Kitabı oku: «Adams Söhne», sayfa 9
Du schönes Fischermädchen,
Treibe den Kahn ans Land…
»Ah!« sagte er mit seinem klugen, kalten Freudelächeln. »Melanie hält Wort. Der harte Graf, scheint mir, ist weich geknetet; wir werden Exzellenz. – Riedau!«
»Sie wünschen?« fragte Riedau, der auf die Terrasse trat.
»Eine Flasche Champagner!«
»Für wen?« fragte Riedau verwundert, um den leeren Tisch blickend.
»Hansnarr, für mich«, antwortete Waldenburg.
Riedau ging, seine Schultern zuckten, als hätte sie ein Schlag getroffen. Waldenburg bemerkte es, mit heiterem Vergnügen. Er blies dem ›Sklaven‹ eine Wolke aus seiner Zigarre nach und summte zwischen den Lippen: »Vogue la galère!«
VIII. Kapitel
Das Wetter war andauernd schön; auch der folgende Tag zog rein und golden herauf, und wanderte, von leichten, sammetweichen Sommerwolken begleitet, reisend über Berg und Tal. Die vier Gäste der ›Gemse‹ verlebten ihn gemeinsam; Saltner, der in seine Einsamkeit zurückgestrebt hatte, ließ sich durch die Bitten der beiden Wittekind halten, zumal durch Bertholds warmen, dringenden Eifer, der sein Herz erfreute. Den Jüngling zog etwas Geheimnisvolles an dem ›Alten vom Berge‹ an, seine Mosesaugen, wie Berthold sie bei sich nannte, der tiefe, sinnende, viel verschweigende, zuweilen schwärmerisch aufleuchtende Blick, der so viel Verwandtes in der jungen Seele berührte. Wie gern hätte er ihm alles abgefragt, was sich hinter dieser faltigen Stirn zu verbergen schien; ›wie viel Rätsel‹, dachte er, ›möchten da seiner unerfahrenen Jugend gelüftet und gelöst werden‹. Indessen musste er nun schon zufrieden sein, ihm nah zu bleiben, ihn oft still zu betrachten; denn redselig war der Alte nicht, noch weniger als gestern. Die Anwesenheit Dorsays mochte ihn zurückhaltender machen; diesen sah er zuweilen über die Schulter wie etwas Fragwürdiges misslaunig an, während er für das ›feine G’frieserl‹ des jungen Schwärmers zutrauliche, sonnige Blicke hatte. In den kühleren Morgenstunden waren die vier miteinander in die Berge gewandert; Mittag und Nachmittag versaßen sie im Garten und im ›Salettl‹, zumeist um das Schachbrett versammelt; denn es fand sich, dass auch Dorsay diesem edlen Spiel sehr ergeben war, und in den verschiedensten Gruppen kämpften sie gegeneinander. Die heut’ etwas bleiche Kathi, die oft ab und zu ging, triumphierte im Stillen: denn Eugen war der Stärkste, er besiegte seine Gegner einen nach dem andern. Seine flackernde Phantasie überraschte plötzlich durch kühne, fast geniale Kombinationen, denen die etwas schwerfällige Verteidigung der Alten und Bertholds Zerstreutheit nicht gewachsen war. Auch wenn ihrer zwei sich zusammentaten, setzte er sie matt. Kathi verstand das Spiel nicht; aber sie las von Eugens beweglichem Gesicht seine glücklichen Einfälle, seine Fortschritte, seine Siege ab, und es freute sie. Ihre einzige Kränkung war, dass er, ganz in sein Spiel vertieft – und überhaupt heute so gefasst und ruhig, wie er gestern aufgeregt, fiebernd, überwallend gewesen – von ihrer kleinen Gestalt so wenig Bewusstsein hatte; er sah zuweilen durch sie hindurch, wie es schien, ohne sie zu seh’n; nur manchmal flog ihr ein Blick zu, ein halbverstohlener, wie ein Sonnenstrahl, dass auf ihren Wangen plötzlich Rosen blühten und ihr warm ums Herz ward, wärmer, als es wollte und sollte.
Als die Sonne hinter die Waldberge im Nordwesten sank, waren nur noch zwei von den Kämpfern im ›Salettl‹ zurückgeblieben: Berthold versuchte ein letztes Mal, Dorsay um den Sieg zu bringen, eh’ er nach Salzburg abführe, um den ›Weltverbesserer‹ Afinger zu besuchen. Von seinem Vater hatte er sich für diese Abendstunden schon verabschiedet; vor elf Uhr Nachts wollte er zurück sein. Die kleinen Holzfiguren auf dem schwarzweißen Brett hielten ihn noch fest. Sein Kopf war erhitzt vom Spiel; Dorsay war bleich und schien· ruhig. Nicht weit vom Tische, zwischen ihnen, stand Kathi und sah, wie man denken musste, sehr andächtig zu.
Dorsays Augen ruhten fort und fort auf dem Schachbrett; er spielte nur mit seinem schönen, lichtbraunen Schnurrbart, von der Welt sah er nichts. Plötzlich sagte Kathi, sich zu Berthold wendend:
»Also Sie wollen uns untreu werden, Herr Wittekind, wollen uns verlassen?«
»O nein, Kathi, das nicht«, antwortete Berthold und blickte mit all seiner warmen Freundlichkeit zu ihr auf. »Noch bleiben wir hier. Nur nach Salzburg fahr’ ich; komm’ noch heute wieder.«
»Könnt’ ich doch mit Ihnen fahren!« sagte das Mädchen.
Berthold lächelte vor Überraschung und Freude, und der Bauer, den er eben ziehen wollte, glitt ihm aus den Fingern. Warum sagte sie das? Sie hatte ihn bisher nur so gleichmütig wie ein Bild betrachtet, auf seine herzlichen Worte und Blicke wenig Acht gegeben; und dem guten Jungen hatte dieses reizende Alpenröschen es doch angetan.
Er sah sie so gern; ihr hurtiger Gang, ihr Lachen, das unschuldige Feuer in ihren rehbraunen Augen war Poesie für ihn; er fühlte sich reif, Verse auf sie zu machen…
»Warum möchten Sie mitfahren?« fragte er; die vier Worte machten ihm Mühe.
»Nu, mich würd’s halt freu’n!« erwiderte sie, mit einer Hand in die andre klopfend. »Salzburg hab’ ich gern, und – —«
Berthold versuchte zu scherzen:
»Mich aber nicht?«
»Und Sie auch. Warum nicht? Sie muss man ja gern haben…«
Sie lächelte:
»Der Herr von Saltner sagt’s ja, und der ist mir wie’s Evangelium. Und die Gutheit schaut Ihnen ja aus den Augen heraus … O, ich möcht’ schon mit!«
Nachdem die arme kleine Heuchlerin dies mit einiger Anstrengung hervorgebracht hatte, holte sie lange Atem und schwieg. Aus einem Winkel ihres Auges sah sie wie von ungefähr auf Dorsay, den hartnäckigen Schweiger, den sie mit ihren kindlichen Evas-Künsten aus seiner Abwesenheit, seinem kalten Gleichmut aufstören wollte. Der schien nichts zu merken. Er wartete, wie versteinert, auf Bertholds Zug und tat dann den seinen. Kathi zitterte. Sie hätte wohl weinen mögen. Die Knie leise hin und her bewegend – irgendwas musste sie tun – schloss sie die Augen und öffnete die Lippen.
»Sie haben in Ihr Verderben gezogen, wissen Sie das?« sagte Eugen, ohne aufzublicken.
Berthold nickte. Er sah eben ein, dass er vor Freude über Kathis Reden den dümmsten Zug gemacht hatte, den er machen konnte; – aber es tat ihm nichts. Er wieder holte sich in Gedanken: ›Sie muss man ja gern haben.‹ Was lag ihm noch an dem Spiel?
Auf einmal hob Dorsay den Arm, der auf seinen Knien geruht hatte, und noch immer die Augen auf das Brett geheftet, ohne zu sprechen, griff er in die Luft und fasste Kathis Handgelenk. Sie riss die Augen auf, als erschräke sie. Er umspannte das Gelenk und drückte es, immer stumm. Eine flammende Freude fuhr dem armen Kind in die Wangen. Sie zitterte wieder, aber gern, mit leise zuckenden Fingern.
So stand sie da, bis seine Hand sie losließ. Wo waren Berthold und Salzburg? Sie dachte nicht mehr daran; sie hatte vergessen, wovon sie gesprochen hatte. Den Kopf zur Seite geneigt schien sie dann zu horchen, als hätte man sie gerufen; mit einer plötzlichen Bewegung, wie ein Reh, sprang sie davon und ins Haus hinein.
Verwirrt sah Berthold ihr nach. Was war ihr gescheh’n? – Er wollte lächeln, wollte ihr scherzend nachrufen: ›Nun, wie wird’s mit Salzburg?‹ Aber die Worte kamen ihm nicht aus der Kehle, und das Lächeln misslang.
Schwerfällig, langsam, wie aus einem tiefen Abgrund stieg eine Ahnung in ihm auf, dass es sich um diesen andern da gehandelt, dass Kathi mit ihm gespielt habe. Er sah Eugen forschend an. Der jedoch blieb ruhig. Nach einer Weile hob er nur eine Hand und deutete mit einer müden Bewegung auf das Spiel.
»Was soll ich noch weiter zieh’n?« sagte Berthold, dem die Stimme ein wenig zitterte. »Mit dem – verrückten Zug vorhin hab’ ich’s ja verspielt. In drei oder vier Zügen wäre ich ja matt.«
»In zweien!« entgegnete Dorsay.
»Also gut, in zweien. Ich geb’ es auf – und ich muss zur Bahn. Es ist hohe Zeit. Für heute leben Sie wohl!«
»Auf Wiederseh’n«, sagte Dorsay mit seinem harmlosesten Lächeln, und stand auf. Die feine schlanke Gestalt, der des Berthold ähnlich, nur ein wenig höher und durch einen vornehmeren Schneider vorteilhafter hervorgehoben, schien sich leise wie in einem heimlich genossenen Triumph zu wiegen; wenigstens erschien es so in Bertholds erregten, eifersüchtigen Augen. Zum ersten Mal empfand seine reine Seele so ein unschönes, stacheliges Gefühl. Um wen? Um eine Kathi. Er verachtete sich. Er war im Begriff, aus Missmut über sich selbst auf den Boden zu stampfen; das missfiel ihm dann auch wieder, er bezwang sich und rührte kein Glied.
»Leben Sie wohl!« sagte er noch einmal und griff an die Mütze. Darauf trat er hinaus und ging die Straße hinab.
Durch das Städtchen kam er an die Bahn, die nach Salzburg führte; es währte nicht viel mehr als eine halbe Stunde, bis der Zug dort anlangte. Er hatte sich unterwegs des ›heiligen Georg‹, der Bäume von Anif, des ganzen Gesprächs mit Afinger erinnert und darüber Dorsay und Kathi vergessen; mit der glücklichen Beweglichkeit der Jugend war er wieder seinen Lieblingsträumen hingegeben und hoffte bei diesem ›Mann aus dem Volk‹ warmherzige, gleichgesinnte Jünglinge zu finden, an deren Begeisterung er die seine stärken, vor denen er seine Ideen in all ihrer Überschwänglichkeit frei entwickeln könne. Nach einigem Fehlgehen in den Salzburger Gassen fand er das alte Tor, das in die Vorstadt am Kapuzinerberg, auf dessen Nordseite, hinausführte. Die Häuserreihe lichtete sich; dem Berg gegenüber, zwischen zwei andern, stand das kleine, schmucklose, aber reinliche Haus, das Afinger ihm bezeichnet hatte. Er trat ein und stieg eine schmale Holztreppe hinan, die in den oberen Stock führte. Hier war an eine Tür mit Kreide ›Afinger‹ geschrieben, und irgendein Spaßvogel hatte darunter eine Karikatur, einen birnenförmigen Kopf mit übergroßer Nase, gezeichnet. Berthold zog die Glocke. Es dauerte aber eine Weile, eh’ jemand erschien. Er wollte zum zweiten Mal läuten, als er Schritte hörte; die Tür ward geöffnet, Afinger selbst stand dahinter.
Das erste Gefühl Bertholds kam einer Enttäuschung gleich; in seiner so gern vergoldenden Phantasie war Afingers Erscheinung, ohne dass er es wusste, veredelt, verschönert worden; der junge Mann kam ihm heute plebejischer, derber vor; seine Züge abstoßender, härter. Einen Augenblick stutzte er; dann überwand er diese ›unedle Regung‹, wie er sie bei sich nannte: musste denn ein Volksmann, ein ›Stiefkind der Gesellschaft‹ schön und gefällig sein? Er bot ihm treuherzig die Hand.
»Da bin ich«, sagte er; »wenn ich Sie nicht störe. Sie seh’n, ich halte Wort.«
»Hab’s auch von Ihnen nicht anders erwartet!« erwiderte Afinger mit kräftigem Händedruck. Er trug eine Art von Hauswams, das ihm sonst nicht übel stand, aber die kurze und breite Gestalt fast noch breiter machte. Die Haare hingen ihm wieder strähnig in die mächtige Stirn herein.
Er lächelte, nicht unangenehm:
»Meine Visitenkarte oder meine ›Firma‹ haben Sie wohl draußen geseh’n. Das hat der Gräser hingemalt, einer meiner Kollegen. Ich lass’ es steh’n, es sieht so außerordentlich harmlos aus; die Leute kommen umso weniger aus den Gedanken, dass hier ein ›böser Mensch‹, ein ›Revolutionär‹ wohnt. … Übrigens dank’ ich Ihnen sehr, dass Sie gekommen sind. Bitte, treten Sie ein!«
Sie standen in einem kleinen Raum, einer Küche, die aber jetzt ihren Zwecken offenbar nicht diente; es war kaum etwas darin zu seh’n, als ein paar Kisten, ein Koffer und ein Sessel, der dreibeinig an der Wand lehnte. Von einem geräumigen Hof fiel das nötige Licht herein.
»Dies ist mein Vorzimmer, wie Sie seh’n«, sagte Afinger. »Das ist nützlich und notwendig: sonst könnten wir da drin in meinem Zimmer unsre Stimmen nicht loslassen, ohne dass man’s auf dem Flur oder der Treppe hört. Besonders der Metzner mit seinem Wachtmeisterbass —«
Die Tür zur Wohnstube ward aufgerissen, eine auffallende Gestalt erschien in der Öffnung: ein breiter, kurzhaariger Kopf mit dunklem Vollbart, der das halbe Gesicht bedeckte, auf einem nicht sehr großen, aber mächtig entwickelten Körper, an dem alles Muskel und Kraft zu sein schien. Es war ein noch junger Mann, mit etwas finsterem Ausdruck im Gesicht, eine kurze Pfeife in der rötlich leuchtenden Hand.
»Nu, wo bleibst so lange?« fragte er laut, mit einer Stimme, in welcher Berthold sofort den ›Wachtmeisterbass‹ zu erkennen glaubte. Als er dann aber den Fremden, den Berthold, sah, drückte er stumm die Augen zusammen, um ihn scharf zu betrachten; legte den Kopf etwas zurück, lächelte ein wenig, und machte plötzlich eine Art von Verbeugung, tiefer und höflicher, als Berthold erwartet hatte.
»Mach’ Platz«, sagte Afinger kurz. Der andre wich aus, und sie traten ins Wohnzimmer ein. Hier hatte sich schon ein leichter, bläulicher Nebel von Tabaksrauch ausgebreitet; durch diesen Schleier sah Berthold zunächst ein bleiches, junges, von schwachem Bart und Haar blond umrahmtes Gesicht, das, eine Zigarre zwischen den Zähnen, hinter einem Tisch hervor ihn neugierig anstarrte. Auf dem Tisch lagen Bücher, Zeitungen, sonst nichts. An den getünchten Wänden hingen in schwarzen Rahmen Ansichten von Städten, einfache Holzschnitte und Lithographien; auch ein paar harmlose Familien-Gruppenbilder und die Photographie einer alten Frau; nichts was an den Weltverbesserer und Umsturzmenschen erinnerte, außer einem Bild Lassalles, wie er, die rote Fahne schwingend, den Geldsack, das Symbol des ›Kapitals‹, mit dem Fuß niedertritt.
»Nun, seht ihn euch an«, sagte Afinger trocken. »Hab’ ich euch zu viel gesagt? Ist das ein junger Sankt Georg, oder nicht? – Es ist schön von Ihnen, Herr Wittekind, dass Sie gekommen sind; nehmen Sie nun Platz. Dieser Kraftmensch mit dem Bass heißt Metzner; der hinter dem Tisch Grabowski. Wir sind nur unser drei, wie Sie seh’n; ein vierter Mann wird wohl später noch kommen; – kurz, ‘ne kleine ›Gruppe‹. Aber eine gute. Wir wissen, was wir wollen, und wir werden auch etwas tun. So, wie wir da sitzen, kommen wir oft zusammen, nach dem Tagewerk; meist hier bei mir. Da reden wir dann und rauchen – aber ohne zu saufen, wie die Herren Studenten; seh’n Sie, auf dem Tisch kein Glas und keine Flasche. Da sind wir Ihnen wohl zu nüchtern? Da lachen Sie uns wohl aus?«
Berthold schüttelte den Kopf. Metzner, der auf seinem Stuhl ritt, verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln und sagte:
»Wir trinken nur Blut!«
»F – F – Fürstenblut, meint er«, stotterte der Jüngere, der Bleiche, ohne den ernsthaft-heitern Ausdruck seines unbedeutenden Gesichtes zu verändern.
»Ja, und allerlei ähnliches!« setzte Metzner hinzu.
»Lasst doch eure Späße«, sagte Afinger, den dieses Dazwischenreden zu verdrießen schien. »Ihr macht ja den Herrn kopfscheu, eh’ er uns kennenlernt.«
»F— F— Fürstenblut…«
»Stoßen Sie sich nicht an solchen Redensarten, Herr Wittekind; ebenso wenig, wie an Grabowskis schwerer Zunge: das eine wie das andere ist nur Nebensache. Wir sitzen hier nicht wie große Kinder und berauschen uns in Blut; wir sind sehr ernst bei der Sache, und bedenken alles; – nu, kommt es zuletzt bis ans Blut, weil’s nicht anders geht, dann werden auch wir unsern Mann steh’n! Das ist abgemacht! – Herr Wittekind, unser Wahlspruch ist: ›Alles für die Enterbten!‹ Sie stimmen mir darin zu … Das wollen die ›Erben‹ nicht – natürlich – , die, die alles haben; die mit dem Schwert und dem Zepter: darum verfolgen sie uns, spüren uns nach, gönnen uns den Tag nicht, jagen uns in die Mauslöcher, wie die ersten Christen. Denn seh’n Sie, Herr Wittekind: die ersten Christen – was waren die denn anders, als wir? Leute aus dem Volk, die die verderbte Welt anders machen, reinigen, umkehren wollten, dass das Höchste zuunterst käme; die alle gleich machen wollten und wie Brüder leben; die keine Sklaven wollten, keine Peiniger, und auch keine Tyrannen, die sich für Götter hielten; – alles, Herr, wie wir! – Und wie ging es ihnen? Wie Hunde wurden sie verachtet von den hochnasigen Römern, wie ›Feinde der Menschheit‹ gehasst, getreten, verfolgt; wie lichtscheue Eulen mussten sie sich in ihren Höhlen versammeln, sich durch Zeichen versteh’n, sich so nach und nach in kleinen Gruppen und Häuflein zusammenfinden, bis sie Haufen und Massen wurden; – alles, Herr, wie wir! – Von ihren Glaubensartikeln red’ ich nicht: das war damals; jetzt sind andere Zeiten. Aber sie wollten freie, gleiche Brüder sein, und sie wurden verfolgt – und sie haben gesiegt. Herr, sie haben gesiegt! Und wir werden auch siegen! Wir werden auch aus unsern Höhlen hervorkriechen, und eines schönen Tages wird die Welt unser sein!«
»Das können Sie glauben, Herr«, sagte Metzner, seine riesigen Arme dehnend; »locker lassen wir nicht!«
Berthold betrachtete einen nach dem andern. Die Beredsamkeit Afingers hatte ihn erregt und mit fortgerissen; Metzners Stimme und Gebärden und das sonderbar öde, leblose Gesicht des dritten weckten aber in ihm einen Widerspruch, der fast wie Widerwillen aussah.
»Wird die Welt unser sein«, wiederholte er endlich. »Wir, sagen Sie. Wer seid ihr? Wer ist mit euch? Wie heißt ihr?«
»Wie wir heißen?« fragte Afinger.
»Ja. Ich meine: als Partei, als Masse – was für eine Fahne ihr tragt? Wie ihr euch nennt?«
Grabowski wollte antworten, er kämpfte aber mit dem ersten Buchstaben, und Afinger winkte ihm ungeduldig, dass er noch schweigen solle.
»Wie wir uns nennen?« entgegnete der Mechaniker, mit den Achseln zuckend, als käme nichts darauf an. »Das ist einerlei. Der eine kommt mit diesem Namen, der andre mit dem; mir gefallen sie alle nicht. Ich schwöre auch zu keinem. ›Partei‹ … Eine feste Partei, lieber Herr, sind wir nicht. So wie die andern nicht. Davon fabeln nur die da draußen, die uns nicht kennen, die nichts von der Sache versteh’n. Wir haben keinen Ausschuss, kein Zentralorgan, kein Exekutivkomitee, nichts von alledem. Darum sind wir auch nicht zu fassen; man kann uns den Kopf nicht nehmen, denn wir haben keinen. Wir sind nur eine lange, lose Kette von vielen Gliedern; und das Glied ist die ›Gruppe‹!«
»Und was heißt das: Gruppe?«
»Das will ich Ihnen sagen; warum nicht. Nehmen Sie an, irgendeiner hat ein Herz für die Sache, hat allerlei gehört, gelesen (Afinger deutete auf die Flugschriften und Zeitungen, die den Tisch bedeckten), aber an seinem Ort steht er noch allein; oder er war schon bei einer ›Gruppe‹, wie ich, kommt aber an einen andern Ort, so wie ich nach Salzburg; – was tut er? Er spürt unter seinen Bekannten Gleichgesinnte heraus, oder entdeckt sonst diesen oder jenen; er ladet sie zu sich ein, sie tauschen ihre Meinungen aus, besprechen sich, es werden regelmäßige Zusammenkünfte daraus, Verabredungen, gemeinsame Beschlüsse; – eine neue Gruppe ist fertig. Gibt sie sich nun damit zufrieden? Nein, das natürlich nicht. Jedes Mitglied der Gruppe bemüht sich, der Vater einer neuen zu werden, neue Leute zu gewinnen, zu schulen, um sich zu versammeln. So dehnt die Sache in aller Stille sich aus; wie sich in einem Wespennest Zelle an Zelle anbaut, so hängt sich Gruppe an Gruppe. Kommt einmal ein Verräter, ein Polizeilump hinein, das ist dann nicht so schlimm: er weiß nicht viel mehr, als von seiner Gruppe, oder höchstens von zweien; die kann er in des Teufels Küche bringen, aber das Ganze nicht. Der Organismus, der ist nicht zu packen. Der geht durch Feuer und Wasser, zwischen Kugel und Beil hindurch, bis er endlich siegt!«
»Und was hat er dann, wenn er siegt?« fragte Bert hold. »Was will er?«
»A – a – alles«, antwortete Grabowski.
Berthold lächelte:
»Das ist leicht gesagt! – Und wie erreicht er das? Sie, meine Herren, als eine von diesen ›Gruppen‹, mit was für Mitteln wollen Sie denn kämpfen? Zu was sind Sie entschlossen?«
»Zu a – a – allem«, entgegnete Grabowski mit derselben Ruhe.
Berthold trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Irgendein wilder Ausbruch hätte ihn nicht befremdet oder abgestoßen; aber dieser unbewegliche Gleichmut auf dem schläfrig blassen Gesicht weckte in ihm ein widriges Gefühl. Es durchfuhr ihn der Gedanke, ob er nicht lieber ginge. Afinger, der ihn aus dem Winkel des Auges beobachtete, hatte seine Bewegung bemerkt. Einen Schritt näher tretend lächelte er Berthold so gemütlich an, wie es seinem eckigen, knochigen Gesicht gelingen wollte.
»Nehmen Sie nicht zu schwer«, sagte er, »was Grabowski spricht. Der ist Schriftsetzer, und die gewöhnen sich so gern an die großen Worte. Urteilen Sie noch nicht ab, Herr Wittekind, lernen Sie uns versteh’n!«
Metzner brummte etwas in seinen dichten Bart; Afingers diplomatisches Vorgehen schien ihm nicht zu gefallen. Der hinter dem Tisch war still.
»Ich glaube Sie sehr gut zu versteh’n«, antwortete Berthold, dem in dieser fremden, sonderbaren Luft schwül zu werden begann. »Alles, was ist, soll zugrunde geh’n; das ist Ihre Meinung!«
»Wir wollen nur den großen Drachen töten«, entgegnete Afinger, und setzte lächelnd hinzu: »Sankt Georg! Sankt Georg! – Was für die alten Christen der Antichrist war, das ist uns dieser Drache … Darum sollten auch, wie bei den alten Christen, alle Stände mittun, Leute von jeder Art, von jedem Rang, von jedem Geschlecht; – wie’s die Russen machen! Und darum freut’ ich mich, als ich Sie bei dem Wald da fand; als ich Sie sagen hörte: alle sollen gleich sein. Seh’n Sie, der Muskelmann da, der Metzner, ist Zimmermaler; Sie sind Student; einer, der noch kommen wird, ist Sekretär bei einem großen Tier, und durch alle Schulen gelaufen. Ich bin übrigens auch nicht von Pappe: ich spreche Englisch und Spanisch, denn ich hab’ ein paar Jahre in Nord- und Südamerika gelebt. Wenn wir uns gegenseitig unter die Stirnschale seh’n, so finden wir, dass wir alle denkende, strebende, für die große Sache begeisterte Mannsleute sind; und über das Wie und Wo kommen wir wohl zusammen!«
Ein kurzes Läuten, das sich zweimal wiederholte, fiel ihm in die Rede.
»Das ist Riedau!« sagte er und ging hinaus.
Nach wenigen Augenblicken kam er mit Waldenburgs Sekretär zurück; ein Berthold überraschender Anblick: denn dieser auffallend gut gekleidete junge Mann mit den sinnlichen Lippen und dem weltklugen Spürblick – der schon im Eintreten umheräugelte – schien ihm zu dieser Gesellschaft nicht so recht zu passen. Riedau mochte sich über Bertholds Erscheinung ebenso verwundern. Er stellte seinen Hut auf ein rundes Tischchen bei der Tür, warf seine Handschuhe hinein, und betrachtete unterdessen den schönen Jüngling von oben bis unten und von unten hinauf.
»Herr Wittekind, Herr Riedau«, sagte Afinger kurz. »Mein Freund Riedau von Wien: denn da unten in Wien haben wir uns gefunden. Er reist hier jetzt nur durch —«
»Und morgen Vormittag reisen wir schon ab«, setzte Riedau hinzu.
Afinger drückte ihn auf einen Stuhl nieder und nahm wieder das Wort:
»Gegenwärtig nämlich hat er sich verkauft, als Schreibehand, an einen großen Geheimerat —«
»Eine große Canaille«, ergänzte Riedau, indem er sich eine Zigarette drehte.
Berthold lächelte, ohne zu ahnen, von welchem Geheimerat die Rede war. Seine Augen irrten über den Tisch, er las die Aufschriften der Flugblätter: ›An die Hungrigen und Nackten‹, ›An die Arbeiter im Soldatenrock‹, ›Proletarier aller Länder, vereinigt euch‹; er flog über die Zeitschriften hin, den ›Vorboten‹, die ›Zukunft‹, die ›Freiheit‹, den ›Rebell‹ und noch andere mehr.
»Die hält alle der Afinger«, sagte Riedau, der seinen Augen folgte. »Ja, den kennen Sie nicht: der isst nicht, der trinkt nicht, der nährt sich von Zeitungen und Broschüren; nur von verbotenen, natürlich. Dafür verbraucht er sein Geld; opfert sich für alle. Nun, ich kann Ihnen sagen, er hat auch was davon: denn wir achten und bewundern ihn, wir, die wir ihn kennen. Ich halte mich auch für einen ganzen Kerl; aber vor diesem Afinger bin ich eine hohle Nuss. Wenn der mir sagt: Riedau, die Sache will es, spring’ in die Salzach, oder vergifte deinen Geheimerat, oder erschieß’ den Kaiser – ich frag’ weiter nicht, ich tu’s!«
Afinger erwiderte nichts; er blickte nur, wie zufällig, auf Berthold, was für ein Gesicht der zu dieser Lobrede und ihrer Nutzanwendung mache. Dem unschuldigen Jüngling schien sie zu gefallen; denn er sah den Mechaniker nun auch mit wärmeren Augen an.
»Was hilft das alles!« rief der seine kurzen Haare durchwühlende Messner aus. »Wir brauchen große Männer! Mordskerle! Die draufgeh’n und grade durch!«
Afinger verzog das Gesicht; dann glättete er es zu einer schlicht bescheidenen Miene und erwiderte:
»Große Männer … Wir brauchen nicht große Männer, mein’ ich, sondern reine Männer; untadelhafte, mein’ ich, selbstlose, und mit reinen Händen. Wo findet man das bei den großen Männern? Der englische Lord, der auch ein Umsturzmann war, der Byron, wie sagt der in seinem Gedicht auf Napoleon? Es sind große Worte:
Ein Name – Washington! – ist rein;
Erröte, Menschheit! – er allein!
Na, und jetzt? All die Weltverbesserer, die uns führen wollen – was sind sie? Da hängt Lassalle; noch der einzige, den man rühmen kann, vor dem ich Respekt habe; aber – war ihm ganz zu trauen? Wenn man ihn in diesem Weiberduell nicht erschossen hätte, wär’ er bei der Sache geblieben, wär’ er treu geblieben? Eines Tages hätt' er sich wieder an eine Schürze gehängt, oder an irgendeinen klugen großen Mann verkauft … Geht mir mit euren ›Mordskerlen‹! Wir werden es schon machen; wir, die ›Kleinen‹, das Volk. So war’s bei den alten Christen – und so wird es wieder. Wir finden schon unsern Weg!«
»Den Weg, den Rudolf Afinger geht, den geh’ ich auch!« sagte Riedau, und warf den Rest seiner Zigarette gegen die Ofentür. »Geht nur dem Afinger nach!«
»Reden wir nicht von mir«, nahm dieser wieder das Wort, bescheiden vor sich hinblickend; »ich will nur so viel sagen: ich weiß, worauf es ankommt, denn ich hab’ was erlebt! Der Reichtum muss aus der Welt, denn von dem kommt alles: der trennt nicht nur Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Schwelger und Hungerer, der macht auch Menschen zu Teufeln! Der macht Müßiggänger, Müßiggang macht üppig, geil, leichtfertig, geckenhaft; endlich ist so ein eleganter, geschniegelter, glatthäutiger, parfümierter, cajolierender Wüstling fertig – und die Mädels aus dem Volk, unsre Schwestern, diese lieben Gänschen, die der schöne Schein verrückt macht, fallen dem Kerl an den Hals, fallen ihm zum Opfer! – So ist es meiner Schwester ergangen, Herr Wittekind: ja, ja, reißen Sie die Augen nur auf. Meiner einzigen. Und sie ist hin geworden – ins Wasser gegangen, mein’ ich; denn sie hatte Ehre im Leibe – und ich hab’ diesen Kerl nicht einmal töten können, er hat sich davongemacht, er ist mir entkommen!«
»Hätten Sie ihn getötet?« fragte Berthold bewegt.
»Hätten Sie’s nicht getan?« fragte der andre trocken zurück.
Berthold lief dieser trockene, harte Ton wie ein leichter Schauder über die Haut; er entgegnete jedoch:
»Ja, ich hätt’s getan.«
»Nu also! Selbstverstand!« sagte Afinger, mit einem geöffneten Taschenmesser durch eine der Zeitungen fahrend.
»Man muss sie t—t–totschlagen! Alle!« stotterte Grabowski.
»Nu, das meint ich ja«, setzte Metzner hinzu. »Und wer richtig anfangen will, fängt von oben an; fallen die zuerst, dann purzeln die andern nach! – Was sagen Sie dazu, Herr?« wandte er sich an Berthold. »Sie machen schon wieder so ein frommes, bedenkliches Gesicht. Sie sagen noch immer nichts. Wollen Sie den Pelz nicht nassmachen? Sind Sie mit Ihrem sogenannten Sankt Georgs-Gesicht doch ein Aristokrat?«
»Ich? – Was soll ich sagen?« erwiderte Berthold verwirrt. Er fühlte sich schon zum dritten Mal heiß und kalt angeweht; er wusste nicht: war er unter Schwärmer oder Räuber und Mörder geraten…
Sein junger Kopf, wie betäubt, fand seinen Weg nicht mehr. Einen hilflosen, gleichsam fragenden Blick auf Riedau werfend, der ihn mit sonderbarem Lächeln betrachtete, schüttelte er endlich stumm den Kopf.
»Lasst ihn geh’n«, sagte Afinger. »Er wird schon nach und nach einseh’n, wie wir’s meinen. Dieser Metzner ist immer wie ein Stier auf das rote Tuch! Herr Wittekind hat ein Herz, wie Ihr alle nicht, er ist auf dem guten Weg – aber er ist jung. Hab’ ich Recht, Riedau, oder nicht?«
Riedau war aufgestanden und nahm seinen Hut.
»Freilich haben Sie Recht«, sagte er, als verstünde sich das von selbst. »Alles braucht seine Zeit! – Aber ich muss fort. Die Canaille erwartet mich. Bleiben Sie in Salzburg, Herr Wittekind, oder wollen Sie wieder fort?«
»Ich muss wieder fort«, antwortete Berthold, den alle diese Reden umschwirrten, verstörten, er verlor die Fassung.
Wie anders hatte er sich diese Stunde gedacht: seine schwärmerischen Ideen hatte er hier begeistert ausströmen wollen; nun war er mit wilden, halbtollen Reden überschüttet worden, und ward ausgefragt wie ein Gymnasiast. —
»Ja, ich muss wieder fort«, wiederholte er. »Mit dem letzten Zug, gegen Süden.«
»Dann wird es Zeit«, sagte Riedau, indem er nach der Uhr sah. »Also – geh’n Sie mit?«
»Ja, ich gehe mit«, antwortete Berthold rasch. Er nahm sich zusammen: »Sie entschuldigen mich, Herr Afinger. Meine Zeit ist um. Über die Fragen, die man hier an mich richtet, kann ich mich nicht mehr aussprechen; – nicht als ob ich den Mut nicht hätte, meine Meinung zu sagen —«
»Aber was reden Sie«, fiel ihm Afinger ins Wort. »Dass es Ihnen am Mut der Überzeugung nicht fehlt, das steht Ihnen ja auf dem Gesicht. Wir werden uns noch versteh’n; kommen Sie nur wieder. Lassen Sie nicht nach. Denken Sie: die gute Sache!«
»Wenn ich noch kann, werd’ ich wiederkommen —«
»Und sagen Sie nicht zu andern«, rief Metzner dazwischen, »was Sie hier gehört haben!«
Berthold erglühte bis zur Stirn hinauf; er zuckte, und warf dem Maler einen Blick zu, der diesen fast verblüffte.
Dann sagte er, nach Worten ringend:
»Ich sollte – –? Wie können Sie —«
Afinger legte ihm eine seiner schweren Hände auf den Arm:
»Lassen Sie’s gut sein! Verteidigen Sie sich nicht; verschwenden Sie keine Worte an den alten Kindskopf. Wir glauben Ihnen ohne Schwur, dass Sie kein Spitzel sind, und auch kein altes Weib. Geben Sie mir die Hand; wir kommen doch noch zusammen. In Ihnen steckt’s· – Gute Nacht! – —«
Berthold war draußen, fand sich auf der Straße, er wusste nicht, wie; in seinem Kopf dunkelte es, seine Schläfen brannten. Die frische, wehende Nachtluft gab ihm allmählich Sinn und Leben wieder. Vom nördlichen Abhang des Kapuzinerbergs kam eine feuchtliche Kühle, die er mit unbewusster Begierde einsog, die ihm einen Nebel von den Augen zog. Er sah die sich leise wiegende Gestalt Riedaus neben sich hergeh’n; er glaubte ihn sogar leise lachen zu hören.