Kitabı oku: «Das Tour-Tagebuch des frommen Chaoten», sayfa 2
Freitag, 10. September
Heute Morgen rief Leonard Thynn im Büro an, hat mich schier umgehauen. Er sagt, er hat eine Freundin! Nicht zu fassen! Fragte ihn, wie sie heiße.
»Sie heißt Angels Twitten«, sagte Leonard, der sich schon lange nicht mehr so aufgeregt angehört hat. »Also, wenn wir heiraten, dann heiße ich Leonard Twitten, oder?«
»Nein, Leonard, normalerweise nimmt die Frau den Namen des Mannes an. Also, wenn ihr heiraten würdet, hieße sie …«
»Leonard Twitten?«
»Nein, die Frau behält ihren Vornamen, übernimmt aber den Nachnamen des Mannes. Verstehst du?«
»Ach, jetzt kapiere ich. Das wusste ich nicht. Ja, ich verstehe.« Kurze Pause, während die Zahnräder in seinem Hirn leise surrten.
»Adrian, ich hab’s jetzt verstanden, aber – wie soll ich denn ohne Nachnamen auskommen?«
Umklammerte den Hörer fester.
»Nein, Leonard, du hast überhaupt nichts verstanden. Du behältst doch deinen Nachnamen.«
»Aber du sagtest doch gerade, die Frau übernimmt ihn.«
»Ja, ich weiß, aber ich meinte doch nicht – hör mal, ist es nicht sowieso noch ein bisschen früh, um ans Heiraten zu denken, Leonard? Du kennst die Dame doch bestimmt noch gar nicht so lange. Seid ihr schon mal – du weißt schon – ausgegangen und so?«
»Klar, wir haben gestern Abend ‘ne Riesensause gemacht.«
»Was habt ihr denn unternommen – was Besonderes?«
»Ja, wir hatten wirklich einen sehr netten Abend, vielen Dank. Wir sind mit dem Bus zu Tesco’s gefahren und haben uns die Videos angeschaut.«
»Wirklich? Ich weiß, es gibt ein Café bei Tesco’s. Aber dass man da auch Videos schauen kann, wusste ich nicht.«
»Na klar, gestern haben sie zwei richtig gute gezeigt. Eins hat mir besonders gefallen; das lief am Ende von dem Gang mit den Haushaltswaren und handelte von einem neuen Wischmopp, der doppelt so viel Schmutzwasser aufnimmt, wegen so einem revolutionären neuen Schwammgewebe, das größer als normal ist, wenn es trocken ist, aber viel, viel kleiner, wenn es nass ist.«
»Leonard …«
»Das haben wir uns dreimal angeschaut. Meine Lieblingsstelle war die, wo diese Frau das Ende des Mopps hochhebt und anschaut, als könnte sie gar nicht glauben, wie viel Wasser der aufgesaugt hat. Angels mag am liebsten die Stelle, wo die kleine Tochter reinkommt und sagt: ›Meine Güte, Mami, wie hast du denn unseren Fußboden so glänzend sauber gekriegt?‹, und die Frau schaut sie an und sagt: ›Mit dem neuen Miracle Mop, Schätzchen, da brauche ich nur noch die halbe Zeit zum Bodenwischen.‹ Und das andere …«
»Leonard …«
»Das andere hatten wir beide schon mal gesehen, in der Mitte des ›Küche und Haushalts-Gangs. Da ging es um so ein spezielles Plastikteil, mit dem man Obst und Gemüse in alle möglichen verschiedenen Formen schneiden kann, indem man bloß immer ein anderes Plastikteil auf das Plastikteil steckt, das man in der Hand hat, zum Beispiel sternförmige Tomaten und so. Ach ja, und da kommt am Ende eine richtig gute Stelle – na ja, es kommt nicht mehr so gut, wenn man das Ende schon kennt, so wie wir, aber es ist wirklich verblüffend, wenn man es zum ersten Mal sieht, und es macht Spaß, sich die Gesichter der anderen Leute anzuschauen, die es noch nicht gesehen haben – wo es so aussieht, als wäre der Mann fertig, und dann sagt er plötzlich: ›Natürlich kann der Magic Multi-Cutter nicht Ihre Pommes frites schneiden, oder? Das wäre wirklich zu viel verlangt. Sind Sie da so sicher? Schauen Sie her!‹«
»Leonard …«
»Und dann, wenn man gerade denkt, nein, das ist nicht möglich – wenn man es noch nicht gesehen hat, meine ich –, steckt er ein neues Plastikteil auf das andere Plastikteil, schnappt sich eine große Kartoffel, und ehe du dich umsiehst, hat er einen Haufen Pommes auf dem Tisch und du weißt, dass der Magic Multi-Cutter sehr wohl Pommes frites schneiden kann! Ich könnte jedes Mal stehend applaudieren!«
»Aber ihr applaudiert nicht wirklich, oder, Leonard? Bitte sag mir, dass Angels und du nicht am Ende des Videos geklatscht habt.«
»Ach, komm schon, Adrian!«, sagte Leonard. »Ts-ts-ts!«, machte er, als hätte ich einen unaussprechlich abwegigen Gedanken geäußert. »Tesco’s ist ein Supermarkt und kein Theater. Man klatscht doch nicht im Supermarkt, oder? Es sei denn, man ist völlig übergeschnappt.«
»Nein«, sagte ich, »tut mir leid, Leonard – blöd von mir, ich weiß nicht, was mir in den Sinn gekommen ist. Also, Angels verbringt gern einen Abend im Supermarkt. Steht sie nicht auf Kino oder Essen gehen oder so was?«
»Na ja, unser Geld hat nur für den Bus gereicht und außerdem mögen wir Tesco’s, weil wir uns da zum ersten Mal begegnet sind. Gestern Abend war unser zehntes Jubiläum.«
»Was! Zehn Jahre? Warum hast du uns denn nie von ihr erzählt?«
»Zehn Tage«, korrigierte mich Leonard, »fünfzehn Stunden und vierundzwanzig Minuten. Bei den Sekunden bin ich mir nicht ganz sicher. Ja, wir trafen uns um sechs Uhr an einem Dienstagabend bei Tesco’s im Wein- und Spirituosengang. Ich bitte Gott schon seit einer Ewigkeit, eine Freundin für mich zu finden, aber ich hatte ein bisschen Angst, und deshalb habe ich immer gesagt, er solle doch jemanden aussuchen, mit dem ich irgendetwas Großes gemeinsam habe. Tja, und das hat er auch. Es ist einfach super! Wir sind beide Alkoholiker.«
»Ihr seid beide …«
»Und an dem Tag, als wir uns trafen, dachten wir beide genau dasselbe. Wir standen nebeneinander und schauten uns die vielen verschiedenen Whiskysorten an und dachten: ›Das ist es, was ich am meisten will!‹ Und dann war es wie in einem von diesen Videos, ich meine jetzt nicht die über Mopps und Gemüseschneider. Ich meine die, die man sich im Kino immer nicht anschaut, weil das zu teuer ist. Wir drehten uns um und schauten einander an und – wie soll ich das sagen, Adrian – in ein und demselben Augenblick sahen wir beide etwas, was wir vielleicht noch mehr wollten. Es war wie Zauberei. Also, ich meine nicht Zauberei. Ich meine – du weißt schon – Zauberei. Darf ich morgen mit ihr vorbeikommen und sie dir und Anne vorstellen? Ich habe ihr gesagt, dass ihr meine besten Freunde seid.«
Brachte kaum einen Ton heraus.
»Ja, natürlich könnt ihr kommen, Leonard. Wir freuen uns darauf, Angels kennenzulernen. Kommt um sieben, dann können wir zusammen essen.«
»Okay. Ach, übrigens, ich habe ihr noch nicht gesagt, dass ich Christ bin. Will nicht gleich alles vermasseln. Also kein Wörtchen darüber, ja? Bis dann!«
Ojemine …
Samstag, 11. September
Große Freude heute Morgen: Gerald kam nach Hause. Er hat es sich immer noch nicht abgewöhnt, mich zu behandeln, als wäre ich ein ziemlich rückständiger Neunzigjähriger, aber wir lieben ihn sehr. Was für ein Wiedersehen! Mir fällt es immer noch schwer, zu glauben, dass diese eigenständige, erwachsene, kompetente Persönlichkeit mein Sohn ist. Er sagt, er freut sich sehr auf die Tournee und mir würde es sehr gut tun, Anne und ihn bei mir zu haben, damit ich den Bodenkontakt nicht verliere. Anne nickte zustimmend. Hmm …
Er hat auch angeboten, selbst ein paar Worte zu sagen, wenn ich wollte, und meinte, er hätte ein paar Sachen in petto, die er jederzeit darbieten könnte. Großartig! Wir haben Gerald eigentlich noch nie in der Öffentlichkeit reden hören, jedenfalls nicht so richtig, aber bei seinem Verstand ist es bestimmt interessant, was immer es auch ist. Den Nachmittag über besprachen wir die Pläne für die verschiedenen Vortragstermine.
Heute Abend überkam uns alle drei eine völlig kindische Aufregung, als wir auf Leonard und seine Freundin warteten. Jede Menge Spekulationen von Seiten Geralds und meiner Wenigkeit bezüglich ihres Aussehens, ihres Alters und der Art und Weise, wie Leonard sich wohl in einer Beziehung machte. Anne meinte, wir müssten alles vergessen, was Leonard mir am Telefon über sie erzählt hatte, und sie einfach als Freundin eines guten Freundes willkommen heißen. Gerald sagte, er freue sich riesig, dass Leonard eine Freundin gefunden habe, und finde die Vorstellung, dass er sich »in ein Paar verwandelt«, zutiefst faszinierend.
»Komischer Name allerdings, oder?«, sagte er. »Angels Twitten. Ich habe noch nie gehört, dass jemand mit Vornamen Angels heißt.«
Punkt sieben klingelte es an der Tür. Als ich die Tür aufmachte, stand vor mir allein eine Dame, die ich noch nie gesehen hatte. Sie war Mitte dreißig, klein, zierlich und durchaus hübsch, aber sie hatte große, traurige Augen und trug ziemlich grellbunte, löchrige Hippie-Kleidung. In ihrem krausen, dunkelbraunen Haar trug sie ein Haarband, das mit lauter kleinen blauen Plastikblüten verziert war. In einer Hand hielt sie eine Milchflasche mit eingedrücktem Foliendeckel. Weiche, schöne Stimme, etwas nervös, aber sehr klangvoll.
Sie sagte: »Hallo, ich heiße Angels Twitten und komme zum Abendessen mit meinem Verlobten Leonard Thynn.«
»Willkommen! Schön, Sie kennenzulernen, Angels. Kommen Sie bitte herein. Äh, Sie sagten, Sie kommen mit Leonard, aber er scheint gar nicht, äh …«
Wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen, als ich sie gerade in die Diele manövriert und die Tür geschlossen hatte. Es war Thynn. Klar, wer denn sonst.
»Hallo, Adrian, ich rufe aus der Telefonzelle neben der Heilsarmeestation am oberen Ende der Stadt an.«
»Aber warum …«
»Ich wollte mich für unsere Verspätung entschuldigen.«
»Aber ihr habt euch nicht verspätet. Zumindest hat Angels sich nicht verspätet. Es ist jetzt sieben Uhr und sie ist schon hier. Ich habe sie gerade hereingelassen.«
»Oh, gut, da bin ich froh. Ja, weißt du, ich war gerade noch mit ihr zusammen in der Parallelstraße unterhalb von eurer. Die Sache ist die, dass ich mich verspätet haben werde, bis ich von hier wieder bei euch bin.«
»Ja, aber wieso bist du denn den ganzen Weg bis zur Heilsarmee gegangen?«
»Ich hab ein Telefon gesucht, das funktioniert.« Spürte den vertrauten Kopfschmerz nahen.
»Und warum bist du dann nicht einfach hereingekommen und hast unser Telefon benutzt?«
»Na, euch wollte ich doch anrufen.« Mir war nach Schreien zumute.
»Aber wenn du mit mir sprechen wolltest, wieso bist du dann nicht einfach hereingekommen und hast mit mir geredet?«
»Weil wir zu früh dran waren. Wir haben um die Ecke gewartet, bis es Zeit war. Dann kam mir der Gedanke, ich könnte euch doch kurz anrufen und fragen, ob wir ein bisschen früher kommen könnten, aber das nächste Telefon war demoliert, vor dem nächsten stand eine Schlange, und bis ich ein Telefon gefunden hatte, das frei war und funktionierte, war ich so weit gegangen, dass es schon zu spät war, um zu früh zu kommen, sodass es keinen Sinn mehr hatte, dich anzurufen und zu fragen, ob wir früher kommen könnten; tja, und dann habe ich eben beschlossen, dich anzurufen und mich dafür zu entschuldigen, dass ich ziemlich spät dran sein werde, bis ich wieder bei dir bin.«
»Leonard! Du hast dir bisher noch nie Gedanken darüber gemacht, ob du zu früh oder zu spät oder ungelegen oder überhaupt nicht kommst. Wie kommst du bloß darauf, dass es uns stören könnte, wenn du heute Abend ein paar Minuten früher gekommen wärst?«
Kurze Pause.
»Na ja, weißt du – es ist irgendwie anders, weil – du weißt schon, wegen …«
Seufzte und sagte mit schwacher Stimme: »Na schön, Leonard, mach dir keine Gedanken darüber, dass du zu spät kommst. Komm einfach jetzt her, so schnell du kannst, und alles ist in bester Ordnung. Bis gleich.«
Legte auf und drehte mich um. Angels hielt mir die Milchflasche entgegen.
»Für Sie und Anne«, sagte sie.
Ich sagte: »Oh, danke schön. Haben wir die auf der Treppe vergessen?«
»Nein, Leonard meinte, wir sollten eine Flasche zum Abendessen mitbringen, aber wir hatten jeder nur eine halbe Flasche Milch und kein Geld, um was anderes zu besorgen. Also haben wir alles in eine Flasche umgeschüttet und den Deckel wieder draufgemacht. Ich fand es ja ein bisschen komisch, so was mitzubringen, aber Leonard meinte, Sie mögen Milch sehr gerne, und da …«
»Ach so, natürlich, vielen Dank. Eine Flasche Milch. Wie nett. Leonard hat absolut recht. Wir lieben Milch. Ganz herzlichen Dank …«
Zehn Minuten später war alles wieder in Butter. Leonard saß (einigermaßen nervös) neben Angels auf dem Sofa, als wären sie beide bei einem Vorstellungsgespräch. Angels scheint eine ulkige Mischung als allem Möglichen zu sein. Intelligent, selbstbewusst, unbehaglich, vage, pragmatisch, verträumt.
Nachdem wir alle gegessen und dabei ungewöhnlich gute Manieren an den Tag gelegt hatten, ließen wir uns wieder im Wohnzimmer nieder und Gerald sagte: »Angels, ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich danach frage, aber ich musste bei Ihrem Namen etwas stutzen. Ich meine, Angels ist ziemlich ungewöhnlich, oder? Wenn ich es recht bedenke, erinnere ich mich auch nicht, schon jemals von jemandem mit Ihrem Nachnamen gehört zu haben. Ist Angels Twitten Ihr Geburtsname?«
»Es stört mich überhaupt nicht«, sagte Angels ernsthaft und fixierte Gerald mit ihren großen, dunklen Augen. »Eigentlich ist mein Geburtsname Angela Pathway, aber mein Vater hat es als kleiner Junge in der Schule sehr schwer gehabt, weil ein paar andere ihm den Spitznamen ›Hundeparadies‹ angehängt haben. Da er nicht wollte, dass mein Bruder und ich das auch durchmachen mussten, änderte er seinen Namen in ›Twitten‹. So nennen sie unten in Kent eine schmale Gasse, die einen Häuserblock mit dem nächsten verbindet. Und dann habe ich meinen Namen von Angela in Angels geändert, weil ein Mann bei der Stadtverwaltung sich mal vertippt hat, als er mir einen Brief schrieb, und als ich das sah, gefiel es mir so gut, dass ich beschloss, mich von da an Angels zu nennen.«
»Ach so, natürlich«, nickte Gerald lächelnd, »das ›a‹ und das
›s‹ liegen gleich nebeneinander, stimmt’s? Also, ich finde, Sie haben völlig recht. Angels ist viel hübscher als Angela. Aber wie ist es Ihnen in der Schule mit ›Twitten‹ ergangen?«
»Furchtbar!« Angels lächelte plötzlich. »Hört sich alles ziemlich albern an, nicht wahr?«
»Auch nicht alberner als die Sachen, die sich die meisten Eltern leisten«, sagte Gerald, wobei er aus irgendeinem Grund mich ansah.
»Angels schreibt Gedichte«, sagte Thynn stolz. »Ich habe sie gebeten, uns heute Abend eins vorzulesen.«
Obligatorischer Chor des Entzückens und der Ermutigung. Stimmte natürlich aus Höflichkeit ein, aber ehrlich gesagt, mir krampft sich immer der Magen zusammen, wenn Leute selbst verfasste Gedichte vortragen wollen. Meistens ist es so, dass ich das, was sie dann vorlesen, völlig undurchdringlich finde und nicht die leiseste Ahnung habe, ob es undurchdringlich gut oder undurchdringlich schlecht oder einfach nur grauenhaft ist, und dann habe ich den Stress, mir irgendeinen Kommentar dazu einfallen zu lassen, der den Betreffenden nicht verletzt, aber auch nicht dazu ermutigt, noch die anderen dreizehn Gedichte vorzulesen, die er zufällig bei sich hat. Machte mich auf das Schlimmste gefasst.
Angels zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Handtasche. Ein halb schläfriger, abwesender Ausdruck trat in ihre Augen.
»Eigentlich ist es noch nicht fertig«, sagte sie entschuldigend, »das heißt, nichts, was ich mache, ist jemals wirklich fertig, aber ich werde es euch vorlesen. Es heißt ›Regenbogen‹.«
Ich habe es mir abgeschrieben.
Mit unverschämter Bescheidenheit
Schwelgerischer Schlichtheit
Einzigartiger Normalität
Stürzen wir, die wir über den Erdboden fliegen
Kopfüber ins springende Meer
Aufgetürmt zu bodenloser Tiefe am stillen, rastlosen Himmel
Grob liebkost von monströser Schönheit
Gefangen in der Freiheit des verdunkelnden Lichts
Selbstsüchtiges Geschenk der Mitternachtssonnen
Verbrannt vom Eis
Verraten von der Treue
Entfesselt in unseren Ketten
Aus dem Kern geschüttelt
In den sengenden Schatten
Wir, die heruntergekommenen Reichen, liegen aufgebahrt
Und sehnen uns nach Unerfüllung
Und dem blühenden Tod
Verfluchen voller Freude die donnernde Stille
In die wir tragisch, tödlich geboren sind
Heilige Weltlichkeit
Uralte Frische
Ermüdend Neues
Solch gigantische Details
In Gold gefasst und düster
Weichen auf uns zu durch den Nebel, der alles offenbart
Bis der Regenbogen wie ein Traum vom Krieg
In strahlender Einfarbigkeit
Sich schnurgerade wie ein Pfeil
Unsichtbar
Ins Blickfeld schwingt.
Eine widerhallende, verdatterte Stille legte sich über uns, als Angels ihre Lesung beendet hatte.
Hörte Gerald tonlos murmeln: »Weichen auf uns zu? Entfesselt in unseren Ketten? Heilige Weltlichkeit? Hmm …«
Kam zu dem Schluss, dass dieses Gedicht definitiv zur undurchdringlichen Sorte gehörte, wahrscheinlich zur undurchdringlich schlechten, denn, wie Gerald später sagte, es schien auf so etwas wie einem verbalen Zaubertrick zu beruhen, wo man einfach eine lange Liste von Begriffspaaren macht, die nicht zusammenpassen, und sie dann trotzdem zusammenstellt. Auf der anderen Seite hatte das Ganze irgendwie einen grandiosen Klang an sich. Sehr eigenartig. Fragte hinterher Anne, wie sie es gefunden habe. Sie sagte, für sie habe es sich angehört wie das Werk einer sehr intelligenten Person, deren Gehirn durch irgendetwas, was nicht gut für sie war, durcheinandergebracht worden sei. Fragte mich, ob ich bemerkt hätte, dass Angels die meiste Zeit gesprächig und normal und fröhlich war, aber immer dann, wenn sie anfing, über Kunst oder irgendein anderes abstraktes Thema zu sprechen, in eine andere Welt abzudriften schien, in der man ihr nicht mehr recht folgen konnte. Dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass sie recht hatte. Später am Abend zum Beispiel teilte uns Leonard noch etwas über seine neue Freundin mit.
»Angels ist Tänzerin, nicht wahr, Angels?«
»Nun, ja, das stimmt – das ist mein Beruf.«
»Wirklich!«, rief Anne. »Wie interessant. Davon haben wir so gut wie keine Ahnung. Darf ich fragen, was Tanz für Sie bedeutet, Angels?«
Wieder dieser abwesende Ausdruck in ihren Augen, aber auch noch etwas anderes – eine Furcht, etwas Drängendes. Beim Sprechen machte sie elegante, wedelnde Bewegungen mit ihren Fingern, doch die Worte kamen aus ihrem Mund wie tote Blätter, die ziellos im Wind wehen.
»Was Tanz bedeutet? Nun, für mich geht es beim Tanzen im Wesentlichen darum, die philosophischen Parameter eines spezifischen kreativen Prozesses zu erfassen und dann den Mut aufzubringen, sie mit künstlerisch kohärenten Kommunikationslinien miteinander zu verknüpfen. Ich sehe den Tanz als eine fundamentale Neuausrichtung spiritueller Energie, die sich verbindet mit der Vision eines konkreten Anderen oder auch innerhalb der eigenen selektiven Vorstellungswelt. Für Tänzer ist es wichtig, sowohl den Fluss als auch die Unterströmungen des menschlichen Herzens als Schöpfer von Wellen und Gezeiten auf dem Ozean der menschlichen Erfahrung zu empfinden. Das ist es, künstlerisch ausgedrückt, was Tanz für mich bedeutet.«
Erneute widerhallende Stille. Dann sagte Thynn: »Dann geht es also nicht darum, nach einem bestimmten Muster die Beine zu bewegen?«
Angels machte die Augen wieder weit auf und sah ihn schmachtend an. »Doch, Leonard, das hast du sehr gut ausgedrückt. Du bist ein Mann mit außerordentlichem Einsichtsvermögen.«
»Bin ich das?«, sagte Leonard und machte ein überraschtes, geschmeicheltes Gesicht. »Bisher haben mir eigentlich alle zu verstehen gegeben, dass ich alles andere bin als das. Mein alter Schuldirektor sagte mir, ich sei das primitivste Überbleibsel neandertalscher Begriffsstutzigkeit, dem er je zu begegnen das Missgeschick gehabt habe.«
Er lächelte nicht ohne einen gewissen Stolz.
»Das habe ich mühelos auswendig gelernt. Er hat es mich nämlich hundertmal abschreiben lassen, nachdem er so kleine weiße Flecken in den Mundwinkeln bekommen hatte, weil er mir etwas partout nicht beibringen konnte – irgendetwas mit einer x Zentimeter tiefen Badewanne, die sich in y Stunden füllte, wenn z Liter Wasser alle was weiß ich für ein Buchstabe Minuten hineinflossen.«
»Wisst ihr was? Das ist doch großartig!«, sagte Anne. »Wir könnten eine Tänzerin für unsere Tournee gebrauchen, meinst du nicht, Adrian? Besonders jetzt, wo Barry uns so ein großzügiges Angebot gemacht hat?«
»Äh, ja – ja, warum nicht?«
Versuchte, mir gegenüber Anne nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich dieser angedeutete Vorschlag erschreckte. Ich habe gelernt, den Instinkten meiner Frau zu vertrauen, aber ich muss zugeben, dass ich mit Tänzern in der Kirche selbst unter günstigsten Voraussetzungen nicht viel anfangen kann. Mir kommt es immer so vor, als ob sie sich in Gewänder hüllen, die verhindern, dass man sieht, was für Bewegungen sie machen oder welchen Geschlechtes sie sind, und dann mit einer von ungefähr vier verschiedenen flehenden Gesten nach oben deuten und mit einem Knie in der Luft anbetend auf die Lampenschirme starren. Außerdem konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass Angels, wenn ihr Tanz von der gleichen Qualität war wie ihre Lyrik, sich vermutlich in der Tat gleichzeitig vorwärts und rückwärts bewegen sowie in die Luft springen und zu Boden fallen würde. Vermutlich würden wir nicht einmal eine Chance haben, Angels selbst tanzen zu sehen, bevor die Tournee begann.
»Sagen Sie, Angels«, fragte Anne, als hätte sie meinen letzten Gedanken gelesen, »treten Sie in den nächsten Tagen irgendwo auf, damit wir kommen und Sie tanzen sehen können?«
Angels blickte zu Boden. Ihre Stimme hörte sich deutlich leiser an.
»Ich habe schon seit Langem nicht mehr viel gemacht. Es war schwierig. Aber morgen Nachmittag mache ich etwas bei den alten Leuten im Seniorenstift Clay House. Keine große Sache, aber wenn Sie wirklich Lust haben …«
Vereinbarten, morgen Nachmittag zum Zuschauen zu kommen.
»Übrigens«, sagte Angels, »was ist das eigentlich für eine Tournee, auf die Sie gehen?«
Thynn wurde bleich und sah Anne und mich beschwörend an.
»Es ist eine christliche Vortragsreise«, sagte Anne freundlich, aber bestimmt. »Wir sind Christen. Adrian schreibt christliche Bücher, die die Leute – nun, sie finden sie ziemlich witzig und manchmal auch hilfreich. Die Tournee ist für uns eine Gelegenheit, den Leuten mehr über Jesus zu erzählen.«
»Ach so«, sagte Angels. Sie runzelte die Stirn und wandte sich an Leonard. »Dann bist du auch Christ, Leonard?«
»Manchmal«, sagte Thynn unglücklich, »aber nicht wirklich, na ja, ich schätze schon.« Plötzlich geriet er in Panik:
»Aber ich kann jederzeit damit aufhören, wenn du mich deswegen nicht mehr magst! Mir ist es egal, was ich bin, ehrlich! Was bist du? Ich werde auch einer.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte Angels. »Ich bin froh, dass du einer bist. Wahrscheinlich hilft dir das dabei, so ein guter Mensch zu sein.«
Schaute zu, wie Erleichterung, Verwirrung und Verlegenheit auf Thynns Gesicht Ringelreihen tanzten.
»Und Sie, Angels?«, fragte Anne. »Haben Sie auch irgendeinen Glauben?«
Wieder der abwesende Blick.
»Ich glaube an eine heilige Verantwortung, sich auszustrecken und die Berührung des schlechthin Anderen zu empfangen, und ich glaube, wir sollten stets danach streben, die ätherischen Stränge zu zelebrieren, die in das wahre Menschsein eingewoben sind.«
»Methodistin also«, sagte Gerald.
Alle lachten, Angels genauso wie wir anderen.
Fragte Anne beim Schlafengehen, was sie von Angels hielte.
»Ich mag sie sehr«, sagte sie, »und es ist schön, Leonard so glücklich zu sehen. Sie hat wohl ziemlich schwere Zeiten hinter sich und es fällt ihr schwer, gewissen Dingen ins Gesicht zu sehen. Wir sollten sie in unsere Reihen aufnehmen, meinst du nicht? Vielleicht ist sie genau das, was wir brauchen, um unserer Tournee mal einen anderen Touch zu geben. Warten wir mal ab, wie es morgen ist.«
Hmm! Ich mag Angels auch. Kann aber einfach die leise Sorge nicht abschütteln, dass die »philosophischen Parameter eines spezifischen kreativen Prozesses« sich am Ende als ein bisschen Herumhüpfen und Mit-den-Armen-Wedeln entpuppen werden. Wir werden sehen.