder ins ›Salettl‹: der Herr sei nun satt; aber er habe Papier und Feder verlangt, und schreibe einen Brief. Denn er bleibe hier, es gefalle ihm in der ›Gemse‹. Es solle jemand zur Stadt hinunter, ihm etwas Wäsche zu kaufen. Er habe schon wieder gesungen und lasse die Herren schön grüßen.
Nach einer Weile erschien er selbst; blieb im Eingang des ›Salettls‹ steh’n, verneigte sich feierlich, und ging dann mit seiner zutraulichen, strahlenden Heiterkeit auf die Herren zu. Er hatte ein anderes Halstuch angelegt, – die einzige Veränderung, die er machen konnte; an seinen Händen, die nicht mehr in den Handschuhen steckten, sah man nun mehrere kostbare Ringe, die auf die außerordentliche Feinheit seiner langen Finger, seiner fast rosigen, sorgsam gepflegten Nägel aufmerksam machten. Von der Schwäche, die ihn vorhin niedergeworfen hatte, war nichts mehr zu spüren; dagegen leuchtete ein auffallender, heißer, übertriebener Glanz aus seinen Augen, den die Männer bemerkten, als er sich zu ihnen an den runden Tisch setzte. Saltner, der am Schachbrett gegen Vater und Sohn gekämpft hatte und soeben unterlegen war, betrachtete den jungen Mann mit scharfer Prüfung und schüttelte den Kopf. Zuletzt sagte er in seiner derben Aufrichtigkeit:
»Haben Sie Fieber, Herr, oder zu viel Wein im Kopf?«
»Weder das eine noch das andere«, entgegnete Dorsay lächelnd. »Der Wein ist gewiss ein guter Freund, aber nicht der beste. Er wirkt erst, wenn man ihm tüchtig zugesprochen hat, und man kann ihn nicht so in der Tasche bei sich tragen – wie den andern, den Busenfreund. Es lebe das Morphium!«
»Sie nehmen Morphium?« fragte der Alte verfinstert.
»Ja, ich bin so frei. Sie werden mich nicht aufessen, Herr, wenn Sie auch so ein Menschenfresser-Gesicht machen; und auch die gute Laune werden Sie mir nicht stören. Das ist ja eben der Segen dieses besten Bruders: er gibt uns eine Götterlaune, er hüllt uns in eine Wolke von Heiterkeit und Glück, dass keine Sorge hindurch kann. Der Verdruss und der Kummer steh’n draußen, man sieht sie noch durch einen Nebel, aber man spürt sie nicht. Und man vergisst, vergisst! Das ist das Höchste: vergessen!«
Saltners Brauen-Dickicht ging immer auf und nieder.
»Und nachher?« fragte er. »Die Folgen? Der Katzenjammer?«
Dorsay lächelte kalt.
»Lieber Herr, Sie verlangen zu viel. Umsonst ist der Tod!«
»Und Sie haben immer so ein Fläschchen in der Tasche?«
»Ein Fläschchen, in das eine hübsche Menge hineingeht – eine Masse Glück!«
»Ich wollte, ich hätte Ihr Fläschchen —«
»Was würden Sie damit tun?« fragte Dorsay, den dieses Gespräch nur erheiterte.
»Ich würde es da unten in die Salzach werfen —«
»Wo sie am tiefsten ist!« setzte Dorsay hinzu. »Daraus schließe ich, mein Herr, dass Sie glücklich sind; dass Sie keinen Tröster, keinen Lebensbalsam, keine Lete brauchen. … Ich höre und sehe Ihre Moral, mein Herr; aber sie steht da draußen, wo der Verdruss und der Kummer steh’n. Und da steht sie gut. Das Leben ist ein Wahnsinn, Herr, ohne so einen Freund! O Asien, Land der Weisheit … Der Obergott ist Haschisch. Dem kommt keiner gleich. In so einem grünen Haschisch-Täfelchen steckt das Paradies. Ich hab’ einmal in einer Sommernacht, unterm Sternenhimmel, auf dem Verdeck gelegen, im Haschisch-Wonnerausch; über mir stand ein Stern, der ward eine Sonne, seine Silberstrahlen wuchsen über den Himmel hin, alles, alles ward Licht, die ganze Welt ward ein Meer von Licht, und ich musste immer lächeln und staunen, dass so eine Herrlichkeit grade für mich geschaffen, und dass ich so heiter und so selig sei. Und ich war so leicht, ich fühlte mich fliegen, ich flog in das Licht hinauf. Ich war wie ein Gott. Herr, und so ein Glück gönnen Sie einem Menschen nicht? Nur Sorg’ und Not und ein Hundeleben – und es nie vergessen? – Es lebe der Haschisch! Und es lebe das Morphium. Auch Morphium ist gut. Und auch Wein ist gut. Kathi – wo ist Kathi – bringen Sie mir Wein, Kathi; Ihren roten, sauren!«
Er lachte auf, er erhob sich, und mit drolligem Theater-Pathos, mit dem gespielten Augenrollen eines Trunkenen reckte er den rechten Arm gegen Saltner aus.
»Wie sagt Junker Tobias bei dem göttlichen Shakespeare? ›Vermeinest du, weil du tugendhaft seiest, solle es keine Torten und keinen Wein mehr geben? Und der Ingwer soll auch noch im Munde brennen…‹«
Kathi, die drinnen im Haus trinkende Bauern bedient hatte, kam herausgelaufen. Sie hörte die letzten, sonderbaren Reden, sah die närrischen Gebärden des Fremden, und bang an ihr Schürzchen greifend stand sie still. Als aber Dorsay sich wandte und wieder sein natürliches, fröhliches, unwiderstehliches Lächeln zu ihr hinüberflog, kam auch ihre kindliche Heiterkeit zurück.
»Wein, liebe Kathi!« rief seine klingende, warme Stimme.
Sie nickte und sprang ins Haus. Der alte Saltner trat, ohne etwas zu sagen, in den Garten hinaus und sah in die blaue Ferne, die sich im Widerschein des beginnenden Abendrots zu verfärben anfing.
Ein Missgefühl, das er nicht ganz verstand, lag ihm auf der Brust; er sann nach und suchte. Warum fasste ihn bei den Reden dieses Herrn Dorsay so ein Widerwille? Warum missfiel ihm sogar sein schönes, nicht gewöhnliches, von geheimem Kummer gezeichnetes Gesicht? Was war ihm dieser Mensch – und an was dachte er bei seinem Anblick? Irgendwann, irgendwo hatte er jemand geseh’n, der ihm ähnlich war; der seinem Gefühl ebenso missfiel … Plötzlich tauchte es auf, und traurig lächelnd wiegte er den Kopf.
Nur ein Bild, diesem Menschen ähnlich, hatte er geseh’n; eine Photographie. Er stand im Bein-Bruch am Untersberg mit Marie von Tarnow – damals noch nicht ›von Tarnow‹ – und nahm ihr die Photographie eines jungen Mannes aus der Hand, die er schon dreimal angesehen hatte, und sagte zu ihr: ›Gib Acht! Nimm den nicht! Glaub mir, es wird dein Unglück!‹ – Sie schien ihm zu glauben; und ging wieder nach Amerika – und nahm ihren Jüngling doch … An jene Photographie ward er nun erinnert.
So ungefähr, wie der Dorsay, sah der Herr von Tarnow auf dem Bildchen aus, das Unglück seiner Marie. Darum war ihm so ungut ums Herz. Darum wollte er lieber diesen Menschen nicht mehr seh’n.
›Was tu’ ich denn auch noch hier?‹ dachte er. ›Wozu auf der „Gemse“? Marie wieder fort – der Namenstag vorbei – also zurück in die Einsiedelei am Kapuzinerberg – in den „Wald“ zurück!‹
Er ging langsam am Felsen hin und wollte von hinten ins Haus; eine lärmende Lustigkeit riss ihn aber aus seinen Gedanken und er sah über die Schulter zum ›Salettl‹ hinüber. Dort trug eben Dorsay mit Kathi einen Tisch auf den Rasen hinaus; Berthold folgte mit Stühlen; Wittekind lehnte sich lächelnd an die Wand. Nach wenigen Augenblicken war die kleine Halle ebenso wie gestern geräumt, und Dorsay, seinen Hut ins Gras werfend, einen richtigen Jodler singend, sprang auf das ›Salettl‹ zu und schwang sich über die Brüstung hinein. Kathi folgte ihm, aber sittig durch den offenen Eingang.
»Die Musik mach’ ich selbst!« rief Dorsay. »Steirisch über alles!«—
Und mit kunstgerechter, angenehmer Stimme, bald mit Text, bald nur trällernd, sang er die Tanzmelodie, während er in allen Figuren des ›Steirischen‹ mit dem Mädchen dahinschwebte.
Kathis Wangen glühten. War gestern, beim Tanz mit der Wabi, eine bacchantische Lustigkeit in ihr erwacht, so riss nun die närrische Wildheit ihres Gesellen sie bald wie in einen Rausch hinein; der Tanzteufel schien sich in ihren Gliedern zu wiegen, aus ihren Augen zu funkeln, während die tollmachende Stimme des andern unermüdlich sang. Seine geschmeidige, biegsame Gestalt, in deren natürlicher Grazie die Morphium-Trunkenheit zuweilen verwildernd aufzulodern schien, umspielte, umschwebte das Mädchen wie eine tanzende Flamme; ihre Augen sahen ihn so, ihr Herz fühlte ihn so, im Dahingleiten jauchzte sie still in sich hinein, sein Lächeln, seinen Gesang, seinen Atem trinkend.
Es war ihr, als sei sie nun, und zum ersten Mal, in das Element gekommen, dem sie angehöre; als gehöre auch zum ›Steirischen‹ kein Bewusstsein und kein Wille mehr. Sie schwamm so dahin, sie tat von selbst, was sie sollte, alles kam von ihm. Wie wenn der Magnet mit dem Eisen tanzte, so bewegten sie sich mit und umeinander, ohne zu ermatten.
Saltner sah vom Felsen aus ihnen lange zu, bewundernd, zuletzt den Kopf schüttelnd. Endlich ging er ins Haus. Auch Wittekind, des Zuschauens müde, einen Arm auf Bertholds Schulter gelegt, führte seinen Jungen an der Straße hin dem Hause zu. Die Tänzer blieben allein.
Kathi schloss einen Augenblick die durchglühten Augen; dann fühlte sie, dass Dorsay stehen blieb, fühlte seinen Atem und blickte wie im Traum wieder auf· Sie sah, wie sein Gesicht über dem ihren schwebte. Seine Augen lachten.
Sein Mund öffnete sich, wie sie junge Rosen oder Nelken hatte aufgehen seh’n. Seine Zähne blitzten. Sein ganzes lachendes Antlitz schien zu sagen: du und ich, wir sind glücklich!
Er flüsterte etwas; sie verstand es nicht. Sie fühlte nur, dass sie bangen müsse, wenn es ein anderer hörte.
Aber nun sah sie, umherblickend: alle waren fort. Das Herz schlug ihr leichter. Sie wollte ihm sein Lächeln zurückgeben; nur dass eine andere, plötzliche Bangigkeit sie erbeben machte und ihr Atem stehen blieb, sie wusste nicht warum.
»Kathi!« sagte er.
»Was?«
Er antwortete nicht. Mit ernsthafterem Lächeln legte er ihr beide Hände an die feurigen Wangen, hob langsam ihr Gesicht zu dem seinen hin und drückte ihre und seine Lippen aufeinander.
Sie ließ es geschehen, wie wehrlos; mit kaum vernehmbarem Seufzen. Ihre Arme hingen schlaff herab; wie bei einem Kind, das sich ohne eigenen Willen küssen lässt.
Als er sie wieder freigab, sah er aber ihr kindlich trauriges, verzagtes Gesicht; ihre Mundwinkel zogen sich hinab, die Augen flehten ihn an. Leise, aber deutlich sagte sie:
»Ach bitte, tun Sie das nicht!«
Er horchte verwundert auf. Unbewusst einen Schritt zurücktretend starrte er auf diese rührende Verwandlung ihrer Züge. Wie zur Erklärung setzte das Mädchen noch leiser hinzu:
»Ich hab’ noch niemand geküsst!«
»Ah!« sagte er, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ironisch sein wollte. Aber die Ironie verflog über ihrem Anblick. Er sah den vollen, warmen, hilflosen Ausdruck der Unschuld auf ihrem erblassten Gesicht. Etwas vor sich hinmurmelnd ging er von ihr hinweg und setzte sich auf die Brüstung, die er vorhin übersprungen hatte.
Er blickte auf den Fußboden, seine Fersen schlugen sacht gegen die Holzwand, auf der er saß.
»Ich will’s also nicht mehr tun!« sagte er nach einer kurzen Stille. »Gehen Sie, gute Kathi. Geh’ weg, mein’ ich: lass’ mich hier allein!«
Sie atmete tief auf. Sie stand noch eine Weile, als wolle sie etwas sagen und könne es nicht finden. Endlich murmelte sie mit schwacher Stimme:
»Ich danke Ihnen!« und ging leise ins Haus.
Dorsay saß eine geraume Zeit, ohne sich zu rühren.
Aus seinem Gesicht war das Leben fort; die Brauen hatten sich zusammengezogen, der Mund fest geschlossen, die Lider sanken ein und die Augen verloren ihren Glanz. Die Wirkung seines ›Lebensbalsams‹ schien verraucht zu sein; nur der Bodensatz seines Daseins schien zurückzubleiben, und ein gewisses stumpfes Grauen zu erwachen. Es ward dunkel.
Von der Rückseite des Hauses kam jemand mit Licht. Er fühlte es im Auge, schüttelte sich und stand auf. Langsam, müde und schwer ging er auf die Straße zu, und von da in die Tür.
Wittekind trat eben aus seinem Zimmer, als Dorsay die Treppe heraufkam; betroffen blieb er steh’n, da er den jungen Mann so verändert sah. Der Schein einer eben angezündeten Lampe fiel ihm ins Gesicht; es war grünlich bleich, ohne Jugend, die halbgeöffneten Augen hatten einen müden, kalten Schlangenblick, der Wittekind an Waldenburg erinnerte. Sie gingen aneinander vorüber; plötzlich aber fühlte Wittekind sich am Arm ergriffen, und ein sanfter Druck zog ihn fort.
»Kommen Sie!« sagte Dorsay flüsternd, fast heiser. »Bitte, kommen Sie! Schenken Sie mir noch einige Minuten!«—
Damit öffnete er schon seine eigene Tür und führte den halb widerstrebend Folgenden hinein.
Das beginnende Mondlicht erhellte die Nacht in Dorsays Zimmer; dieser rieb auch ein Zündholz an, das er aus einem Westentäschchen holte, in seiner unruhigen Hand erlosch es aber, und er warf’s auf die Erde.
»Seien Sie gut!« sagte er mit sich erregender Stimme; »ich kann noch nicht allein sein, und nicht unter Menschen; bleiben Sie ein wenig hier! Zu Ihnen hab’ ich Vertrauen, muss ich Ihnen sagen; Sie haben so die richtigen Menschenaugen – ich meine, Augen, die mitfühlen, wie einem andern zu Mut ist, die alles versteh’n und begreifen. Dieser Weißbart aber – Gott erhalte ihn – wenn ich dem erzählte, wie es in mir aussieht, so würd’ er vermutlich sagen: Werft den Kerl ins Wasser! Und Ihr Sohn – verzeihen Sie – der ist in all seiner göttlichen Unschuld noch eine Art von Kind! Starren Sie mich nicht so an; nehmen Sie den Stuhl da. Mir ist schlecht zu Mut. Nur ums Herz, mein’ ich; denn mit dem Hungertod«– er lachte auf —»mit dem ist’s ja vorbei!«
Wittekind fuhr auf.
»Was sagen Sie da? Sie haben —«
»Ein bisschen verhungern wollen, ja!« erwiderte Dorsay, mit der Rückseite seiner Hand verächtlich über den Tisch fahrend. »Weil ich dachte: mit meinen vierundzwanzig Jahren – und allem, was darin ist – hab’ ich genug gelebt! – Aber als ich merkte: das führ’ ich nicht durch, die Bestie ist zu stark – da hab’ ich mich da oben bei dem verrückten Fels an den Rand gelegt – ja, mein Herr, so ist’s – und in meiner tapfer’n Schlauheit hab’ ich mir gedacht: wenn ich hier, nach der schlechten Nacht, vor Erschöpfung einschlafe, dann roll’ ich bei irgendeinem unruhigen, tollen Traum – wie ich sie kenne, Herr – in den Abgrund hinunter, und der Spaß ist aus! – — Ich bitte Sie sehr, verdenken Sie mir’s nicht. Ich braucht’s Ihnen ja nicht zu sagen, so wenig wie den andern; – aber immer schweigen, schweigen, das ist auch entsetzlich; und Ihre Augen machen einem Mut. Ich bin sehr unglücklich, Herr! Ich bin furchtbar unglücklich! Mir ist nichts geglückt, alles ist verspielt; ein verpfuschtes Leben … keinem zu Liebe, allen nur zu Leide. … Darum wollt’ ich fort!«
Wittekind schwieg eine Weile. Er war sehr betroffen; so offene und so traurige Bekenntnisse hatte er nicht erwartet.
»Was soll ich Ihnen sagen?« erwiderte er, nachdem er sich leidlich gefasst hatte. »Dass ich Sie sehr bedaure? Das hilft Ihnen ja zu nichts. Dass ich Ihnen Recht gebe? Herr, das tu’ ich nicht. Oder dass Sie sich aufraffen, weiterleben, bessermachen sollen? Indem ich das nur sage, schütteln Sie schon den Kopf!«
»So nehmen Sie mir erst mein Erbteil aus dem Leibe!« sagte der andre mit einem so grimmigen, verzerrten Ausdruck, dass Wittekind erschrak. »Nehmen Sie mir erst meinen Vater, Herr! Nehmen Sie mir das faulige Blut – und das edle Beispiel – und alles, was von Anfang da war, oder so nach und nach über mich gekommen ist – weil ich diesen Vater hatte – den ich verfluche, Herr! Ja, ja, ja, verfluche! Heben Sie nicht die Hand! Ich verfluch’ ihn doch! Es ist mein letzter, einziger Trost, dass ich ihn verfluche! Er gab mir dieses elende Leben, diese Eigenschaften, er hat mich gemacht, ich kann ihm nichts Gleiches antun; und wenn ich sterbe, das tut ihm nichts, er lebt ruhig weiter; ich kann nichts, als schreien, laut in die Welt hinausschreien, dass ich ihn verfluche – vielleicht hört es jemand da oben in den Wolken – vielleicht kommt es als Echo in sein Herz zurück – vielleicht wird es ihm angerechnet – ich weiß nicht – aber mein einziges Labsal ist, dass ich ihn verfluche!«
Die Luft schien von diesen wilden Worten zu beben; ein Glas auf einem Teller klirrte; Wittekind schüttelte sich, ein Schauder überlief ihn. Er schwankte eine Zeit lang, dann ging er still nach der Tür. Zu reden widerstand ihm, bleiben mochte er nicht. Ihm graute auch, in dieses Leben tiefer einzudringen; die Flüche gellten noch zu hart in seinem Ohr. Und doch lag ihm ein schweres Mitleid auf der Brust. Er war tief bedrückt, uneins mit sich selbst. Übrigens ließ ihn der andre geh’n, ohne sich zu regen; er wandte nur betroffen den Kopf.
Erst als Wittekind die Hand zögernd auf den Türdrücker legte, rief Dorsay ihn mit gedämpfter, weicherer Stimme an. Wittekind blieb steh’n.
»Herr, Sie haben Recht!« sagte Dorsay. »Geh’n Sie! Ich bin verrückt. Sie sind selber Vater; haben auch einen Sohn. Weil ich den vorhin beneidete, so brach es aus mir heraus. … Aber meine Gründe, mein Leben, meines Vaters Leben – das alles kann ich Ihnen ja doch nicht sagen, Ihnen, einem Fremden; kann Ihnen nicht sagen, warum ich ihn verfluche. … Verzeihen Sie mir, mein Herr. Unglückliche verlieren zuweilen den Verstand und vergessen, was schicklich ist. Seien Sie gut, grollen Sie mir nicht!«
»Wie sollte ich Ihnen grollen?« sagte Wittekind, dem jetzt nur Mitleid ums Herz lag. »Ich – — ich kann Ihnen nur nicht sagen, Herr Dorsay, wie sehr ich Sie bedaure.«
»Seh’n Sie, das wusst’ ich: Ihre Augen!« entgegnete der Unglückliche mit einem unwiderstehlich liebenswürdigen Lächeln. »Ich danke Ihnen; – geh’n Sie. Versprechen Sie mir nur eins, hochverehrter Herr: dass Sie den andern nicht sagen wollen, was Sie hier gehört haben. Sie schütteln den Kopf; das ist mir genug. Wenn Sie mich morgen wiederseh’n, soll Sie nichts daran erinnern, dass ich heute toll war. Ich werde nur tun was sich schickt! Dulden Sie mich noch einen Tag, oder zwei, in Ihrer Menschengüte; dass ich jetzt nicht in der Einsamkeit verkomme; – dann wird ohnehin das Schicksal wieder anklopfen und mich forttragen – wohin es will!«
»Kommen Sie«, erwiderte Wittekind; »geh’n Sie mit hinunter. Wir sind alle Menschen, da unten!«
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Dorsay, der an seinen Tisch gelehnt stehen blieb. »Sie meinen es gut. Aber ich will Nacht machen; ich bleibe nun schon besser allein. Übrigens hab’ ich ja meinen Bruder: den Morpheus, in dem Fläschchen. Mit dem lebt sich’s immer eine Strecke weiter. Vogue la galère!«
VII. Kapitel
Am Nachmittag desselben Tages – während Eugen Dorsay den ›hageren Wolf‹, den Hunger, mit Kathis Hilfe bekämpfte – saß der Geheimrat Waldenburg behaglich und zufrieden in einem breitlehnigen Rohrsessel, auf der Terrasse vor seiner Tür. Er hatte sich in einer der sogenannten ›Dependancen‹ des Hotels R… in Salzburg einquartiert, in einem kleinen, eleganten Haus, das durch nichts an den Gasthof erinnerte und über dem Erdgeschoss, in dem er wohnte, nur noch einen Oberstock trug. Der buschreiche, duftende Garten trennte ihn vom Haupthaus, wo Tilburgs nach alter Gewohnheit abgestiegen waren. Waldenburg, der es liebte, auf Reisen wie ein Fürst zu leben, hatte für die wenigen Tage dieses Salzburger Aufenthalts das ganze Erdgeschoss besetzt, obwohl nur sein Sekretär ihn begleitete, der diesen Morgen von Wien eingetroffen war. Er schwelgte jetzt in einem reizenden Durcheinander von Genüssen: er las, sog den Duft der Gartenbeete ein, hörte vom Oberstock her, durch die offenen Fenster, die Gräfin Lana Klavier spielen, und sah, wenn er aufblickte, die Salzburger Zitadelle und das Kapuzinerkloster hoch im reinen Blau.
Zu diesen Genüssen hatte er noch einen: die feste Überzeugung, dass niemand so zu genießen verstehe, wie er.
Nur das Buch, das er las, begann ihn zu ermüden; ein Roman mit starken Situationen, aber zu viel Reflexion und zu wenig Geist. Er hatte schon zweimal gegähnt.
Mit einem leichten Ausdruck des Missbehagens in seinem Paschagesicht wandte er sich gegen die Tür, die aus seinen Zimmern auf die Terrasse führte, und rief mit seiner klaren Kommando-Stimme:
»Riedau! Ein anderes Buch! – Ja so«, setzte er hinzu, »Riedau ist nicht hier.«
»Doch, er ist schon hier«, sagte der Gerufene, der geräuschlos von der Eingangsseite des Hauses her um die Ecke gekommen war und hinter Waldenburg stand. Es war ein wohlgebauter und sehr wohlgekleideter junger Mann mit einem auffallenden Kopf: schwarzes, lockiges Haar, üppige Negerlippen, kluge, unruhige, gelbliche Raubtier-Augen, deren forschenden Blick ein gutmütiges, gewinnendes Lächeln zu verschleiern liebte. Riedau führte den Titel eines Sekretärs; seine Bestallung war, auch sonst noch alles zu tun, wozu ihn Waldenburg brauchte, und vor allem ein Buch mit sieben Siegeln zu sein.
»Sie sind ein unverbesserlicher Leisetreter«, sagte Waldenburg, der sich nun nach der andern Seite wandte: »man hört es nie, wenn Sie kommen. Also was bringen Sie?«
Riedau trat vor:
»Allerlei, Herr Geheimer Rat. Zuletzt war ich hier oben im Quartier Seiner Exzellenz —«
»Von dem ›Zuletzt‹ sprich er zuerst!« unterbrach ihn Waldenburg; »ein Anfänger fängt immer mit dem Ende an. Also was haben Sie da oben erfahren, junger Diplomat?«
»Seine Exzellenz Graf Lana werden noch heute erwartet, gegen sieben Uhr. Die Frau Gräfin wird sehr erfreut sein, vorher noch Ihren Besuch zu empfangen; sie spielt jetzt Klavier.«
»Junger Hausnarr, das hör’ ich!« erwiderte Waldenburg. »Ohren hab’ ich ja auch.«
Riedau biss sich auf die hochgewölbte, fleischige Unterlippe und machte eine zuckende Bewegung; gleich darauf aber stand er wieder in unterwürfiger, bescheidener Haltung da.
»Kommen wir zur Hauptsache, Fritz«, sagte Waldenburg gnädig, seine Nägel feilend. »Was haben Sie bei Ihrem Vertrauensmann über Marie erfahren« – er verbesserte sich —: »über Frau von Tarnow?«
»Frau von Tarnow, meint er, sei nur so eine Abart von Witwe. ›Er‹ soll sie verlassen haben; nämlich der sogenannte Ehemann, nach dem sie sich nennt. Die Ehe wird sehr bezweifelt —«
»Das dacht’ ich«, sagte Waldenburg mit seinem kalt heiteren Schmunzeln. »Ich bezweifle sie auch. – Was sagt man ihr sonst noch nach?«
Riedau zuckte die Achseln.
»Nichts Besonderes; sie gilt für tugendhaft.«
»Wie allerliebst er das sagt! – Also eine regelrecht zu belagernde Festung. … Nun, an den Gestaden der Ostsee haben wir ja Zeit! – — Holen Sie mir jetzt ein anderes Buch, mein Sohn; das da stört die Verdauung.«
Waldenburg schnellte die Finger gegen das verachtete Buch, sodass es von seinen Knien auf die Erde fiel. Riedau ging schon über die Terrasse zur Tür.
»Nun, so heben Sie das Buch doch auf!« rief ihm Waldenburg nach.
Mit verbissenem Ärger kehrte der Sekretär um und murmelte:
»Pardon!«
Er hob das aufgeschlagen daliegende Buch langsam vom Boden, klappte es zu und flüsterte in dieses Geräusch hinein:
»Europäisches Sklavenleben!«
»Murmeln Sie etwas?« fragte Waldenburg.
»O nein«, sagte Riedau.
Er trat durch die offene Tür ins Terrassenzimmer. Erst drinnen murmelte er wieder, so laut, dass er selber es doch hören konnte: »Sultan! Tyrann!«
Waldenburg sah ihm nach. Er lächelte behaglich. Seine langen Beine dehnend sagte er vor sich hin:
»Man muss diese jungen Sozialdemokraten kurz an der Leine halten! – — Übrigens täte ich besser, jetzt nicht mehr zu lesen, sondern hinauszugeh’n, eh’ der pünktliche Graf Lana kommt. Das Klavier ist still; Melanie spielt nicht mehr. Versuchen wir, ob wir aus diesem Tag einen Glückstag machen!«
Er nahm feinen schwarzen Hut, der auf einem Gartentischchen stand, ging um die Ecke der Haustür, und stieg mit etwas unlustigen Knien, unterwegs einen Handschuh anziehend, die breite, teppichbelegte Treppe hinauf. Oben empfing ihn ein Diener in Livree, der ihn ohne weiteres zur Gräfin führte; sie erwartete ihn. Waldenburg trat mit großer Ehrerbietung ein und neigte schon an der Tür seine hohe Gestalt zu einer scherzhaft feierlichen Verbeugung vor der schönen Frau, die ihm entgegenkam. Erst als der Diener wieder verschwunden war, ging er vertraulich auf sie zu und küsste ihr mit der Zärtlichkeit eines alten Freundes die Hand.
»Ich habe Sie heute nur unter Menschen gesehen, liebe Melanie«, sagte er, in noch immer etwas geneigter Stellung, um nicht allzu hoch auf die zierliche Gestalt hinabzublicken. »Das war mir nicht genug; ich musste Sie allein sprechen – eh’ Ihr Haustyrann da ist.«
»Ah!« sagte die Gräfin und sah ihm klug forschend ins Gesicht. Sie hatte lebhafte, geistreiche Züge, zugleich aber war sie schön zu nennen: die noch unverwelkte Haut – obwohl die Frische der ersten Jugendblüte längst vergangen war – hatte den edlen Ton des Elfenbein, und lag über einem bewunderungswürdig feinen, aristokratischen Knochenbau, wie bei den zartesten Gestalten der griechischen Skulptur.
Die weiche Rundung der Formen drohte zu üppig zu werden: in diesem unentschiedenen Zustand des Übergangs wirkte sie aber umso verführender. Das braune, volle Haar wellte sich sehr reizvoll an den Schläfen; die Augen, fast von demselben Braun, schienen vor allem klug, verständig, lebendig, trat aber dieses geistige Feuer zurück, so entschleierte sich etwas Schmachtendes, Verlangendes, das auch mit der weichen Anmut aller Bewegungen inniger verwandt schien.
»Ich dachte, Sie brächten mir etwas«, entgegnete sie, wie enttäuscht.
»Ja, ja, ja, die Briefe!« sagte Waldenburg und hielt ihrem Blick möglichst gelassen Stand. »Ich habe mich also zunächst zu entschuldigen, dass Sie die verlangten Briefe noch nicht haben: sie sind leider noch unterwegs. Auf Ehre! Mein Sekretär soll es Ihnen auf der Stelle bestätigen!« —
Er trat durch die geöffnete Glastür auf einen Balkon hinaus, der sich über seiner eigenen Terrasse befand, und rief hinunter:
»Riedau!«
Riedau erschien sogleich auf der Terrasse; er verneigte sich gegen die Gräfin, die mit einiger Verwunderung über diesen Vorgang neben Waldenburg getreten war.
»Sie befehlen?« fragte er hinauf.
»Das kleine Packet mit den Briefen, Riedau!«
Der Sekretär wandte sich zur Gräfin:
»Ich bedaure sehr, Exzellenz«, sagte er untertänig, halblaut – »sie sind noch nicht hier. Ich habe einen ganzen Koffer mit allerlei Papieren, unter denen sich auch diese Briefe befinden, von Wien hierher geschickt, mit Wert-Angabe, sodass ein Verlust ganz unmöglich ist. Ich erwarte ihn jede Stunde!«
Die Gräfin erwiderte nichts.
»Sie können geh’n«, sagte Waldenburg.
Riedau verschwand wieder ins Haus, und Waldenburg trat mit der leicht erröteten Gräfin in den Salon zurück.
»Sehen Sie, so steht es!« sagte er.
Gräfin Melanie sah ihn mit dem gemischten Ausdruck von Verwunderung, Hochachtung, Furcht und Missmut an, mit dem sie ihn, seit sie ihn kannte, schon so manches Mal betrachtet hatte, und sagte, ihre weichen Hände ineinanderlegend:
»Merkwürdig, dass Sie diesem Menschen so ganz alles anvertrauen!«
»Dem Riedau?« fragte Waldenburg. »Das ist ein zuverlässiger Mensch; ein treuer Hund.«
»Meinen Sie! Ich finde das nicht in seinem Gesicht; wohl das Hündische, aber nicht das Treue.«
»Sie täuschen sich.·… Aber sagen Sie, Melanie: wozu wollen Sie auf einmal diese alten Briefe? Ich war stolz auf sie; sie gehören zu meinen glücklichsten Erinnerungen —«
Er bemerkte eine unfrohe Bewegung Melanies, die sich auf einen Divan gesetzt hatte, fuhr aber unerschüttert, wenn auch mit leiserer und zarter Stimme fort:
»Sie waren ein Schatz, diese Briefe, für den ich Ihnen ewig dankbar war, ewig dankbar sein werde. Weshalb fordern Sie ihn mir ab? Trauen Sie mir nicht?«
»Ich traue dem Zufall nicht«, entgegnete Melanie. »Dieser Koffer mit den ›allerlei Papieren‹ kann in böse Hände fallen; —kurz, ich will nicht, dass – —«
»Sie waren sonst nicht so ängstlich, meine teure Freundin. Seien Sie doch offen gegen mich – wie ich es gegen Sie bin. Sie wissen, ich belüge die ganze Welt, und – mit dem reinsten Vergnügen – sie verdient’s nicht besser – aber gegen Sie war ich immer so ehrlich und wahr wie die alte Sonne. Melanie, Sie sind – — Sie haben…«
»Was habe ich?«
»Ein – neues Gefühl«, sagte Waldenburg zögernd; »einen neuen Roman. Leugnen Sie doch nicht. Einen neuen Roman, der so ernsthaft ist, dass Sie von dem alten, wenn auch längst vergangenen, nichts mehr wissen wollen; dass Sie ihn auslöschen, wegwischen, vertilgen möchten – oder wenigstens jedes Denkmal, das an ihn erinnert. Das Weiche in Ihren Augen, dieser schräge Blick, dieses Zucken mit den Schultern, Ihr ganzes Wesen verrät mir’s, Melanie. Warum verbergen Sie’s vor dem alten Freund. Er ist nicht eifersüchtig; – oder wenn schon ein wenig – wie’s nicht anders sein kann – doch mit der nötigen philosophischen Resignation!«
Melanie seufzte leise.
»Sie sind zu klug«, sagte sie, gleichfalls resigniert. »Sie sehen den Menschen ins Herz. – Nun ja denn, ja denn – es ist so.«
»Und sehr ernst.«
»Und sehr ernst; ja!« gab sie ihm zurück. Dann blickte sie ihn an, und ihre Augen wanderten auf seinem Gesicht.
»Ich sag’ Ihnen aber nur noch eins: ›er‹ ist Ihnen in manchem ähnlich, auffallend ähnlich; hier und da sogar im Äußeren. Weiter sag’ ich nichts.«
»Also bescheid’ ich mich«, erwiderte Waldenburg, der ihr nun wie ein Vater gegenübersaß. »Ich hoffe, meine etwas leidenschaftliche Freundin ist vorsichtig: sie verrät sich nicht.«—
Sie warf den Kopf zurück.
»Der Graf weiß von nichts, ahnt nichts. Er würde uns beide töten, wenn er’s wüsste. In der Eifersucht ist er von einer wahrhaft spanischen Energie; bei seinem sonstigen grandiosen Phlegma.« —
»Wie reizend objektiv Sie darüber reden!« sagte Waldenburg heiter, mit seinem genießenden Schmunzeln.