Kitabı oku: «Protokoll 46», sayfa 2

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„Das muss schwer sein, gerade für dich. Wir haben von deinen Eltern gehört, dass ihr ein sehr gutes Verhältnis hattet.“ Noch immer sagte Samuel kein Wort, es kam ihm jedoch unfair vor. Gabriel schien ihn wirklich aufmuntern zu wollen.

„Ist schon okay, du brauchst mir nichts zu erzählen.“

„Nein, tut mir leid, es ist alles gut. Sie wollte es ja nicht anders“, sagte Samuel verbittert und schaute stur nach vorne.

„Du bist also nie auf die Idee gekommen, es ihr gleich zu tun?“ Samuel schaute erschrocken zu Gabriel auf. Mit so einer Frage hatte er als letztes gerechnet.

„Nein, natürlich nicht!“, sagte er mit fester Überzeugung. Zum ersten Mal schien das Lächeln des Mannes ein wenig aufgesetzt, es wirkte fast so, als wäre er von der Antwort enttäuscht. Jedenfalls kam es Samuel so vor. Allerdings war dieser Moment ebenso schnell wieder vorbei, wie er gekommen war und Gabriel lächelte wieder so herzlich wie zu Beginn.

„Hervorragend. So, da sind wir.“ Sie waren an eine große Glastür gekommen, die zu dem Vorhof der Schule führte.

„Siehst du den Wagen da vorne? Da gehst du hin und öffnest die Tür. Du brauchst nicht zu klopfen.“

„Kommen Sie nicht mit?“

„Nein, ich hole dich nachher wieder hier ab. Und du darfst gerne du zu mir sagen“, sagte Gabriel und zwinkerte zu Samuel herunter.

„Alles klar …“, erwiderte Samuel verhalten. Er öffnete die Tür und ging hinaus, direkt auf einen schwarzen Transporter zu. Vor diesem standen zwei weitere Männer, ebenfalls komplett in Schwarz gekleidet, kleiner als Gabriel, jedoch im Gegensatz zu diesem fast schon furchteinflößend kalt und abweisend. Sie starrten scheinbar geradeaus, genau sagen konnte man es allerdings nicht. Auch sie trugen Sonnenbrillen, machten aber keine Anstalten, diese abzusetzen. Eingeschüchtert von diesem Anblick ging Samuel zwischen ihnen hindurch, die beiden verzogen keine Miene. Behutsam öffnete er die Tür auf der Rückseite des Transporters und stieg hinein.

Es war ein seltsames Bild, das sich ihm danach bot. Nichts Abnormales, nichts, was er nicht schon einmal gesehen hatte, aber etwas, was er in einem solchen Transporter nicht erwartet hätte und ihm so völlig fehl am Platze vorkam. Ein voll möbliertes, fast schon gemütliches Arbeitszimmer. Klein zwar, aber trotzdem übertrieben ausgestattet, schier pompös. Rechts und links standen reich bestückte Bücherregale, Samuel hätte nicht gedacht, jemals so viele verschiedene Bücher an nur einem Ort zu sehen. Der Boden war bedeckt von einem fremdartig wirkenden Teppich mit seltsamen Mustern und verschiedenen Farben. Mittendrin, der Tür gegenüber, stand ein massiv hölzerner Schreibtisch. Hinter diesem saß in einem gemütlich wirkenden Sessel ein dicklicher, freundlich wirkender Mann und schaute zu Samuel. Er trug einen hellen Anzug und eine rote Schleife, was auf Samuel im Rahmen dieses biederen Zimmers ein wenig unpassend wirkte. Er hätte einen weiteren schwarz gekleideten Mann erwartet, einschüchternd wie schon die Herren vor dem Transporter. Stattdessen saß da die feine, in die Jahre gekommene Version eines Zirkusclowns. Diesen Gedanken behielt Samuel allerdings für sich und sagte erst einmal nichts.

Der Mann musterte ihn eine Weile und fing schließlich an zu sprechen.

„Setz dich doch.“

Seine Stimme war ebenso freundlich wie sein Äußeres. Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und Samuel nahm Platz. Weitere Momente vergingen, ohne dass jemand etwas sagte, bis schließlich der Mann die Stille durchbrach.

„Mein Name ist Remus Carye. Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen und ich bitte darum, dass du sie mir wahrheitsgemäß beantwortest. Ist das okay?“

„Selbstverständlich“, sagte Samuel, etwas irritiert von der seltsamen Mischung aus strengen Worten und dazu so fröhlicher Betonung.

„Sehr schön. Fangen wir an. Du bist Samuel, Kreis 24, Wohnungsblock 6, Wohnung 27? Ist das korrekt?“

„Ja, das ist korrekt.“

„Deine Eltern sind Jeff und Joana Singer?“

„Ja.“

„Deine Schwestern heißen Marietta, vor einigen Jahren abgeholt, und Tamara, vor kurzem verschwunden, richtig?“

„Richtig.“

„Du weißt, was mit deiner Schwester Tamara passiert ist, oder?“

„Meine Eltern haben es mir bereits erzählt.“

„Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?“

Samuel zögerte, wohl einen Augenblick zu lange, Remus hob eine Augenbraue und blickte Samuel direkt in die Augen.

„Am Abend vor ihrem Verschwinden, kurz vor dem Zubettgehen.“

„Kam dir irgendetwas merkwürdig vor? War irgendetwas anders als sonst?“

„Sie wirkte ausgelassen, das ist aber eigentlich nichts Besonderes.“

„Hat sie noch etwas gesagt? Wusstest du, was sie vorhatte?“

„Ich … Nein.“

„Warum so zögernd?“ Remus lehnte sich nach vorne, die Zeigefinger vor seinem Mund, sein doppeltes Kinn auf seine Daumen gelehnt. Samuel wurde nervöser. Worauf sollte das alles hinauslaufen? Man wusste, was passiert war, wem es passiert war, und jeder Vollidiot hätte sich zusammenreimen können, warum jemand so etwas machen könnte. Das eigenständige Verlassen der Siedlungen war gleichermaßen gefürchtet wie verpönt, aber es kam ab und zu vor, und die Motive waren immer die Gleichen, sofern man überhaupt dazu kam, danach zu fragen. Die Meisten kamen nach wenigen Tagen zurück, einige Wenige wurden irgendwann tot aufgefunden und ein kläglicher Rest tauchte nie wieder auf.

„Ich hatte es schon befürchtet, dass so etwas passieren könnte“, brachte Samuel nach kurzer Stille heraus.

„Und was hat dich zu dieser Annahme bewogen?“

„Sie war anders. Wir haben nicht mehr viel geredet.“

„Hast du mit jemandem darüber gesprochen?“

„Nein, meine Eltern hatten es allerdings auch bemerkt.“

„Und warum hast du dich nicht zum Beispiel an sie gewandt?“

„Ich hatte die Hoffnung, es wäre nur so eine Phase.“

Remus lehnte sich zurück. Seine Aufregung schien sich ein wenig gelegt zu haben.

„Scheue dich bei solchen Dingen beim nächsten Mal nicht davor, dich damit an einen Erwachsenen zu wenden. Wir hätten ihr helfen können.“

„Helfen?“

„Sie litt definitiv an Depressionen, wenn man dem glaubt, was ihre Jahrgangskameraden so sagen. Anscheinend war ihr Verhalten zu Hause nicht anders. Eine letzte Frage noch, sofern das in Ordnung ist.“

„Aber bitte nur noch eine, ich freue mich schon so darauf, wieder in den Unterricht zu gehen“, sagte Samuel in einem Anflug von Erleichterung. Remus lachte und lehnte sich wieder nach vorne.

„Okay, dann mache ich es kurz. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, es deiner Schwester gleich zu tun?“ Seine Stimme war plötzlich anders, fast schon unangenehm stechend. Remus‘ Blick fixierte Samuel nun ganz genau, und ein kurzer, erdrückender Moment der Stille folgte. Samuel hatte das Gefühl, dies wäre die Frage, auf die der kleine dicke Mann die ganze Zeit hingearbeitet hatte. All die Herzlichkeit, die er ausgestrahlt hatte, wirkte plötzlich so aufgesetzt, fast schon manipulativ.

„Selbstverständlich nicht!“, sagte Samuel gerade noch, bevor die Stille zu lang angehalten hätte. Remus Blick wurde wieder lockerer, der Moment schien überstanden. Zwar meinte Samuel es wirklich ernst, hatte jedoch trotzdem Sorgen, er würde zu nervös wirken, als dass man ihm hätte glauben können.

„Hervorragend! Das war es dann auch schon. Wenn du keine weiteren Fragen hast, kannst du gerne zurück in deine Klasse gehen.“

„Nein, habe ich nicht.“

„Sehr gut. Es war mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben. Viel Spaß in der Schule.“ Remus stand auf, lehnte sich über den Schreibtisch und reichte Samuel die Hand. Etwas argwöhnisch erwiderte Samuel diese Geste und war dann fast schon wieder draußen, da kam ihm noch etwas in den Sinn.

„Eine Frage hätte ich doch noch“, sagte er und wandte sich wieder an Remus.

„Nur zu, mein Sohn.“ Mein Sohn. Schon wieder diese übertriebene Herzlichkeit. Langsam ging es Samuel auf die Nerven.

„Warum haben Sie mich erst jetzt befragt? Bin ich als Bruder nicht der Naheliegendste?“

„Wir haben ein festes Schema, nach dem wir vorgehen müssen. Erst die Eltern, dann Freunde und Bekannte. Geschwisterliche Verhältnisse wie zwischen dir und deinen Schwestern erschienen den Verantwortlichen wohl recht ungewöhnlich.“

„Und warum wurde ich als einziger aus dem Klassenraum begleitet?“

„Du wurdest begleitet?“ Remus hob erneut eine Augenbraue und lächelte schief.

„Ja, von diesem großen Mann, er hieß Gabriel.“

Remus Carye lehnte sich mit ungläubiger Miene nach vorne. Dann antwortete er, und sein Versuch, dabei bestimmt zu wirken, scheiterte an der Unsicherheit, die in seiner Stimme laut und deutlich mitschwang.

„Es gibt niemanden mit dem Namen Gabriel, der für uns arbeitet.“

Kapitel 2 – Weg in ein neues Leben

Du hast das Recht auf Arbeit und Ausbildung.

Sein Name war Remus Carye. Klein, dick, freundliches Gesicht, in seiner ganzen Person recht ungewöhnlich. Samuel würde ihn wohl so schnell nicht vergessen, obwohl er ihn nur einmal gesehen hatte. Doch es waren weniger dessen äußere Merkmale, nicht seine knallrote Schleife, und auch nicht sein heller Anzug, die Samuel im Gedächtnis bleiben würden. Auch nicht der seltsame Wandel von freundlich zu drängend, den Remus während der Befragung durchgemacht hatte. Vielmehr war es dessen letzter Blick, den Samuel an ihm hatte beobachten können. Fast wäre er ihm entgangen, doch er wandte sich kurz bevor er ging noch einmal um und sah den kleinen dicken Mann, den Kopf mit den Händen abgestützt, nachdenklich zu Boden starren. Remus Carye hatte nicht gewollt, dass ihn jemand jemals so zu sehen bekam, denn sein Blick sprach Bände. Es war, als würde er Samuel hinterherbrüllen: Das war das Letzte, womit ich gerechnet hätte. Das bringt das gesamte Konzept durcheinander. Das kann und darf nicht sein!

Samuel drehte sich wieder zur Tür um, trat aus dem Transporter und musste in den folgenden Tagen erfahren, was es bedeutete, wenn Remus Carye aus dem Konzept geriet. Noch mehr Transporter, noch mehr Männer in schwarzen Anzügen. Sie standen an jeder Ecke der Siedlung, stumm und ausdruckslos. Samuel hatte niemand anderem von dem Gespräch erzählt, und so kam es, dass die wildesten Spekulationen entstanden. Von Nahrungsmittelskandalen bis hin zu weiteren Todesfällen wurde quasi alles in Betracht gezogen. Es war eine seltsame Situation, niemand war jemals mit solchen Unruhen konfrontiert gewesen, und entsprechend wusste auch keiner wirklich damit umzugehen.

Doch so plötzlich die Männer in Schwarz kamen, so schnell waren sie mitsamt den Transportern verschwunden, bevor die Unruhen Überhand gewinnen konnten. Es dauerte nicht lange, bis wieder eine absurd wirkende Normalität einkehrte. Alle schienen das sehr willkommen zu heißen und diese unangenehmen Tage möglichst schnell vergessen zu wollen. Auch Samuel machte sich schon kurze Zeit später keine Gedanken mehr. Jedoch war er wahrscheinlich der Einzige, der in etwa wusste, was passiert war. Worüber er allerdings noch lange nachdachte, war Remus Caryes letzter Blick, der Blick eines Mannes, der dicht an der Spitze des Systems stand und zum ersten Mal das Gefühl hoffnungsloser Ahnungslosigkeit erfahren hatte. Er kam Samuel so vor wie jemand, der es gewohnt war, den Überblick, die Kontrolle zu behalten.

Nun allerdings lief alles seinen gewohnten Gang. Die Kinder gingen zur Schule, die Erwachsenen zur Arbeit, das Leben zurück zur Monotonie und Samuel geradewegs auf die Sechzehn zu. Was für ihn jetzt, da auch Tamara weg war, gar kein allzu schlechter Gedanke war.

*

Am ersten Tag des zehnten Monats des Jahres machte Samuel die Augen auf und verspürte ein seltsam leeres Gefühl. Gebannt starrte er an seine Zimmerdecke. Gleich würden seine Eltern in sein Zimmer kommen, um ihn zu wecken. Er würde ein schönes Frühstück bekommen, es würden ein paar Tränen fließen, sie würden ihn zu den anderen Jungs und Mädchen bringen und er würde seine Reise in eine gesicherte Zukunft beginnen. Er sollte sich freuen. Die letzten Monate hatten ihn aber zweifeln lassen. Der Tod Tamaras, das Auftauchen Gabriels, die Unbeholfenheit, mit welcher Remus Carye reagiert hatte.

Er setzte sich auf. Sein Zimmer war kahl und trostlos. Alles, was auf seine Anwesenheit hätte hinweisen können, war in den letzten Tagen entfernt worden oder befand sich in dem einzigen Koffer, den er mitnehmen durfte. Er war groß, doch die Vorstellung, dass alles, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte, in diesen einen Koffer passte, bedrückte ihn. Sein Blick wanderte nun auf eine Uhr an der Wand, das Letzte, was das Zimmer noch schmückte. Zwei Minuten vor sieben. Ein letztes Mal legte er sich auf sein Bett und lauschte dem Ticken der Uhr. Dem monotonen, gleichmäßigen Ticken, welches mit der Zeit immer schneller, fast unregelmäßig wurde. Doch es war nicht mehr das Geräusch der Uhr, dem Samuel da lauschte. Schritte näherten sich seiner Tür, es klopfte und Samuels Mutter streckte ihren Kopf in das Zimmer.

„Aufstehen, mein Großer. Du wirst abgeholt.“

„Noch fünf Minuten …“

„Aber man wartet unten schon auf dich.“

Samuel schreckte hoch. „Wer wartet unten auf mich?“

„Da ist eben ein Herr zu uns gekommen, er meinte, er würde dich persönlich kennen. Er heißt Gabriel oder so ähnlich.“

*

Bernard Huxley hatte den seiner Meinung nach besten Beruf von allen. Er war Angestellter bei den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen und zuständig für die Begrüßung und Eingliederung der neuen Generationen. Seine Lieblingsaufgabe war dabei wohl das Willkommenheißen der Neuankömmlinge. Er liebte es, die vielen neuen Gesichter zu sehen, jeden Einzelnen kurz kennenzulernen, um ihnen dann die ersten Schritte in ihrem neuen Leben zu erleichtern.

Heute war der zweite Oktober, wenige Minuten vor acht am Morgen, und ein weiterer Bus aus einer der nördlichsten Siedlungen kam gerade an. Sechsundzwanzig Jugendliche. Nicht besonders viele, es gab Busse, die brechend voll ankamen und mehr als hundert von ihnen brachten. Diese Zahl jedoch variierte beträchtlich. Auch fünf Jugendliche waren keine Seltenheit, vor allem aus den nördlichen Teilen des Landes. Der Bus kam genau vor Bernards kleinem Wärterhäuschen zum Stehen. Er trat hinaus und stellte sich an die Tür des Fahrzeugs, welche sich knarrend öffnete.

Ein schwarz gekleideter alter Mann stieg aus und überreichte dem Wartenden ein Klemmbrett mit einer Liste mit mehreren Namen.

„Sind das auch sechsundzwanzig?“, fragte er den Mann in Schwarz freundlich.

„Ja“, sagte dieser kurz angebunden und hievte sich schwerfällig zurück in den Bus. Dann kam das erste Mädchen heraus.

„Hallo und herzlich willkommen!“ Bernard strahlte sie an, und das Mädchen lächelte verhalten zurück.

„Wie ist dein Name?“

„Emilie, Kreis 8, Wohnungseinheit …“

„Danke, der Name reicht mir schon“, unterbrach er sie und zwinkerte ihr zu.

„Du folgst jetzt der blauen Linie auf dem Boden und lässt dir an den Schaltern in dem Gebäude da vorne deine Identifikationsnummer zuweisen.“

Er deutete auf einen prächtigen Glasbau, vor dem sich schon eine Traube von zuvor Angekommenen gebildet hatte. Zögernd machte Emilie den ersten Schritt, und Bernard klopfte ihr noch einmal lächelnd auf die Schulter, bevor er sich dem Nächsten widmete, einem Jungen. Dann noch zwei Jungs, dann wieder ein Mädchen. Jedes Mal machte er einen Haken auf dem Klemmbrett. Tim war der Vierundzwanzigste, Sebastian der Fünfundzwanzigste. Der Busfahrer wollte gerade die Tür schließen, da hielt Bernard ihn auf.

„Moment, da fehlt noch jemand!“ Der Fahrer zuckte lustlos mit den Schultern.

„Da müssen sie sich verzählt haben, Kollege. Der Bus ist leer.“

„Aber hier steht noch ein Junge namens Samuel auf der Liste.“

Bernard wurde unruhig und stieg die Stufen in den Bus hinauf. So etwas durfte es nicht geben, so etwas war noch nie passiert. Doch tatsächlich, er blickte durch die Sitzreihen und es war niemand zu sehen.

*

Hastig kam Samuel die Treppe heruntergelaufen und stürmte ins Esszimmer. Wie sein Zimmer auch war der Rest des Hauses bedrückend kahl und leergeräumt. Mit dem Auszug des letzten Kindes verloren die Eltern das Anrecht auf die großen Wohnungen und mussten wieder in ein kleineres Apartment ziehen.

„So habe ich wenigstens nicht mehr so viel zu putzen“, sagte seine Mutter immer scherzhaft. Inmitten dieser kahlen Szenerie am auffallend üppig gedeckten Frühstückstisch saß ein großer, breitschultriger Mann mit sympathischem Gesicht und versuchte, eine widerspenstige Scheibe Käse vom Rest des Stapels zu trennen.

„Guten Morgen!“, sagte der Mann und fing an zu strahlen, als er Samuel sah. Unterdessen brach die Scheibe zwischen seinen Fingern und schmiegte sich wieder flach an den Stapel. Hätte Samuel den Vergleich ziehen können, wäre ihm wohl das Bild eines Gorillas vor Augen gekommen, der versuchte, einen Faden durch ein Nadelöhr zu bekommen, so unbeholfen wirkte Gabriel in diesem Moment. Da er aber weder einen Gorilla noch Nadel und Faden je zu Gesicht bekommen hatte, musste er sich mit dem bloßen Anblick dieser merkwürdigen Situation zufriedengeben. Dies reichte allerdings schon aus, ihn zum Schmunzeln zu bringen, und so erwiderte er die Begrüßung freundlich.

„Guten Morgen Gabriel!“

Er hätte geschockter sein müssen, besorgter. Schließlich saß der Mann, der vor einiger Zeit noch verantwortlich gewesen war für den größten Tumult, den Samuel je erlebt hatte, seelenruhig an seinem Frühstückstisch, dort, wo Marietta immer gesessen hatte, und aß gemütlich eine nach vielen Strapazen fertiggestellte Käsestulle.

„Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein gekochtes Ei, dann wäre das Morgenessen perfekt“, sagte Gabriel.

„Sie meinen Frühstück?“, fragte Samuels Mutter skeptisch.

„Selbstverständlich. Sie haben nicht zufällig noch …?“

Gabriel wandte sich Samuels Eltern zu, diese schüttelten simultan den Kopf.

„Schade“, erwiderte Gabriel. „Hühner im Garten, das müsste man haben. Dann könnte man jeden Morgen frische Eier essen.“

Er hatte sich in der Zeit seit dem letzten Treffen offensichtlich die Haare wachsen lassen, welche nun perfekt hergerichtet sein Haupt zierten, doch Samuel hätte dieses Gesicht unter tausenden jederzeit wiedererkannt. Er und seine Eltern, die zwar verwirrt, aber erschreckend wenig besorgt wirkten, setzten sich dazu und fingen ebenfalls an zu essen. Zwar hatte Samuel schon oft erlebt, wie still ganze Gruppen von Menschen beim Essen werden konnten, aber noch nie kam ihm eine solche Stille so seltsam und fehl am Platz vor. Samuel hatte so viele Fragen, doch der Moment war denkbar ungünstig. Seine Eltern waren, wie auch die meisten anderen der Erwachsenen, angenehm vertrauensselig, was jedoch nicht hieß, dass sie dumm, geschweige denn naiv waren. Ohne seinen Anzug und seine eindrucksvolle Statur wären den beiden wohl schon Zweifel an der Identität des Mannes gekommen. Zu Gabriels Glück aber besaß er das Auftreten einer wichtigen Persönlichkeit. Der heute wie damals ideal sitzende Anzug machte die Wirkung schließlich perfekt. Und da falsche Identitäten nicht gerade Alltag für die Menschen hier waren, brauchte Gabriel sich nicht im geringsten Sorgen zu machen, solange er in diesem Haus war. So, wie er sich schaufelweise Bratkartoffeln mit Speck auf den Teller lud, war ihm dies offenbar auch durchaus bewusst. Samuel entschied sich, die Dinge erst einmal laufen zu lassen und tat es dem Gast gleich.

„Werden inzwischen alle Kinder persönlich abgeholt?“, fragte Samuels Vater. Auf die Antwort musste er jedoch noch ein paar Momente warten. Gabriel hatte die Kapazität seines Mundraumes offensichtlich überschätzt und gab mit einer Hand wild gestikulierend zu verstehen, dass er gerade nicht sprechen konnte. Samuels Mutter hob bei diesem Anblick die Augenbrauen, allem Anschein nach unentschlossen, was sie davon halten sollte. Samuel selbst empfand es als äußerst komisch, musste infolgedessen seinen ebenfalls nicht wenig gefüllten Mund in falscher Richtung entlasten und fing an zu lachen. Zum Glück, dachte er sich, waren die Blicke seiner Eltern auf den Gast gerichtet. Wobei er sich eingestehen musste, dass es an diesem Tag auch keine Rolle mehr spielte, welchen Eindruck er seinen Eltern gegenüber hinterließ. Dem letzten Schluck folgend seufzte Gabriel zufrieden und setzte zur Erwiderung an.

„Selbstverständlich nicht, das würde unsere Möglichkeiten sprengen. Wir sammeln ja jeden Monat tausende Jugendliche ein. Wir wollen nur stichprobenartig Jungs und Mädchen zu dem Prozedere befragen und sie begleiten, um für nachfolgende Generationen die Prozesse zu optimieren. Samuel wurde mir zufällig zugeordnet.“

„Das wird aber noch nicht lange so gemacht, oder?“, hakte Samuels Mutter nach.

„Wir haben Anfang des Jahres damit angefangen und auch schon einige Erfolge erzielt und gute Resonanz erfahren.“

Samuel war beeindruckt. Diese eiskalten Lügen unter einer solch erschreckend authentischen Maske gingen dem Mann dermaßen leicht über die Lippen. Hätte er Gabriel nicht schon gekannt, er würde es selbst glauben, und auch seine Eltern schienen zufriedengestellt. Und noch immer hatte er nicht das Bedürfnis, ihn auffliegen zu lassen. Er musste wissen, warum er wirklich hier war, aber vor allem wollte er weitere Unruhen vermeiden. Außerdem empfand er Gabriel als viel zu sympathisch, als dass er sich hätte Sorgen machen können.

Samuels Vater bestätigte diesen Eindruck und schloss das Thema mit freundlichen Worten.

„Freut mich, dann wissen wir unseren Sohn wenigstens in guten Händen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte Gabriel, nun entspannt auf seinem Stuhl zurückgelehnt. „Ihrem Sohn wird es bestens gehen.“ Der Rest des Frühstücks verlief ungewöhnlich normal. Samuels Eltern und der einmalige Gast wechselten einige triviale Worte und letztlich standen alle beisammen vor der Haustür. Gabriel hatte Samuel den Koffer abgenommen, damit dieser sich verabschieden konnte, und auffällig unspektakulär verließ der Junge sein Zuhause.

Zu Samuels Überraschung gingen sie tatsächlich gerade Richtung Sammelstelle, wo die Busse warten würden. Nachdem sie einige Momente schweigend nebeneinander hergegangen waren, konnte sich Samuel nicht mehr zurückhalten.

„Jetzt mal ernsthaft, was wird hier getrieben?“

„Was meinst du?“, fragte Gabriel und schaute unbeirrt nach vorne, musste dabei aber anfangen zu grinsen.

„Verarschen kann ich mich alleine. Du weißt genau, was gemeint ist“, sagte Samuel energisch. Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Gabriel senkte den Blick, immer noch grinsend, als würde er über das, was er nun sagen wollte, genau nachdenken.

„Gut, dann frage ich eben konkreter. Wer bist du?“ Samuel versuchte zu verbergen, wie genervt er gerade war, doch gelang ihm das nicht ganz.

„Ich bin Gabriel, wir haben uns schon einmal in deiner Schule getroffen.“

„Das weiß ich noch ganz genau. Falls du es nicht mitbekommen hast, dein Auftritt hat für ziemlich viel Aufregung gesorgt.“

„Wie kann denn so was passieren?“ Gabriel schaute sich mit konzentriert wirkender Miene um. Samuel wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. Es war, als würde man mit einer Wand sprechen. Gerade wollte Samuel erneut ansetzen, da riss Gabriel ihn zur Seite und zog ihn in eine kleine schmale Gasse zwischen zwei Wohnblöcken.

„Hör zu“, fing er an, und seine Stimme klang dabei gehetzt, aber bestimmt.

„Mein Name ist tatsächlich Gabriel, aber ich arbeite nicht für die Regierung. Ich komme von draußen, von hinter den Zäunen. Ich habe deine Schwester hier rausgeholt, und nun hole ich dich hier raus. Du musst nur ganz genau tun, was ich dir jetzt sage!“ Samuel, der noch immer von Gabriel an der Schulter festgehalten wurde, entriss sich dessen Griff und ging ein paar Schritte rückwärts.

„Wieso sollte ich das wollen?“, fragte er aufgebracht. Dieser abrupte Wechsel von freudiger Gelassenheit zu plötzlicher Aufregung verwirrte Samuel, und mit einem Mal hatte er wieder das Bild von dem kleinen dicken Mann mit der roten Schleife vor Augen.

„Du willst es, glaube mir. Ich kenne dich besser, als du glaubst. Also, hör zu: Heute steht genau ein Bus am Abholplatz, in etwa zwei Dutzend andere Jugendliche fahren heute mit dir zusammen. Du musst dich beeilen, ich möchte nämlich, dass du einen Platz in der letzten Reihe bekommst.“

„Aber …“

„Lass mich ausreden!“, blaffte Gabriel und packte Samuel an den Schultern. „Wir haben wenig Zeit. In der letzten Reihe auf der rechten Seite befindet sich eine Klappe, die durch den Boden nach draußen führt. Normalerweise ist diese fest verschlossen, aber heute wird sie für dich offen sein. Nach etwa drei Stunden Fahrt wird der Bus gezwungenermaßen zum Stehen kommen, diesen Moment wirst du nutzen und aussteigen. Es wird niemand bemerken, sie werden zu sehr abgelenkt sein. Man wird dich abholen und du wirst frei sein.“

„Aber ich bin doch frei“, sagte Samuel und schaute fast schon flehend dem Mann in die Augen, von dem er nun gar nicht mehr wusste, wie er ihn einschätzen sollte.

„Du weißt, dass es nicht so ist. Deine Schwester wusste es auch.“

„Nur dass sie inzwischen leider tot ist.“

„Zumindest wurde dir gesagt, sie sei tot.“ Samuel setzte gerade zum Widerspruch an, als er bemerkte, was ihm da soeben gesagt wurde. Hatte Gabriel ihm tatsächlich weismachen wollen, Tamara sei noch am Leben? Doch bevor er näher nachfragen konnte, hatte Gabriel ihm schon zugezwinkert und war verschwunden. Samuel stand nun alleine mit seinem Koffer in der Gasse.

Das kann nur ein Scherz gewesen sein, dachte sich Samuel, ein dummer Scherz von dem gleichen Menschen, der schon einmal eine ganze Siedlung in Aufruhr versetzt hatte. So musste es sein. Ein schlechter Witz. Mehr oder weniger überzeugt von dieser Erkenntnis machte er sich auf dem Weg zum Abholplatz. Der Bus kam zeitgleich mit ihm an, und wie Gabriel gesagt hatte, warteten dort schon gut zwei Dutzend andere Jugendliche und ein Aufseher, der nicht zuletzt durch sein deutlich höheres Alter herausstach. Sein Blick war ausdruckslos und seine Stimme, der keinerlei Begeisterung zu entnehmen war, verkündete gelangweilt seine Anweisungen.

„Alle bitte in einer Reihe aufstellen, ich werde nun eure Daten notieren.“ Samuel stellte sich bewusst ans Ende der Schlange und schaute belustigt zu, wie der wohl altersbedingt schwerhörige alte Mann versuchte, die Namen der Jugendlichen richtig zu notieren. Einer der wenigen Nachteile, die ein Leben völlig ohne Krankheit mit sich bringt. Man wird alt. Verdammt alt. Die Zeit heile alle Wunden, hatte Samuel mal irgendwo aufgeschnappt. Er hatte diesen Spruch nie wirklich verstanden, aber spätestens bei diesem Anblick kam er ihm sogar schon paradox vor. Zeit bringt Alter, Alter bringt Gebrechen, und dagegen gibt es kein Mittel. Für den Moment aber war es zumindest der Unterhaltung dienlich. So musste ihm ein Mädchen tatsächlich drei Mal ihren Namen diktieren, bis er ihn richtig aufschreiben konnte. Emilie war ihr Name, und sie schien sichtlich genervt, als sie endlich den Bus betreten durfte.

Nun kam Samuel an die Reihe. Bei ihm ging es glücklicherweise schneller, und mit einem letzten Blick auf die Häuser hinter sich ging auch er die kleine Treppe hinauf. Der Bus war offensichtlich für deutlich mehr Leute ausgerichtet, und so hatte sich inzwischen jeder eine Sitzbank für sich alleine gesichert. Über die Rückenlehnen hinweg hatten sie bereits angefangen, wild miteinander zu diskutieren und sich zu unterhalten. Die meisten waren noch dabei, sich über den Aufseher lustig zu machen. Samuel war sich aber ziemlich sicher, dass es den Mann nicht stören würde.

Er schritt durch den Mittelgang und beobachtete dabei durch die Fenster, wie der alte Mann mit angestrengter Miene die Koffer einlud. Sein Blick wanderte über ein paar Jungs aus seiner ehemaligen Klasse, mit dabei Cedric, der unter dem Gelächter der anderen den Aufseher nachäffte, indem er so tat, als könne er niemanden verstehen. Dann über das Mädchen namens Emilie, das, wie er nun bemerkte, ungewöhnlich hübsch aussah. Sie blickte zu ihm, und bevor er realisieren konnte, wie dämlich er gerade starren musste, lächelte sie ihn an. Erschrocken wandte er den Blick nach vorne und bemerkte etwas, was ihm das Herz in die Hose rutschen ließ. Die letzte Reihe war noch komplett frei, ebenso wie die Reihen davor. Er ging bis ganz nach hinten und beugte sich behutsam nach vorne, um auf den Boden der Reihen blicken zu können. Da war eine Klappe. Letzte Reihe, rechte Seite. Groß genug, um hindurchzukommen. Aber war sie offen? Nervös schob sich Samuel an den Sitzen entlang und tippte mit dem Fuß an die Klappe. Sie war locker.

*

Knarrend und unter dem Ächzen seiner Äste fiel der Baum zu Boden.

„Hervorragend!“, sagte David und begutachtete das Werk seiner Begleiter. „In nur zwei Stunden habt ihr es fertiggebracht, einen mittelgroßen Baum zu fällen. Und das, wo ihr doch gerade einmal zu dritt seid. Ich bin stolz auf euch.“

„Hör auf, dich zu beschweren, und mach es beim nächsten Mal selbst“, entfuhr es einem der drei anderen Männer genervt, „als ob du schon einmal in deinem Leben eine Axt in der Hand gehabt hättest.“

„Ist ja auch egal, die Zeit sollte noch reichen.“ David, ein kleiner, aber recht stämmiger und kräftiger Mann, schwang einen Beutel von seinem Rücken und legte ihn zu Boden. Er zog ein großes, in sich verheddertes Knäuel von Seilen heraus, das nur erahnen ließ, dass irgendwo ein Ende zu finden war, und warf es den drei augenscheinlich nun noch mehr genervten Männern vor die Füße.

„Na gut, dass wenigstens du die Zeit sinnvoll genutzt hast“, seufzte einer der Männer und begann unmotiviert, das Knäuel zu entwirren. David schmunzelte und lehnte sich an einen Baum. Zehn Minuten und etliche wüste Beschimpfungen später, die vornehmlich gegen die Seile und Davids geringe Beteiligung an deren Entwirrung gerichtet waren, lagen vier Seile nebeneinander im Gras. Alle vier Männer schnappten sich eines und banden sie um stabil wirkende Äste, zwei Enden wurden an zwei daneben geparkten, alten Motorrädern befestigt.

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23 aralık 2023
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9783899188172
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