Kitabı oku: «Das Netz ist politisch – Teil I», sayfa 2
«Ausreisser»-Phänomen
Was Trudeau genau zum Idioten qualifiziert, bleibt bis zum Ende unklar. Die Spekulation allein hat gereicht, dass man in die Clickbait-Falle getappt ist. Verweildauer: 6 Minuten, 34 Sekunden. Die Zuschauerin beförderte mit ihrer Neugier, dass das Video[12] in der Empfehlungsleiste in den obersten Plätzen rangiert.
Das Justin-Trudeau-Phänomen zeigt sich bei vielen anderen liberalen und linken Politikern. Nur wenige Entscheidungsträger haben auf Youtube eine loyale Community[13], wie das bei Musikstars der Fall ist. Ihnen fehlen die «Fan-Videos», die gerade negative, rufschädigende Beiträge der Alt-Right-Bewegung ausbalancieren.
«Gerade in Fällen von geringer Nachfrage kann eine aktive Gruppe die Ergebnisse überproportional beeinflussen. Youtube nimmt somit einen Zusammenhang an, der objektiv gar nicht existiert», sagt der Youtube-Experte und Medienwissenschaftler Bertram Gugel.
Anti-Hillary-Videomaterial dominierte
Die extreme Rechte hatte auch 2016 die Nase vorn. Youtube ist im Kontext der US-Wahlen die am meisten unterschätzte Plattform[14], sagt Internet-Soziologin Zeynep Tufekci[15]. Nach Angaben von Google wurden in den Swing States – also in den Staaten, die am Ende den Ausschlag für die Wahl von Trump gaben – stundenweise Trump-Videos verschlungen.[16] Egal, nach welchem Kandidaten man auf Youtube suchte, der Trend ging fast immer in dieselbe Richtung: gegen Hillary Clinton. Mit absurden und erfundenen Geschichten.
Der ehemalige Youtube-Ingenieur Guillaume Chaslot[17] kann das belegen. Er verliess das Unternehmen 2013. Angeblich, weil er die Konsequenzen der Algorithmusänderung von 2012 nicht länger verantworten konnte.
Chaslot wies mit seiner Anwendung «Algo Transparency»[18] nach, dass siebzig Prozent aller Videos im US-Präsidentschaftswahlkampf Clinton-feindlich[19] gewesen seien. Am 7. November 2016 figurierten Videos wie «Alert Shocking! Anonymous to Reveal Bill Clinton Pedo Video Hillary for Prison!» (über eine Million Aufrufe) weit oben in fast allen wahlrelevanten Suchanfragen.
Das «Radikalisierungs-Netflix»
Während die Weltöffentlichkeit in den letzten Jahren auf Facebook eindrosch, hat sich Youtube ungestört zu einer Art «Radikalisierungs-Netflix» entwickelt. Hier ist die Fake-News-Problematik ausgeprägter als anderswo. Dennoch fehlte bislang der grosse Aufschrei rund um das Videonetzwerk von Google.
Das liegt unter anderem am Erwartungsmanagement der Plattformen. Auf Facebook präsentieren Algorithmen ein Kunterbunt an Filmchen, Memes, Status-Befindlichkeiten oder Boulevard-Artikeln. Das Überraschungselement ist gross, die Empörung über verstörende Propagandainhalte ebenso. Man fühlt sich fremdgesteuert.
Youtube suchen wir hingegen gezielt auf. Hier navigieren wir uns mit Klicks und Suchstichworten durch den Kosmos und schreiben uns eine grössere Eigenverantwortung an den Resultaten zu. Dabei ist unsere Autonomie aufgrund des ausgeklügelten Algorithmus genauso beschränkt.
Kosmetische Verbesserungen
Es ist nicht so, dass dem dreizehnjährigen Konzern diese negativen Entwicklungen unbekannt wären. Das Netzwerk reagierte bei jeder negativen Schlagzeile. Doch oft nur zögerlich und mit minimalen Verbesserungen. Ein Beispiel: 2017 listete die Londoner «Times»[20] in einem brisanten Bericht Werbespots auf, die im Vorfeld islamistischer Propagandavideos automatisch ausgespielt wurden.
Die Opfer – darunter der britische Rundfunk BBC und die Bank JP Morgan Chase – stoppten sofort ihre Werbegelder. Daraufhin kündigte Youtube-Chefin Susan Wojcicki, die das Unternehmen seit 2014 führt, Massnahmen[21] an: Kanäle, die weniger als tausend Abonnentinnen und wenig Verweildauer aufweisen, sollten gekappt werden. Damit sollten die problematischen Hetzerkanäle wegen fehlender kommerzieller Anreize von allein verschwinden.
Der Schritt verfehlte sein Ziel: Verschwörungstheoretiker wie Paul Joseph Watson haben ein Millionenpublikum. Nach der Logik von Wojcickis Massnahme bietet Watson Videos von «hoher Qualität».
Es wird wieder am Algorithmus geschraubt
Es brauchte Damores Google-Manifest und die verstörende Frage ihrer Tochter, die Youtube-Chefin Wojcicki zum Umdenken bewegte. Vor einigen Wochen präsentierte sie endlich einen Erfolg versprechenden Lösungsansatz: Sie lässt an den Komponenten ihres Erfolgsmodells[22], dem Empfehlungsalgorithmus, schrauben.
Neu ist nicht mehr nur die Verweildauer der wichtigste Parameter. Auch der Absender wird relevant. Seriöse Video-Anbieter wie Vox, SRF oder CNN sollen immer bevorzugt werden.
Bevorzugung nützt jedoch wenig, wenn kein Filmmaterial vorhanden ist. Die traditionellen Medien sind zu träge. Auch wenn Youtube die attraktivsten Produktionsbedingungen[23] bietet: Die meisten Medienhäuser priorisieren im Netz immer noch Textformate, weil die Videoproduktion zu aufwendig ist.
Rechte Vlogger sind dynamischer
Ihr Publikationsrhythmus ist länger als derjenige der Videoblogger (Vlogger). Um beim Beispiel Justin Trudeau zu bleiben: Einer der letzten Beiträge[24] von «Guardian» und CNN stammt vom 10. Juni, als der kanadische Premier am G7-Gipfel öffentlich Kritik an Donald Trumps Handelsrestriktionen führte.
Danach sorgte er kaum noch für Schlagzeilen. Dies bevorteilte wiederum die Youtube-Stars Ben Shapiro und Paul Joseph Watson. Die beiden konservativen Youtube-Berühmtheiten sind agiler, hauen im Wochentakt Filme raus und leben sogar davon.
Um den Medien Bewegtbildinhalte schmackhafter zu machen, gibt es eine einfache Lösung: mehr Geld. Es muss sich lohnen, Filmchen zu produzieren. Youtube hat das nun begriffen. Und Mitte Juli beschlossen, 25 Millionen Dollar[25] in den Aufbau von Video-Know-how in Medienhäusern zu investieren.
Gut für die Bürgerin
CEO Susan Wojcicki möchte aus Youtube eine seriöse Nachrichten-Bibliothek[26] formen. Auch andere Plattformen wie Facebook bekämpfen virale Fake-News-Videos, indem sie traditionelle Medien mit finanziellen Anreizen locken. Ironischerweise kopieren die sozialen Netzwerke damit immer mehr das totgeschriebene lineare Fernsehen.
Das Buhlen um etablierte Medien kommt immerhin uns Bürgerinnen zugute und damit der Demokratie. Vorausgesetzt, wir schauen uns die Nachrichtenvideos tatsächlich bis zum Schluss an. Und bleiben nicht beim pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuch eines Professors hängen, weshalb Frauen ungeeignet für Management-Positionen sein sollten.
Recherche-Update vom September 2020
Das Radikalisierungsproblem wurde mit Wojcickis Initiative noch nicht aus der Welt geschafft, jedoch in grossem Umfang reduziert. In der Zwischenzeit bestätigte eine Reihe weiterer publizierter Berichte das Extremismusproblem der populärsten Videoplattform: Im August 2019 – also im darauffolgenden Jahr – publizierte das FBI einen Report[27], der die Zunahme der Verschwörungstheorien und damit verbundenen Gefahren für die Meinungsbildung in Demokratien bestätigte. Guillaume Chaslot und seine Gruppe der University of California und der Mozilla Foundation stellen in einer neuen Studie[28] einen regelrechten Boom von Verschwörungsinhalten im Jahr 2018 fest. Weitere wissenschaftliche Evidenz lieferte ein Paper der brasilianischen Universität UFMG und der Lausanner EPFL, das im Herbst 2019 erschien. Im Beitrag «Auditing Radicalization Pathways on YouTube»[29] versuchten die Forscherinnen und Forscher sogenannte Radikalisierungspfade auf Youtube nachzuzeichnen. Ihr Fazit: Wer konservativere oder patriotische Gesinnung hat, bekommt nach einer gewissen Zeit nur noch extremere Alt-Right-Videos vorgeschlagen. Die Forscher haben dies unter anderem anhand des Kommentarverhaltens von Youtube-Nutzerinnen nachzeichnen können. Mit dem im August 2020 lancierten neuen Projekt von Tomo Kihara «Their.Tube»[30] kann man die einzelnen Personalisierungs- und Radikalisierungspfade nachverfolgen. Das Projekt kreierte dafür 6 verschiedene «Persona», etwa den Verschwörungstheoretiker, die Konservative, den Linken, die Klimaleugnerin etc. Je nach angewähltem Profil sieht man unterschiedliche Startseiten auf Youtube. Their.Tube ist Open Source und ein Teil der Mozilla Creative Media Awards 2020[31], einem Kunst- und Advocacy-Projekt für die Untersuchung von KI und ihres Effekts auf Medien und die Wahrheit.
Zwar bestritt Chief Product Officer von Youtube, Neal Mohan, dass die Betrachtungszeit ein Treiber für die Empfehlungsalgorithmen darstelle.[32] Doch bis heute verweigert der Konzern Transparenz darüber, wie genau die Empfehlungen ablaufen. Welche weiteren Variablen genau wie die Resultate beeinflussen, bleibt also eine Black Box. Youtube-CEO Susan Wojcicki kündigte zu Beginn 2019[33] an, neben der Einführung von informativen Wikipedia-Links neu auch Falschaussagen, die die Nutzer auf «schädliche Art und Weise» falsch informieren, herunterzustufen. Als Beispiel nannte sie die Flat-Earth-Bewegung. Gemäss eigenen Angaben konnte Youtube damit um 70 Prozent von extremistischen Inhalten reduzieren.[34] Diese nahmen 2019 im ersten halben Jahr effektiv durch die Interventionen ab.
Einer der grössten Kritiker, Guillaume Chaslot, behauptete, dass YouTube bewusst entschieden habe, manche «Falschinformationen» nicht herunterzustufen.[35] Diese These wurde auch von einem Insider-Bericht von Bloomberg von April 2019[36] gestützt, wonach Youtube-CEO Susan Wojcicki mehrfach von Moderatoren und Ingenieurinnen auf die Desinformationsproblematik hingewiesen wurde. Doch sie unterliess es lange Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.
Immerhin scheint Youtube bei der Corona-Krise einen besseren Job gegen Desinformation zu leisten. Offizielle Informationen des Bundesamts für Gesundheit werden prominent angezeigt, sobald man sich über das Corona-Virus informieren will. Die überwiegende Mehrheit der Videos hat keinerlei Bezug zu Verschwörungstheorien oder liefert keine Fundamentalkritik an den Corona-Massnahmen, bilanziert Spiegel Online[37] bei einer eigenen Auswertung zu den Suchbegriffen rund um das Corona-Virus. Nachrichtensendungen, Erklärformate und Reportagen von etablierten Medien werden in den ersten Suchrängen angezeigt.
Dennoch gibt es zahlreiche Reizthemen und auch Personen, bei denen verschwörungstheoretische Inhalte immer noch unter den Top 5 figurierten: So erschien am 24. Mai 2020 unter der Sucheingabe «Bill Gates» bei vielen deutschsprachigen Nutzerinnen und Nutzern unter den ersten Rängen ein Video des berühmten Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen unter seinem Kanal «KenFM». Unabhängig vom Status (eingeloggt/nicht eingeloggt) und der personalisierten Vorgeschichte, vorwiegend auf Windows und Android-Geräten.
Der Grund für diese prominente Platzierung mag in der Aktualität liegen. Das Video wurde erst am 23. Mai hinaufgeladen und errang in kurzer Zeit mehrere hunderttausende Views, was auf die prominente Platzierung einzahlte. Dies legt die Vermutung nahe, dass Moderatoren und Ingenieurinnen das entsprechende Video einfach noch nicht algorithmisch «abgestraft» hatten. Zwei Tage später war das Video praktisch von der Suchleiste verschwunden. Obwohl es an diesem Tag fast eine halbe Million Aufrufe verzeichnete. Das Downgrading des Jebsen-Videos fand also statt, wenn auch um Tage verzögert. Youtube hinkt damit der Agilität der Verschwörungstheoretiker stets hinterher.
Diese profitieren von den Newsbedürfnissen von Internetkonsumenten. Bei einem Anschlag produzieren Amateure oder gerade auch extremistische Bewegungen Videos, in denen sie das Geschehen gemäss ihrer Weltanschauung «einordnen», oft lange Zeit bevor Fakten über den Vorfall gesichert und verifiziert worden sind. Die Mainstream-Medien befinden sich in diesem Augenblick aber erst im Recherchestadium. Da sie Fakten zuerst seriös recherchieren möchten, verstreichen Stunden, bis ein erster publizierbarer Beitrag entsteht.
Dieses Informationsvakuum zu einem Suchbegriff wird gefüllt: von sogenannten Alt-Right-Youtubern wie Paul Watson, alternativen Medien und weiteren extremeren Bewegungen. Da helfen auch die im Text versprochenen Finanzspritzen von Youtube zugunsten der etablierten Medienmarken selbst wenig.
Dieses Phänomen nennen die beiden Forscher von Microsoft und Bing Danah Boyd und Michael Golebiewski übrigens «Data Voids». Gemeint ist die Informationslücke beziehungsweise das fehlende Informationsangebot von seriös recherchierenden Medien bei gewissen aufflackernden Themen. Die Alternativmedien preschen vor und füllen diese Lücke – gerade bei kritischen Zeitfenstern wie Terroranschlägen, politischen Grossereignissen etc. – auf Suchmaschinen und Plattformen mit schnell produzierten, tendenziösen und hetzerischen Videos. Viele Views und Klicks perpetuieren dann die prominenten Ränge. Die Lösung dieses Problems wird die Plattformen und Suchmaschinen, die die Meinungsfreiheit nicht einschränken möchten, aber auch nicht zur Desinformationsschleuder verkommen wollen, sicherlich noch jahrelang beschäftigen.
1 <https://www.theguardian.com/technology/2017/aug/13/james-damore-google-memo-youtube-white-men-radicalization> ↵
2 <https://gizmodo.com/exclusive-heres-the-full-10-page-anti-diversity-screed-1797564320> ↵
3 <https://www.theguardian.com/technology/2017/aug/13/james-damore-google-memo-youtube-white-men-radicalization> ↵
4 <https://www.theatlantic.com/politics/archive/2018/03/youtube-extremism-and-the-long-tail/555350/> ↵
5 <https://medium.com/@guillaumechaslot/how-youtubes-a-i-boosts-alternative-facts-3cc276f47cf7> ↵
6 <https://youtube-creators.googleblog.com/2012/08/youtube-now-why-we-focus-on-watch-time.html> ↵
7 <https://www.wsj.com/articles/how-youtube-drives-viewers-to-the-internets-darkest-corners-1518020478> ↵
8 <https://www.nbcnews.com/tech/social-media/algorithms-take-over-youtube-s-recommendations-highlight-human-problem-n867596> ↵
9 <https://www.nytimes.com/2018/03/10/opinion/sunday/youtube-politics-radical.html> ↵
10 <https://www.pewinternet.org/2018/05/31/teens-social-media-technology-2018/> ↵
11 <https://www.youtube.com/results?search_query=justin+trudeau> ↵
12 <https://www.youtube.com/watch?v=XSe3vQCRXvI> ↵
13 <https://www.youtube.com/watch?v=Rj0akA2G_Kc&feature=youtu.be&t=23m24s> ↵
14 <https://www.nytimes.com/2018/03/10/opinion/sunday/youtube-politics-radical.html> ↵
15 <https://www.republik.ch/2018/03/27/menschen-wuerden-ihre-daten-verkaufen-wenn-sie-koennten> ↵
16 <https://medium.com/google-news-lab/building-a-youtube-county-map-976bd2b1ec01> ↵
17 <https://www.theguardian.com/technology/2018/feb/02/youtube-algorithm-election-clinton-trump-guillaume-chaslot> ↵
18 <https://algotransparency.org/?candidat=is%20the%20earth%20flat%20or%20round?&file=ytrecos-science-2018-07-05&date=04-09-2019&keyword=> ↵
19 <https://medium.com/the-graph/youtubes-ai-is-neutral-towards-clicks-but-is-biased-towards-people-and-ideas-3a2f643dea9a> ↵
20 <https://www.thetimes.co.uk/article/global-brands-shun-google-p9zlr7bq7> ↵
21 <https://www.heise.de/newsticker/meldung/Strengere-Regeln-fuer-YouTube-Kanaele-die-Geld-verdienen-wollen-3944497.html> ↵
22 <https://youtube.googleblog.com/2018/07/building-better-news-experience-on.html> ↵
23 <https://digiday.com/media/the-atlantic-focus-youtube/> ↵
24 <https://www.youtube.com/watch?v=kWrGLKO2fOA> ↵
25 <https://youtube.googleblog.com/2018/07/building-better-news-experience-on.html> ↵
26 <https://www.hollywoodreporter.com/news/sxsw-youtube-ceo-enlists-wikipedia-curb-fake-news-videos-1094314> ↵
27 <https://mashable.com/article/fbi-conspiracy-theories-domestic-terror-social-media/> ↵
28 <https://arxiv.org/abs/2003.03318> ↵
29 <https://arxiv.org/abs/1908.08313> ↵
30 <http://www.their.tube/leftist> ↵
31 <https://foundation.mozilla.org/en/blog/examining-ais-effect-on-media-and-truth/> ↵
32 <https://www.nytimes.com/2019/03/29/technology/youtube-online-extremism.html> ↵
33 <https://youtube.googleblog.com/2019/01/continuing-our-work-to-improve.html> ↵
34 <https://blog.youtube/inside-youtube/the-four-rs-of-responsibility-raise-and-reduce> ↵
35 <https://www.getrevue.co/profile/caseynewton/issues/an-ex-youtube-engineer-has-a-warning-for-democracy-95073> ↵
36 <https://www.bloomberg.com/news/features/2019-04-02/youtube-executives-ignored-warnings-letting-toxic-videos-run-rampant> ↵
37 <https://www.spiegel.de/netzwelt/web/corona-verschwoerungstheorien-und-die-akteure-dahinter-bill-gates-impfzwang-und-co-a-2e9a0e78-4375-4dbd-815f-54571750d32d> ↵
Warum Island keine eigene Verfassung hat. Eine nordische Saga
Nach der Finanzkrise wagten die Isländer eine weltweite Premiere: Sie schrieben ihre Verfassung neu – im Internet. Das Projekt scheiterte. Weil das alte Establishment zurückschlug.
Erschienen als optische Version mit Fotografien[1] in der Republik, 05. September 2018
Einzigartiges Inselvolk: Nach der Finanzkrise starteten die Isländer ein nie gesehenes Crowdsourcing-Experiment in Sachen Demokratie.Wenn die Isländerinnen die Geschichte ihrer gescheiterten Demokratie-Revolution erzählen, reden sie gern in Bildern. Sie erzählen von mäandrierenden Öltankern oder brennenden Schlössern. Von Helden und Bösewichten.
Die Guten, die Bösen, das sind dann gern Figuren aus berühmten Isländersagas. Wie beispielsweise Grettir Ásmundarsonar[2], einer der stärksten isländischen Wikinger. Nach seinem Sieg über Glámur, den bösen Untoten, wird er verflucht und am Schluss von seinen eigenen Anhängern verbannt.
In unserer Demokratie-Saga wirken Grettir und Glámur ebenfalls mit.
Der tragische Held Grettir: die Sozialdemokratische «Allianz».
Der nicht totzukriegende Glámur: die konservative Unabhängigkeitspartei.
Unsere Geschichte spielt in den Jahren 2009 bis 2013 – und das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.
Wieder eine bankrotte Vulkaninsel
Die Isländer akzeptieren nur eine Form von höherer Macht: die Natur. Die Erde lebt hier jede Minute. Auslaufende Gletscher, die den Strassenverkehr aufhalten. Eruptierende Vulkane, die den Flugverkehr stilllegen.
Deswegen planen die Einwohnerinnen Islands nur ungern weit im Voraus. Sie haben sich mit ihrer Insel arrangiert. Die Route ist schon wieder überschwemmt? Ein Gletscherstrom, wo vorher Strasse war? Der morgige Ausflug fällt ins Wasser? Trinkt man halt noch ein Bier im Pub.
Es gibt nur eine Katastrophenart, die die Isländer wirklich aus der Fassung bringt – die menschengemachte. Eine wie im Herbst 2008: Über Nacht gehen drei isländische Banken pleite. Die Börse bricht um 90 Prozent[3] ein. Noch im August 2008 war Island eines der reichsten Länder der Welt, mit den meisten Auslandsinvestitionen und einem grosszügigen Wohlfahrtsstaat. Am 1. Oktober 2008 ist es nur noch eine bankrotte Vulkaninsel. Wie zu Beginn der 1960er-Jahre, nur mit noch mehr Schulden. Kein anderes Land wird so hart getroffen von der Finanzkrise.
Den Dänemark-Klon loswerden
Die Unabhängigkeitspartei dominierte jahrzehntelang die Politik. Ihr Credo: «Wachstum, Wachstum, Reichtum». Unterstützt von den Banken, die billige Kredite streuen wie Geysire.
Doch nach der Bankenpleite sackt die isländische Krone ins Bodenlose. Und die Schulden in Fremdwährungen schnellen in die Höhe. Für das Einfamilienhaus wird plötzlich die Hypothek im Wert eines Palastes fällig.
Der Zorn der Isländerinnen ist gross.
Ein Bösewicht, ein Glámur, muss her. Und ein Held, der ihn erschlägt.
Der isländische Premierminister Geir Haarde dankt ab, Island wählt. Es ist eine turbulente Zeit, in der Tomaten geworfen, auf Kochtöpfen getrommelt und auf Transparenten Guillotinen für Banker gefordert werden. Jeden Monat versammelt sich halb Island vor dem Rathaus in Reykjavik. Und das in den düsteren Wintermonaten. Die «Kitchenware»[4] ist klar: Ein weiterer Crash lässt sich nur verhindern, wenn man das Problem an der Wurzel packt. Indem man die Macht der Banken bricht. Und zwar mit einer neuen Verfassung.
Denn nicht nur fehlt der jetzigen Verfassung ein angemessenes System von «Checks and Balances». Sie ist im Grunde auch nur geliehen.
Es handelt sich um eine Kopie der dänischen Verfassung. Eine Notlösung. Denn während die Kontinentaleuropäer einander im Zweiten Weltkrieg niedermetzelten, nutzte Island die Gelegenheit, sich endgültig von Dänemark loszueisen. Am 17. Juni 1944 wurde die Republik ausgerufen. Die Vulkaninsel mit den damals knapp 140’000 Einwohnerinnen[5] war endlich unabhängig. Doch für einen echten, langwierigen Verfassungsprozess blieb keine Zeit.