Kitabı oku: «Protokoll 46», sayfa 3

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„Michael, du steigst auf eine der Maschinen. Paul, Damian, ihr zieht so mit“, sagte David, offenbar entschlossen, dieses Mal Einwände schon im Keim zu ersticken, und die Männer folgten. Mit grollendem Lärm starteten Michael und David die Motoren und fuhren los, erst sachte, und als die Seile gespannt waren, gaben sie Vollgas. Paul und Damian hingen sich derweil ebenfalls in die Seile. Nur mühsam setzte sich der Baum in Bewegung, wurde mit der Zeit aber immer schneller. So erreichten sie nur kurze Zeit später ihr Ziel, eine nahe gelegene Straße. Sie platzierten den Baum quer über die komplette Fahrbahn, stoppten die Motoren und lösten die Seile.

„Warum holt Gabriel den Jungen eigentlich nicht direkt aus dem Dorf, so wie beim letzten Mal?“, fragte Damian an David gerichtet. Dieser schaute ihn finster an.

„Hast du Lust, noch einmal fast draufzugehen wegen eines Waldbrandes? Nein, dieses Mal sind wir diejenigen, die das Feuer legen.“ David ging zurück zu seinem Motorrad, klappte den Sitz hoch und holte einen randvollen Kanister hervor.

„Hältst du das nicht für Verschwendung? Meinst du nicht, der Baum reicht?“ Damian schaute verunsichert zu David. Benzin derartig zu verschwenden, schien ihm nicht zu gefallen.

„Wir müssen alle Aufmerksamkeit auf uns lenken, sonst hat der Junge keine Chance, da unbemerkt rauszukommen.“

Damian schien nicht überzeugt, sagte allerdings auch nichts mehr. David begann, den Kanister über dem Baum zu entleeren. Als alles gut durchtränkt schien, führte er noch eine Spur ein paar Meter die Straße entlang, über das Gras bis zu einem Busch an einem kleinen Hang.

„So Männer, packt alle Sachen zusammen und versteckt euch, jetzt heißt es schön abwarten“, rief David den anderen zu. Sie hatten gerade alles in Position gebracht, da hörten sie auch schon das Aufheulen eines Motors.

„Jetzt?“, fragte Damian.

„Nein!“, gab David zurück. „Hast du noch nie einen Bus gehört?“ Er schaute die Straße herunter. Das Heulen, anfangs noch sehr leise, wurde immer lauter, und um eine etwas weiter entfernte Kurve bog ein Motorrad mitsamt Fahrer. Davids Miene erhellte sich.

„Gleich müsste es losgehen!“, sagte er zu Damian. Das Motorrad kam einige Meter vor dem Baum auf der rechten Seite der Straße zum Stehen, ein großer, kräftiger Mann stieg ab, setzte seinen Helm ab und schob die Maschine in die Büsche. Mit offensichtlich guter Laune lugte der Mann noch einmal aus dem Buschwerk hervor, winkte den Männern zu und streckte dann den Daumen empor.

„Es scheint alles geklappt zu haben, Gabriel hat es geschafft. In fünf Minuten müsste es losgehen“, sagte David mit freudiger Erregung. Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, da bog ein Bus um die Kurve.

„Jetzt?“, fragte Damian erneut.

„Warte auf mein Signal“, erwiderte David prompt. Schwerfällig wurde der Bus langsamer und kam nur knapp vor dem Baum zum Stillstand.

„Jetzt!“, rief David. Eine flammende Spur zog sich von ihrem Versteck über die Straße bis zum Baum, und binnen Sekunden entstand ein wild loderndes Feuer.

„Das sollte genug Aufmerksamkeit erregen“, sagte David, während er stolz durch ein paar dicht gewachsene Äste ihr Werk begutachtete.

„Sollten wir nicht abhauen?“, stammelte Paul, der etwas nervös geworden zu sein schien.

„Ich will nur noch einen kurzen Blick auf den Jungen werfen“, erwiderte David aufgeregt. Und so blickten sie wie gebannt auf den hinteren Teil des Busses. Eine Minute. Zwei Minuten. Der Bus machte Anstalten, um den Baum herum über das Gras zu fahren. Bedrohlich schwankend mühte sich das kantige Fahrzeug über die unebene Strecke, kämpfte sich wieder auf die Straße und fuhr weiter, als sei nichts gewesen. Mit offenem Mund starrte David dem davonfahrenden Bus hinterher, bevor er seinen Blick auf Gabriel richtete, der inzwischen kopfschüttelnd und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf der Straße stand und dem Bus hinterherstarrte. David konnte es nicht fassen. Es hatte alles funktioniert, und doch waren sie gescheitert.

*

Hastig schritt Bernard Huxley den Mittelgang des Busses entlang. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Während seiner Arbeitszeit. Doch nach wenigen Augenblicken der Aufregung konnte er wieder aufatmen. In der letzten Reihe, zusammengesunken auf zwei Sitzplätzen, schlief ein Junge seelenruhig vor sich hin. Auch so was war Bernard noch nie passiert. Trotz der langen Fahrten waren die Jugendlichen immer hellwach, sobald sie hier ankamen. Er war drauf und dran, seinem Unmut freien Lauf zu lassen, besann sich aber lieber auf seine gewohnt zuvorkommende Vorgehensweise, und anstatt den Jungen energisch wachzurütteln, setzte er sich behutsam auf den Sitz daneben und tätschelte die Schulter des Schlafenden.

„Aufwachen“, sagte er mit fürsorglichem Ton. Der Junge rührte sich nicht.

„Hey Junge, wach auf!“, sagte Bernard nun schon etwas eindringlicher. Mit einem Ruck erwachte der Junge, schnellte dabei hoch und stieß dabei fast mit Bernard zusammen. Erschrocken starrte er diesen an.

„Sind wir da?“, fragte er. Seine Stimme wirkte merkwürdig angespannt, was sich Bernard nicht erklären konnte. Er ging jedoch nicht darauf ein und antwortete in erneut freundlicher, fast schon väterlicher Weise.

„Ja, wir sind da. Wie ist dein Name?“

„Samuel.“

„Hallo Samuel, ich bin Bernard. Willkommen in deinem neuen Zuhause.“ Bernard schaute lächelnd zu Samuel, der dieses nach einigen Augenblicken zurückhaltend zu erwidern versuchte.

*

„Auf was starrst du da?“ Samuel zuckte zusammen. Er war so sehr auf die Bodenplatte fixiert, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich das Mädchen namens Emilie eine Reihe vor ihm hingesetzt hatte.

„Auf … die Bodenplatte“, stammelte Samuel. Mangels Alternative war ihm nichts eingefallen, was er stattdessen hätte sagen können.

„Oh. Und? Ist’s so spannend, wie es sich anhört?“, fragte sie unüberhörbar sarkastisch, ohne dabei aber unfreundlich zu klingen, während sie ihn unentwegt anlächelte.

„Es bleibt etwas hinter meinen Erwartungen zurück“, sagte Samuel. Er spürte, wie seltsam er gerade wirken musste. Emilie jedoch schien das nicht zu irritieren, und so verschwand mit einem Male das Bedürfnis, an die Bodenplatte noch einen Gedanken zu verschwenden.

*

„Die beiden dort.“

„Wer?“

„Die beiden in den letzten Reihen.“

„Was ist mit denen?“

„Behalten Sie die bitte für mich in Zukunft im Auge. Ich hab da so ein Gefühl. Haben wir Ton?“

„Klar und deutlich, wir können jedes Wort mithören“

„Gut. Schicken Sie mir alle Aufnahmen, die Sie haben. Am besten noch heute.“

Kapitel 3 – Wie zu Hause, nur anders

Du hast das Recht auf soziale Integrität.

Der Raum, in dem Samuel nun stand, war fast so groß wie sein altes Zimmer, und mindestens ebenso kahl wie in dem Augenblick, als er es zum letzten Mal verlassen hatte. Es gab ein Bettgestell, einen Schrank, eine Kommode, einen Schreibtisch mitsamt Stuhl und einen kleinen Tisch in der letzten Ecke. Das einzige Fenster im Raum bot einen freien Blick auf einen nahegelegenen Wald welcher, was Samuel nicht großartig überraschte, mit einem Maschendrahtzaun vom Gelände der Einrichtung abgetrennt war.

Es hätte alles so wunderbar vertraut wirken können. Der gleiche Ort, das gleiche Zimmer, nur eben woanders. Doch etwas an dem Bettgestell störte Samuel. Es war ungefähr einen Meter breit, zwei Meter lang, und zweistöckig. Er würde wohl noch einen Mitbewohner bekommen, und er wusste noch nicht genau, wie er das finden sollte. Seinen Koffer hatte man ihm abgenommen. Aus Sicherheitsgründen, hatte es geheißen. Erschöpft und immer noch müde setzte er sich auf das Bett und lehnte sich an die Wand. Dabei fielen ihm noch zwei Sachen in dem Raum auf, die auf den ersten Blick nicht gleich ersichtlich gewesen waren. Zum einen eine Digitaluhr direkt über der Zimmertür. Die Ziffern leuchteten in einem angenehmen Blau und verliehen dem Raum zusätzlich eine gewisse Sterilität. Zum anderen war genau gegenüber dem Bett, wenige Zentimeter über dem Schreibtisch, eine rechteckige, in die Wand eingelassene Glasscheibe.

Samuel konnte sich nicht erklären, was diese dort zu suchen hatte. Doch noch bevor er sich darüber lange Gedanken machen konnte, wurde er von dem Klacken der Türklinke aus seinen Überlegungen geworfen. Er wandte seinen Blick zur Tür, und dort im Türrahmen stand, eben noch breit grinsend, nun genervt dreinblickend, Cedric. Der aufgeblasene Vollidiot aus seinem Heimatdorf. Von hunderten Jugendlichen, die mit ihnen angekommen waren, musste es ja unbedingt Cedric sein. Dieser schien ähnlich begeistert von der Aussicht, sich ein Zimmer mit Samuel teilen zu müssen. Er nickte kurz in dessen Richtung und kletterte wortlos auf die obere Matratze.

„Du hast vergessen, die Tür zu schließen“, bemerkte Samuel mit betont gleichgültiger Stimme.

„Mach es halt selbst“, gab Cedric trotzig zurück. Samuel stand auf und ging zur Tür. Er hatte gerade die Klinke einrasten lassen, da spürte er den Boden leicht vibrieren, als hätte hinter ihm gerade jemand zwei Säcke Kartoffeln fallen lassen. Er wandte sich um und sah Cedric, wie er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen und verschlossenen Augen auf dem unteren Bett lag, als wäre er schon die ganze Zeit dort gewesen. Nicht daran interessiert, großartig zu streiten, stieg Samuel resigniert hoch auf das obere Bett und legte sich ebenfalls hin.

Er hob seine Hand und begutachtete mit mehr oder weniger großem Interesse ein Armband, das man ihm direkt nach der Ankunft gegeben hatte. 10-2143-N21-0073. Die Ziffern waren gut leserlich in das breite Band eingraviert.

„Dies ist ab jetzt deine einzige Identifikation, Namen spielen keine Rolle mehr, solange du hier bist. Und ebenso lange wirst du dieses Band tragen müssen, also gewöhn dich schon mal daran“, hatte ihm ein gelangweilt wirkender Mann gesagt, nachdem er ihm dieses Armband angelegt hatte. Wieder etwas, wovon Samuel nicht genau wusste, was er davon halten sollte. Sein Blick wanderte nun von seinem Arm zu der Uhr über der Tür. Es war kurz nach halb eins. Um drei würden sie erfahren, wie es für sie weitergeht, hatte man ihnen gesagt. Genug Zeit, um noch etwas zu schlafen, dachte sich Samuel, und mit einem letzten Blick auf die blau leuchtenden Zahlen schloss er die Augen und versank in Gedanken. Gedanken an seltsame große Männer in Schwarz, flammende Bäume, lose Bodenplatten und ein strahlendes, tiefes Blau, viel schöner noch als das Blau der Ziffern über der Tür.

*

Emilie schaute Samuel erwartungsvoll in die Augen, während dieser nachdenklich ihren Blick erwiderte. Ein paar Momente vergingen, in denen nur das Lachen aus den vorderen Reihen zu ihnen nach hinten drang.

„Volleyball?“, fragte Samuel schließlich.

„Falsch, einen Versuch hast du noch“, gab Emilie zurück.

„Ach, was weiß denn ich. Wassergymnastik?“

„Nein! Komme ich dir etwa so langweilig vor?“

„Muss ich darauf antworten?“ Emilie gab Samuel einen Schlag auf die Schulter, konnte aber ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.

„Nein, ich war eigentlich eher der Stubenhocker. Sport habe ich eigentlich nur so weit gemacht, wie es vorgeschrieben war. Ansonsten habe ich mich eher durch die alten Schinken der Bibliothek gewühlt.“

„Wie hätte ich denn jetzt darauf kommen können?“

„Stimmt, Wassergymnastik wäre viel naheliegender gewesen.“

„Sag ich doch.“ Beide mussten kurz ein wenig lachen, und Samuel merkte, wie die unbehagliche Stimmung vom Anfang immer mehr verflog.

„Und du? Wie steht es bei dir damit?“

„Womit?“, fragte Samuel in einem spontanen Anflug von Verwirrung.

„Lesen. Liest du auch gerne?“

„Damit geht es mir in etwa so wie dir mit Sport, nur das Nötigste.“

„Da hast du aber was verpasst. Ich hoffe ja, dass wir in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen auch eine Bibliothek haben. Das letzte Buch, das ich angefangen habe, konnte ich leider nicht mehr zu Ende lesen.“

„Welches war es denn?“, fragte Samuel, obwohl ihm die Antwort mit Sicherheit nichts sagen würde.

„Die Leiden des jungen Werther.“ Wie Samuel erwartet hatte, konnte er damit nichts anfangen. Emilie bemerkte das und fuhr fort.

„Ich habe ja selbst noch nicht viel davon gelesen, aber der Stil, die Sprache, es ist einfach echt schön zu lesen. Es ist eine Geschichte von einem Autor aus der alten Welt, so etwas wird heutzutage gar nicht mehr geschrieben.“ Emilies Augen fingen förmlich an zu glänzen, während sie davon erzählte. Samuel runzelte ungläubig die Stirn. Er konnte sich gerade so noch ein Lachen verkneifen.

„Ich hätte gar nicht gedacht, dass wir solche Bücher überhaupt haben“, sagte er.

„Wieso denn auch nicht?“, fragte Emilie, plötzlich etwas verdutzt.

„Naja, Bücher aus der alten Welt? Hieß es nicht immer, die seien voll von systemfremden Gedanken?“

„Ach, so ein Unsinn. Das lässt sich mit Sicherheit nicht über alles aus dieser Zeit sagen“, sagte Emilie und schüttelte den Kopf. „Ich finde es eher lehrreich, es ist interessant zu lesen, wie die Menschen früher so gelebt haben und wie man sich die Welt von damals vorstellen kann.“

„Hast ja Recht. Die Leiden des Werthers, ich werde es mir merken.“

„Des jungen Werther.“

„Meine ich doch.“

„Aber nicht, dass du mir das einzige Exemplar am Ende vor der Nase wegschnappst. Dann werde ich sauer.“

„Ich werde mich hüten“, sagte Samuel und grinste, Emilie lächelte zurück, und wieder hörten beide nur noch das Lachen aus den vorderen Reihen.

*

„Guten Tag, Neuankömmlinge!“ Mit diesen Worten wurde Samuel aus seinem Halbschlaf gerissen und sah sich sogleich mit einem unangenehm bekannten Anblick konfrontiert. Remus Carye schaute ihm mit großen Augen, einem freundlichen Grinsen und der üblichen roten Fliege entgegen. Verwirrt setzte Samuel sich auf und stieß sich dabei mit einem dumpfen Knall den Kopf an der Zimmerdecke. Nach ein paar kurzen Momenten des Fluchens fiel ihm zu seiner Erleichterung auf, dass dort nicht der echte Carye zu ihm sprach. Es war eine wesentlich jüngere, unwesentlich dünnere und unverändert ulkig wirkende Version des Remus Caryes, den er kennengelernt hatte, die dort über dem Schreibtisch auf der Glasfläche erschienen war und nun zu ihnen sprach.

„Im Namen der Regierung heiße ich euch alle herzlich willkommen in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, eurem Tor in eine eigenständige Zukunft und einen gesicherten Lebensstandard. Ich kann mir vorstellen, wie aufregend das alles für euch sein muss. Auch ich habe das alles einmal mitgemacht.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, der genau so aussah wie jener im Wagen, in dem vor gut einem Jahr die Jugendlichen in Samuels Dorf befragt wurden. Samuel beschlich die Vermutung, dass man Carye dort womöglich gar nicht mehr rausbekam.

„Aber niemand muss sich hier irgendwelche Sorgen machen. Jeder von euch wird von Anfang an bei der Hand genommen und durch eine ganz individuelle Ausbildung geführt. Jeder wird hier seinen Platz finden, und das kann ich aus jahrelanger Erfahrung behaupten.“ Mit einem zufriedenen Blick klopfte sich der junge Remus Carye auf die Brust.

„Na, wenn selbst das Dickerchen es geschafft hat“, gab Cedric im unteren Bett zum Besten. Fast hätte Samuel erfolgreich verdrängt, dass er sich sein Zimmer mit dem wohl einzigen Menschen teilen musste, den er noch weniger leiden konnte als Carye.

„Und gemäß dem Leitsatz ‚Du bist ein Teil der Gemeinschaft. Vertraue der Gemeinschaft und leiste deinen Teil’ liegt es nun an euch, was ihr aus der gebotenen Chance macht. In diesem Sinne wünsche ich jedem Einzelnen von euch viel Erfolg und eine spannende Zeit. Alles Weitere, was ihr noch wissen müsst, wird euch nun im folgenden Beitrag erklärt. Viel Spaß.“ Remus Carye, der noch ein letztes Mal seinen väterlich-fürsorglichen Blick präsentierte, verschwand von der Bildfläche und ein neues Bild erschien. Ein Mann, klein und stämmig und mit einem Lächeln, das dem seines Vorgängers in nichts nachstand, trat in einem blauen Anzug vor eine Zimmerwand, die der Wand in ihrem Zimmer auf den Zentimeter genau glich.

„Guten Tag, mein Name ist David, und auch ich heiße euch alle bei uns herzlich willkommen. Ich werde euch nun erst mal mit einigen Besonderheiten eures Zimmers vertraut machen. Wenn ihr dies seht, sitzt ihr wahrscheinlich auf euren Betten und habt die Frage, wer wo schläft, mit Sicherheit schon geklärt. Damit habt ihr den komplizierten Teil auch schon hinter euch gebracht.“

David schmiss sich förmlich nach hinten und begann, heftig zu lachen. Es wirkte keineswegs aufgesetzt, er schien tatsächlich das Gefühl zu haben, als habe er gerade etwas unglaublich Witziges gesagt.

„Wie viele darüber wohl gelacht haben?“, fragte Samuel, halb an Cedric gewandt, halb ins Leere gesprochen. Sein Mitbewohner blieb stumm, und Samuel beschlich das Gefühl, dass von dessen Seite wohl wenig Interesse daran bestand, der Situation das Beste abzugewinnen.

„Nun zu diesem Bildschirm, den ihr an eurer Wand finden könnt. Aber auch das habt ihr wahrscheinlich schon erfolgreich hinter euch gebracht.“ Wieder lachte David über sich selbst, dieses Mal jedoch etwas zurückhaltender.

„Dieser ist das wohl wichtigste Element in eurem Zimmer. Es dient nicht nur der Nachrichtenübermittlung unsererseits, sondern auch als Arbeits- und Organisationswerkzeug sowie als Unterhaltungsmittel. Zuallererst muss es aber angeschaltet werden. Dazu legt ihr eure Hand, und zwar die mit eurem Identifikationsarmband, auf die dafür vorgesehene Fläche auf dem Schreibtisch, den so genannten Scanner. Der befindet sich auf der linken Seite.“ David legte seine Hand auf eine quadratische, leicht dunklere Fläche auf dem vorderen Schreibtischrand und der Bildschirm hinter ihm leuchtete auf. Was dabei zum Vorschein kam, brachte tatsächlich beide Jungs zum Lachen, jedoch weniger, weil es tatsächlich lustig, viel eher unbestreitbar lächerlich war. So empfand es zumindest Samuel. Ein zweiter David erschien, nicht minder übertrieben grinsend, und fing vergnügt an zu sprechen.

„Oh, Hallo David!“

„Guten Tag, David! Ich wollte den Neuankömmlingen gerade erklären, wie dieses tolle Gerät hier funktioniert. Möchtest du mir dabei helfen?“ Was nun folgte, war ein halbstündiger Vortrag in Form eines Gesprächs eines Mannes mit sich selbst. Aber so erfuhren sie wenigstens, wie sie sich hier ihre Zeit vertreiben konnten.

„Bedenkt aber stets, dass ihr bestimmte Inhalte nur zu bestimmten Zeiten einsehen könnt. So könnt ihr zum Beispiel Filme und Musik nur in eurer Freizeit abrufen, nicht aber während der Arbeits- und Schlafenszeit.“

„Und woher weiß ich, wann diese Zeiten sind?“, fragte der erste David sein Ebenbild auf dem Schirm hinter sich.

„Gute Frage. Eure jeweiligen Tagespläne sind hier jederzeit abrufbar und können auch an jedem Terminal in den Einrichtungen mithilfe eures Armbandes temporär heruntergeladen werden. Die Abläufe aller Neuankömmlinge sind vorerst nahezu identisch, es findet jedoch eine schrittweise Individualisierung je nach Entwicklung statt. Außerdem wird gerade im ersten Jahr und in den meisten Fällen auch darüber hinaus Wert auf strikte Geschlechtertrennung gelegt.“ Eine weitere, noch weniger interessante halbe Stunde folgte, in der David sich etwas über die genaue Organisation der Lehrstunden und den Aufbau der Einrichtungen erzählte.

Als es endlich vorbei war, hatte sich Samuel jedoch nur eines wirklich sicher merken können: Die blauen Wegweiser auf den Böden der Flure führten zur Kantine. Erst als David davon erzählt hatte, merkte Samuel, was für einen wahnsinnigen Hunger er hatte. Die beiden Davids hatten sich gerade erst verabschiedet mit der Aufforderung, man solle nun zum Essen gehen, da schwang Samuel sich auch direkt von seinem Bett und wollte zur Tür.

„Was für ein herzlicher Empfang“, sagte er nach einer wenig eleganten Landung. Cedric hinter ihm lachte kurz auf und erhob sich ebenfalls.

„Allerdings“, sagte dieser, und Samuel schaute ihn kurz ein wenig verdutzt an.

„Dann hatte der Vortrag ja doch sein Gutes. Das erste normale Gespräch zwischen uns.“

„Ja, Wahnsinn“, entgegnete Cedric. „Lass uns Shirts tauschen und nachher ein Bett teilen.“ Er schob Samuel beiseite und öffnete die Tür. Der Flur, in den sie nun schauten, war relativ breit, doch trotzdem brechend voll mit Jungs, die alle scheinbar dem Aufruf in die Kantine folgten.

„Na, was vermutest du? Wo müssen wir hin?“, fragte Cedric genervt.

„Da müssen wir wohl kurz warten, ich sehe die Wegweiser vor lauter Menschen nicht“, sagte Samuel und lehnte sich an den Türrahmen.

*

Der Auflauf hatte sich so schnell gelöst, wie er entstanden war, und so fanden sich Cedric und Samuel nur kurze Zeit später in der Kantine wieder. Bis kurz zuvor hatte Samuel es noch für äußerst clever gehalten, ein wenig zu warten, um dem großen Gedrängel zu entgehen. Nun jedoch musste er feststellen, dass es wohl doch lohnenswert gewesen wäre, etwas energischer vorzugehen. Die Schlange an der Essensausgabe war zwar inzwischen relativ kurz, dafür schien jeder einzelne Platz an den Tischen besetzt zu sein.

„Ob wir da noch irgendwo einen Platz …“, sagte Samuel an Cedric gewandt, brach den Satz jedoch jäh ab. Sein Mitbewohner hatte sich schon in Richtung Essensausgabe davongemacht und ein kleiner Junge, der zufällig neben ihm stand, schaute Samuel verwirrt an.

„Tut mir leid, ich hab wen anders …“, doch auch dieser Satz blieb unvollendet, nachdem sich der Junge kopfschüttelnd von ihm abgewandt hatte und sich ebenfalls in die Schlange einreihte. Auch wenn der Junge fast einen Kopf kleiner war als er, fühlte Samuel sich in diesem Moment unangenehm winzig und verloren, was in Relation zu dem riesigen Raum auch durchaus zutraf. Um nicht von eventuellen weiteren Nachzüglern überrumpelt zu werden, stellte auch Samuel sich an das Ende der Schlange. Zu seiner Überraschung ging die Ausgabe angenehm schnell und es dauerte nicht lange, da stand er mit einem Teller voll mit Kartoffeln, Soße und etwas, von dem er glaubte, dass es Fisch hätte gewesen sein können, vor der Wahl seines Sitzplatzes, wobei diese mangels Alternative recht leichtfiel. Das Hinkommen entpuppte sich allerdings als ernstes Problem. In der letzten Ecke an einem Tisch mit acht Stühlen war noch genau ein Platz frei. Nachdem er dutzende Male um Durchlass hatte bitten müssen und einige Male gestolpert war, konnte er sich endlich setzen. Währenddessen war sein Sitznachbar gerade emsig dabei, über sein Zimmer zu schwärmen.

„Und erst die Bildschirme. Ich fand es schon in der Schule immer so interessant, wenn wir damit was gemacht haben. Aber jetzt so ein Teil fast für sich alleine zu haben! Wahnsinn! Und Spiele gibt es dafür auch.“

„Wo kommst du her?“, fragte ein schläfrig dreinblickender Junge ihm gegenüber. „Bei uns durften nur die Lehrer mit so etwas arbeiten.“

„Aus der Nähe des Zentrums“, gab der immer noch vor Begeisterung strahlende Junge zur Antwort. „Fast direkt an der südlichen Zentrumsgrenze.“ Samuel, der sich inzwischen hingesetzt hatte und beginnen wollte zu essen, fielen in diesem Moment zwei Dinge auf. Zum einen hatten mit großer Wahrscheinlichkeit zwei seiner Kartoffeln auf dem Weg zu seinem Platz einen Abgang gemacht. Zum anderen stellte er beeindruckt fest, dass tatsächlich alle einen Platz gefunden hatten. Trotz der riesigen Menge an Jungen musste kein einziger von ihnen stehen oder warten. Es war aber auch augenscheinlich kein Platz mehr übrig. Die Aufteilung der Jugendlichen schien gut aufzugehen.

Er war aber offenbar der Einzige, den dies begeisterte. Die Gespräche um ihn herum hatten allesamt die gleichen Themen: die Zimmer, das Essen und die Frage danach, woher man kam. Darum bemüht, dabei ernsthaft daran interessiert zu wirken, stieß er seinen anderen Sitznachbar an, ohne diesen dabei richtig anzusehen.

„Und, wo kommst du her?“

„Witzbold.“ Samuel wandte den Kopf zur Seite. Wie hätte es auch anders sein können, er hatte sich neben Cedric gesetzt. Bei all den möglichen Plätzen im Raum musste es ausgerechnet der neben diesem Spinner sein, und Samuel hatte es beim Hinsetzen nicht einmal bemerkt. Aber irgendetwas stimmte nicht mit Cedric. Früher wäre zu diesem Zeitpunkt längst der erste dumme Spruch gefallen oder Samuel wäre durch irgendeine andere dämliche Aktion Cedrics auf dessen Anwesenheit aufmerksam geworden. Doch er schien ungewöhnlich ruhig, dabei aber auch etwas angespannt. Witzbold war so ziemlich die netteste Bezeichnung, die Cedric ihm jemals entgegengeworfen hatte. „Hat wohl noch keine neuen Freunde gefunden“, dachte sich Samuel und machte sich über sein Essen her. Es schmeckte bescheiden, für seine Arme hatte er zwischen zwei Leuten kaum Bewegungsfreiheit und seiner Nase nach schien irgendjemand in seinem näheren Umfeld relativ wenig von Hygiene zu halten. Trotzdem genoss Samuel den Moment. Hier, mit all den anderen Jungs beim Essen, hatte er das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein.

*

„Guten Morgen, alle zusammen!“ Samuel riss die Augen auf. Wieder war der Bildschirm von alleine angesprungen, dieses Mal allerdings war dort niemand zu sehen. Die Stimme kam wie aus dem Nichts. Stattdessen flimmerten Wirbel und Spiralen in verschiedensten Farben über den Schirm und bewegten sich im Takt einer zwar angenehmen, aber immer lauter werdenden Melodie. Genervt drehte Samuel sich noch einmal unter seiner Decke und schlang sich das Kissen um den Kopf. Nach einer Weile war die Musik jedoch so laut, dass das kaum mehr ausreichte. Als das Bettgestell begann, immer stärker zu vibrieren, fing Samuel schließlich an zu brüllen.

„Jetzt mach endlich das bescheuerte Ding aus!“ Gnadenlos wurde ihm daraufhin die Decke weggezogen, und Cedric schaute ihn finster an.

„Solange wir zu zweit hier sind, können wir das auch nur zu zweit ausmachen, du Idiot.“ Samuel blickte hinab. Cedric hielt sein Handgelenk mit dem Armband an die quadratische Fläche auf dem Schreibtisch und rüttelte ungeduldig mit der freien Hand am Bett. Da fiel es Samuel wieder ein. Irgendwann zwischen der Frage nach den Toiletten und der Organisation des Unterrichts hatte David auch über dieses eine tückische Detail ihres Weckers berichtet: Er konnte nur von allen im Raum Anwesenden abgestellt werden.

Träge kugelte sich Samuel in Richtung Bettkante, setzte sich auf und stieg zu Cedric herunter. Als der Wecker endlich aus war, schauten beide auf das blaue Zahlenfeld über der Tür. Kurz nach sieben.

„Na dann, noch einmal ab ins Bett“, sagte Cedric und schmiss sich wuchtig wieder auf seine Matratze. In dem Moment ertönte erneut eine Melodie, sie war jedoch wesentlich schriller und ab der ersten Sekunde fast unerträglich laut. Cedric schnellte wieder hoch, sprang förmlich in die Vertikale und blickte verwirrt auf den Schirm. Im gleichen Moment verstummte die Melodie.

„Ist das deren Ernst?“, fluchte er und kratzte sich verschlafen am Hinterkopf.

„Wer wollte denn da noch etwas ausschlafen?“, ertönte eine freundliche Stimme.

„Einen Versuch war es wert“, sagte Samuel sichtlich amüsiert.

„Ach komm, sei ruhig“, entgegnete Cedric, ging an Samuel vorbei zur Tür und wandte sich vor dem Öffnen noch einmal um.

„Komm ja nicht auf die Idee, mir zu folgen.“

„Wir müssen in die gleiche Richtung.“

„Dann geh halt später.“ Mit diesen Worten und dezentem Nachdruck schloss Cedric die Tür hinter sich, und Samuel war der Meinung, dass etwas Warten nicht schaden könnte. Als wenige Minuten später im Zimmer nebenan ebenfalls eine noch einen Raum weiter gut hörbare, schreckliche Melodie zu dröhnen begann, machte sich auch Samuel mit einem leichten Anflug von Schadenfreude seinem Zimmernachbarn gegenüber auf den Weg. Knapp eine halbe Stunde später und inzwischen auch halbwegs wach kam Samuel aus den Duschräumen zurück ins Zimmer. Cedric stand gerade am Schreibtisch und las sich den Tagesplan durch.

„Und, wo müssen wir hin?“, fragte Samuel.

„Schau halt nach“, gab Cedric wenig überraschend genervt zurück und nahm seine Hand vom Scanner. Augenblicklich verschwand der Plan vom Bildschirm, und Cedric ging wortlos wieder aus dem Zimmer. Samuel fragte sich, wie lange Cedric das wohl durchhalten würde, sich nicht mit ihm zu unterhalten. Er hielt sein Handgelenk über den Scanner, und sofort erschien ein kleines Fenster auf dem Bildschirm. Samuel berührte sachte eine Fläche, auf der Tagesplan stand, und es erschien eine Liste, die ziemlich genau wie die aussah, die Cedric eben schon geöffnet hatte:

07.00 Aufstehen

07.30-08.10 Frühstück

08.15-09.45 Basiskurs Wirtschafts- und Systemkunde

10.15-11.45 Basiskurs Gesundheit und Ernährung

12.00-13.00 Mittagessen

13.15-14.45 Basiskurs Geschichte

15.00-17.00 Freizeit (Jungs Aufenthaltsbereiche A, C und D + Bibliothek, Mädchen Aufenthaltsbereiche B, E und F + Sportanlagen)

17.15-18.45 Gemeinschaftssport

19.00-20.00 Abendessen

20.15-22.30 Freizeit (Jungs Aufenthaltsbereiche B, E und F + Sportanlagen + Zimmer, Mädchen Aufenthaltsbereiche A, C und D + Bibliothek + Zimmer)

22.45 Nachtappell

Nachdem Samuel sich von der schieren Wucht dieses vollen Zeitplans erholt hatte, fiel ihm auf, worauf er sich am ersten Tag wohl am meisten freuen würde. Er würde nur noch etwas mehr als sieben Stunden darauf warten müssen. In leichter Aufregung über das, was er sich für nachher vorgenommen hatte, setzte er sich noch einmal kurz auf die untere Bettkante, was er sofort bereuen sollte. „Es wird von Mal zu Mal immer lauter. Wie diabolisch“, dachte er und machte sich auf in Richtung Kantine.

*

„Eine Lieferung für Sie.“

„Was … Wie bitte?“

„Eine Lieferung. Neuware.“

„Ich habe nichts bestellt.“

„Anordnung von der Einrichtungsleitung.“

„Wir haben seit Ewigkeiten nichts mehr bekommen. Nur eins? Im Ernst?“

„Ja. Mehr gibt es nicht.“

„Würden Sie den Großkotzen da oben vielleicht mal sagen, dass sie anscheinend nicht mehr alle beisammen haben?“

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23 aralık 2023
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