Kitabı oku: «Die Bestie Alpha», sayfa 2

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„Chef, bevor ich es vergesse: Auch ihre Eltern konnten keine Angaben zu ihrem Aufenthaltsort machen. Sie sind beide im Altersheim und haben seit Monaten nichts mehr von ihr gehört“, ergänzte Lindenberg.

Brandung blieb still – sein Blick versteinert, während seine Finger die Kopfhaut rhythmisch massierten, als hätte eine Laus auf seinem Kopf seine Aufmerksamkeit mehr verdient als der ganze Kram, den er sich da anhören musste.

„Schreib in ›INPOL‹ eine Aufenthaltsermittlung aus. Von mir aus auch EU-weit in SIS. Wäre doch gelacht, wenn wir sie nicht kriegen würden. Schick drei, vier Wagen zu Hotels, Pensionen, Maklerbüros, Krankenhäusern, Einwohnermeldeämtern, Reisebüros, Flughäfen, Bahnhöfen, Trambahnen, Taxifirmen, Mietautos – mit Laufzetteln mit ihrem Konterfei darauf. Du wirst sicher irgendwo ein Bild von ihr auftreiben, vielleicht ein Foto mit ihrem Mann, von einer Party, einem Empfang von früher oder gar bei den Eltern. Verteile das noch heute über den schnellsten Weg. Bis wir eine richterliche Anordnung kriegen und eine Öffentlichkeitsfahndung herausgeben können. Gustav, es ist Krieg und du und ich wissen es. Mann, Mann, was haben uns diese Amateure nur eingebrockt! Und wir müssen alles ausbaden. Es hilft nichts. Ruf die anderen noch mal herein.“

Lindenberg tat, wie ihm befohlen. Zügig betraten die Polizisten den Raum. „Vergesst eure Notizhefte: nichts zum Aufschreiben. Unserem Kollegen Karl-Heinz Schramm, der jahrelang verdeckt ermittelte und nun in Kairo aufgespürt und ermordet wurde, können wir nicht mehr helfen. Aber vielleicht seiner Frau. Und das ist jetzt unsere dringlichste Aufgabe. Sie ist verschwunden. Eine Aufenthaltsermittlung wird in diesen Minuten beginnen. Näheres erfährt ihr nachher von Gustav. Draußen. Also bei Rückmeldungen sofort Gustav und mich informieren. Zwei von euch kümmern sich umgehend um die Internetrecherche.“

Brandung brauchte nicht lange zu suchen, wem er diese Aufgabe erteilen wollte. Ganz hinten im Raum stand die junge Oberkommissarin Merle Johansen, als hätte sie in der düstersten Ecke Schutz gesucht. „Merle, sei so nett und schick ihr über Facebook, Twitter und was es sonst noch so gibt einen Gruß. Ich brauche dir ja wohl nicht zu sagen, wie du es machst. Ihre alte Schule wird dir einige Namen ihrer Lehrer oder Mitschüler mitteilen können. Und unter einem dieser Namen nimmst du Kontakt auf. Sei bitte auf der Hut. Andere lesen mit. Merle, du hast es schon mal hingekriegt, das schaffst du auch diesmal. Wer hilft dir? – Ja, unser Schlaukopf. Jetzt zeig mal, was du kannst, Harry. Hacken, auf Teufel komm raus, alles ist erlaubt. Macht ihre Kontakte ausfindig. Ihren Provider, Handyanbieter, den ganzen Kram. Findet heraus, ob sie in der letzten Zeit allein lebte. Scannt ihr ganzes Umfeld. Und jetzt an die Arbeit. Gustav, kümmerst du dich um ein richterliches Plazet? “

Er atmete tief durch und winkte Gert Schaffner zu. Der verstand sofort und öffnete das Fenster.

5.

Kriminalhauptkommissar Gert Schaffner kannte seinen Freund und Chef. Sie, beide brauchten in diesem Augenblick frische Luft für klare Gedanken.

„Was meinst du? Haben wir was übersehen?“, fragte Brandung.

Schaffner ahnte es: Brandung stand am Rande der Verzweiflung. Und so kam ihm die Frage nicht überraschend. Er war nach Brandung der dienstälteste Kriminalbeamte im Morddezernat. Brandung und Schaffner, das war im Haus ein unauflösliches Bündnis von Treue und Verbundenheit. Das wusste jeder. Wer Brandung nicht ertragen konnte, wandte sich an Schaffner. Und wenn Schaffner es sich mal mit den vielen Amateuren im Landeskriminalamt verdorben hatte, dann suchte man die Vermittlung von Brandung. Seit Jahrzehnten galten sie als siamesische Zwillinge, egal wie absurd diese Behauptung auch klingen mochte. Brandung – stur und aufbrausend, der andere sanft und nachdenklich.

„Haben die vom BKA irgendeine vernünftige Idee?“, wollte Schaffner wissen.

„Klar, die haben nur ‚vernünftige’ Ideen. Gert, soll ich dir sagen, was ich wirklich denke? Der Maulwurf muss direkt bei ihnen sitzen. Da wird Karl-Heinz heimtückisch ermordet, seine Frau verschwindet, und sie kommen hierher, damit wir das Ganze ausbaden. Langsam werde ich wahnsinnig. Diese Jungs sind keinen Pfifferling wert. Komm, lass uns mal in Ruhe den Kram hier durcharbeiten. Schau du dir das Fax aus Kairo an. Das Original, da ist es.“ Brandung hielt ein Blatt hoch. „Dein Englisch ist besser als das von manchem BKA-Übersetzer. Danach sollten wir beide schleunigst zur Rechtsmedizin. Wir müssen uns den Leichnam selbst anschauen. Und dann sollten wir klären, wer nach Kairo fliegt.“

Brandung griff nach einem Glas Wasser, sah Gert an und fühlte sich irgendwie sicher aufgehoben, komme, was wolle.

In der Rechtsmedizin der Universitätsklinken kannten sie Brandung und seine knappe, geradezu unfreundlich barsche Art. „Was haben wir?“

„Nicht viel“, antwortete der Rechtsmediziner, der die Obduktion durchgeführt hatte. „Aus nächster Nähe erschossen. Sechs Kugeln. Größeres Kaliber. Aus Rumpf und Kopf sind zwei Projektile entnommen worden, außerdem gab es zwei glatte Durchschüsse. Einschussverletzungen eng benachbart. Schusskanäle parallel verlaufend. Wenig Dynamik. Ausschussverletzungen mit Schürfsäumen. Die ägyptischen Präparatoren haben saubere Arbeit geleistet. Durch die Halsschlagader haben sie schnell Formalin, Alkohol und Wollwachs eingepumpt, und über die Femoralvene, hier in der Oberschenkelleiste, bis auf den letzten Tropfen Blut durchgespült. Ob sie auch eine toxikologische Untersuchung vorgenommen haben, ist noch nicht klar. Kaum vorstellbar auf die Schnelle. Die waren wohl innerhalb von bestenfalls zwei Stunden mit der Konservierung fertig. Ungewöhnlich: Zwei Kugeln ließen sie stecken – hier, im Rabenschnabelfortsatz der linken Schulter und im rechten Keilbein des Schädels. Die Ballistik wird in einer Woche genauere Angaben zu der Waffe machen können. Sonst keine sichtbaren Zeichen von Gewalteinwirkung. Todeseintritt: Sonntagnachmittag, spätestens Sonntagfrühabend. Genaueres später. Ausblutungsblässe. Keine sichtbaren Anzeichen von Verwesung. Ungewöhnliche Leichenstarre, besonders an den Extremitäten. Auf der Haut Zellstofflagen mit Formalin getränkt. Kunststoff-Kühlelemente. Vor dem Verplomben des Sargs, noch vor dem Abflug, müssen die Ägypter ihn kurz in eine Kühlbox gelegt haben.“

Der Anblick seines toten ehemaligen Kollegen warf Schaffner aus dem Gleichgewicht. Er wäre vor dem Tisch umkippt, wenn Brandung ihn nicht geistesgegenwärtig gestützt hätte.

Gert Schaffner hatte eine enge Freundschaft mit Karl-Heinz Schramm verbunden, noch tiefer als mit Lukas Brandung. Sie hatten damals den Plan ausgeheckt, wie sie diese eiskalten Mörder fassen könnten – und sie hatten Erfolg. Jetzt liegt er durchsiebt hier auf dem Tisch, dachte Schaffner, und die Schweine haben seine Frau entweder entführt oder auch schon beseitigt. Brandung ahnte seine Gedanken, sagte aber keinen Ton.

Alles hatte vor sieben Jahren mit einem anonymen Schreiben begonnen. Ein Riesenrad von globaler Geldwäsche und Erpressung sei im Gange, hatte der unbekannte Absender behauptet. Bald danach stellte sich heraus, dass es sich bei dem Schreiber um einen Bankier handelte, den Direktor einer Großbankfiliale in Saarbrücken. Er berichtete den Fahndern, dass ein griechischer Ring seit Jahren im großen Stil Geldwäsche betrieb. Ein engmaschiges Netz von Banken und Konten reichte von Athen nach Monaco, von Monaco nach Saarbrücken – offensichtlich wegen seiner Nähe zu Frankreich und Luxemburg. Und von dort reichte das Netz nach Liechtenstein, Atlanta und Beirut, Isfahan und Tel Aviv, Wien und Graz. Umfangreiche Bauträgerprojekte wurden europaweit dazu genutzt, die Gelder zu waschen. Seine eigene Bank habe seit 20 Jahren enge Beziehungen zu einem Bankinstitut auf Kreta unterhalten, sei sogar daran beteiligt gewesen. Mit dem Zusammenbruch der griechischen Bank vor sieben Jahren war vieles unkontrolliert in Bewegung geraten. Das Kartenhaus des Syndikats drohte einzustürzen. Ein Vorstandsvorsitzender wurde zusammen mit einem Komplizen aus der Führungsetage einer anderen griechischen Bank verhaftet. Der Ring erhöhte darauf in Panik den Druck auf seine Geschäftspartner, darunter er selbst, der Saarbrücker Filialleiter. Das Syndikat suchte nach Wegen, seine neuartige Raubmaschinerie besser zu tarnen und ihre Entlarvung zu verhindern. Wer sang, wurde liquidiert. Der saarländische Bankier gab an, auch sein Leben sei bedroht worden. Unbekannte hätten ihm und seiner Familie nachgestellt. Und als zwei seiner Kollegen in Luxemburg auf offener Straße kaltblütig ermordet worden waren, habe er sich keinen Rat mehr gewusst. Eine kleine Notiz, daneben ein Foto der beiden Opfer in einer Blutlache mitten in der Hauptstadt des Großherzogtums, habe ihn aus der Fassung gebracht.

Als operativen Kopf der Bande vermutete er einen Griechen mit dem Namen ›Afentiko‹ – „Boss“. Wer hinter dem Decknamen steckte, wusste der Bankier nicht. Nach eigener Aussage hatte er den Boss nur ein-, zweimal persönlich zu Gesicht bekommen. Widerborstig, rothaarig, krankgelb im Gesicht, mit bohrend stechenden Augen. Und immer mit einem gespitzten Bleistift in der Hand, mit dem er nie etwas aufgeschrieben hatte. Jedenfalls nicht während dieser kurzen Begegnungen. Wie ein Sattler mit seiner Nadel stach der „Grieche“ mit dem Stift gereizt auf alles in seiner Nähe ein, auf Tischen, Sessellehnen, Türrahmen und Glasscheiben. Tick, tack, tick, wie ein ungezogenes kleines Kind. Einen Spitzer immer dabei, als wäre er ein emsiger Pauker. An den Spänen in Aschenbechern, auf Teppichböden und an den winzigen kleinen Löchern, die seine Stiche hinterließen, konnte man seine Spur überall verfolgen. Stich, Stich, Stich, mal schneller, mal langsamer, wie ein wildes Tier, als würde er sich bereitmachen, seinem Gegenüber die Augen auszustechen. Die erschütternde Beschreibung taugte gerade dafür, ein Phantombild von den schauderhaften Gesichtszügen dieses Gangsters zu zeichnen, für eine Identifizierung reichte sie jedoch nicht aus. Der ›Afentiko‹ sei ursprünglich gleichberechtigter Partner der beiden gefassten griechischen Bankiers gewesen. Nach deren Festnahme hielt er sich verborgen im Hintergrund, und über verschwiegene Anwaltskanzleien und Mittelsmänner verstand er es, unerkannt die Fäden an der Spitze des Geldschieber- und Erpressersyndikats zu ziehen.

Alle Bemühungen der örtlichen Ermittler und des Bundeskriminalamts, den Mann ausfindig zu machen, schlugen zunächst fehl. Hauptkommissar Karl-Heinz Schramm überzeugte seine Vorgesetzten, dass man diesem Großkaliber von Verbrecher nur verdeckt beikommen könne. Er wollte ihm aus nächster Nähe selbst auf die Finger schauen und seinem Treiben ein Ende setzen. Schramm war geradezu besessen von dem Plan, sich in das unmittelbare Umfeld des Verdächtigen einzuschleichen, getarnt als griechisch-orthodoxer Priester. Er ließ sich griechisch-orthodox taufen und weihen, wanderte als Angehöriger eines deutschen Klosters zum Heiligen Berg „Athos“ und schaffte es in der Tat, Freundschaft mit dem Beichtvater des „Griechen“ zu schließen. Bald danach gehörte er zum engeren Kreis des Verbrechers, der – wie viele seiner Berufskollegen der „gehobenen Kategorie“ – strenggläubig war. Es dauerte nicht lange, bis Karl-Heinz Schramm hinter die wahre Identität des Mannes mit dem ständig gespitzten Bleistift kam: Er hieß Markos Theoharis. Das brachte die Ermittlungen zunächst nicht viel weiter. Aber die Lage des verdeckten Kriminalbeamten wurde immer prekärer, lebensbedrohlicher.

Vor drei Jahren kam es dann zur Katastrophe: Der Filialleiter und zwei seiner Kunden wurden in Saarbrücken am helllichten Tag regelrecht hingerichtet. Da rollte die Fahndungswalze richtig an. Wer den Rachemord begangen hatte, blieb dennoch im Dunkeln. Doch Karl-Heinz Schramm konnte den entscheidenden Tipp geben, um den „Griechen“ als den Drahtzieher der Tat zu entlarven und ihn letzten Endes zu fassen – am Flughafen in Saarbrücken. Ihm die Mordtat direkt zur Last zu legen, dafür reichte die Aussage Schramms nicht. Vor Gericht konnte der Ermittler zumindest glaubhaft darlegen, dass er Zeuge war, wie der „Grieche“ den Befehl zur Liquidierung des Bankiers in Saarbrücken erteilt hatte. Seitdem saß der Kopf der Bande in der Saarbrücker Justizvollzugsanstalt, verurteilt zu 15 Jahren Haft. Schramm verschwand in den Untergrund. Seine neue Identität: streng geheim. Sein Aufenthaltsort: unbekannt. Für den Dienst am Rechtsstaat hatte er nun mit dem eigenen Leben bezahlt.

„Gert, gehen wir? Schaffst du es?“ Sie waren auf dem Weg zurück ins Präsidium.

In seiner Resignation hatte Gert Schaffner nicht bemerkt, dass Brandung ihm schon eine ganze Weile die Wagentür geöffnet hielt und wartete, dass er ausstieg.

Nach so vielen Jahren als Kriminalpolizist sehnte sich Gert Schaffner danach, möglichst bald die süße Ruhe als Pensionär zu genießen. Er hatte sich schon vor Jahren vom Ehrgeiz verabschiedet, jemals Erster Hauptkommissar zu werden. Nach 38 Jahren Polizeidienst wollte er mit seiner amerikanischen Frau Suzanne noch ein paar Jahre der Beschaulichkeit in den Tälern von Willamette am Fuße der Cascade Mountains von Oregon erleben. Dort in den Koniferen-, Ponderosa- und Zuckerkiefern-Wäldern hoffte er, den bitteren Nachgeschmack seiner aufreibenden Zeit als Kriminalbeamter endlich loszuwerden und die Gedanken an Leichen und ungeklärte Fälle zu verdrängen. Suzanne hatte ihn überzeugt, im beschaulichen La Grande – zwischen den blauen Bergen Emily und Harris, woher sie ursprünglich stammte – all diese Niederlagen hinter sich zu lassen und noch einmal eine neue Welt des äußeren und inneren Friedens zu erschließen und auszukosten. Sie hatten keine leiblichen Kinder. Ihre Adoptivtochter Malina brauchte sie schon lange nicht mehr. Bei der Bundespolizei war sie sehr gut aufgehoben. Vor zwei Jahren war sie zur Botschaft nach Athen versetzt worden. Sie hatte es inzwischen zur Polizeihauptkommissarin gebracht, Besoldungsgruppe A 12, mit Auslandszulage. Malina hatte ihnen immer Freude bereitet. Sie war ihr größter Trost und ihr Ausgleich für all die Enttäuschungen und Pleiten. Vor 32 Jahren hatten sie das Mädchen in einem Waisenhaus gesehen und angenommen. Die Kleine war damals noch kein Jahr alt gewesen. Sie hatten ihr den Namen Malina gegeben, nach Suzannes Mutter.

Suzannes notorische Angst um Malina und um Gert hatte ihn über die Jahre stark belastet, ihm den letzten Nerv geraubt. Er zählte die Monate, die Tage und sogar die Stunden bis zum ersehnten Abschied vom Dienst: 14 Monate, 22 Tage und 13 Stunden. Und jetzt das. Er konnte Brandung doch nicht ungeschützt allein damit lassen. Das war er nicht nur Karl-Heinz Schramm, nicht nur Lukas Brandung schuldig, sondern auch sich selbst. Sich verkriechen wie eine Ratte im Loch oder einfach die Flucht ergreifen? Das wollte er sich und seinen Kollegen nicht antun. Suzanne würde das verstehen. Und wer Schramm trotz seiner Tarnung aufspüren und niederstrecken konnte, der könnte erst recht Brandung anpeilen – oder ihn selbst. Wer wusste das schon?

Brandung holte ihn in die Gegenwart zurück. „Mit wem willst du nach Kairo, Gert? Soll dich Gustav begleiten? Du hast die Wahl.“ Sie standen neben dem Auto auf dem bewachten Parkplatz unter der langen Fensterfront des Polizeipräsidiums.

„Kairo? Gott, muss ich da wirklich hin? Ich habe es irgendwie geahnt. Was denkst du?“

„Ich denke ja. Das BKA wird vermutlich jemand mitschicken wollen, und wer weiß, wer sich an deine Fersen heften wird. Nicht auszuschließen die andere Fakultät, wenn sie nicht längst ihre Horcher vor Ort hat.“

„Es würde mich in der Tat wundern, wenn es anders wäre“, sagte Schaffner ziemlich matt.

„ Gustav brauchst du dringender hier. Ich fliege allein.“

Brandung nickte. Und war einmal mehr froh, dass er Schaffner in seinem Team hatte. Keiner schaffte es so gut wie er, in diesem Chaos Ruhe und den Überblick zu bewahren. Ja, sein erfahrenster Mann im Dezernat war auch dieses Mal schon die halbe Miete. Seine Ordnungsliebe und Berechenbarkeit fielen besonders auf: In jeder Situation bedächtig, warmherzig und verständnisvoll. Mit den Ägyptern würde er sicher zurechtkommen. Seine zurückhaltende, aber zielstrebige Art würde ihm helfen, das Labyrinth und die Mysterien um diesen Mord zu entschlüsseln.

6.

Als Brandung und Schaffner an der Tür von Bornhoff angekommen waren, schickte der Erste Hauptkommissar seinen Vertrauten, Hauptkommissar Gert Schaffner, vor, um das Team im Dezernat in ihre Pläne einzuweihen und sich auf die Reise vorzubereiten. Die Vorzimmerdame des neuen Chefs kannte Brandung noch nicht. Bornhoff stellte ihn ihr kurz vor und bat ihn hinein.

„Ich denke, wir schicken unseren besten Mann, Hauptkommissar Gert Schaffner nach Kairo. Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich das BKA an. Unser Mann könnte mit der nächsten Maschine dahin fliegen.“

Bornhoff hörte sich Brandungs Worte im Stehen an und wirkte in Gedanken vertieft. „Ja. Das finde ich gut. Was ist mit der Forensik, der Spurensicherung?“

„Da kann man den Ägyptern vertrauen. Unsere Rechtsmedizin ist schon bei der Arbeit. Alles deutet auf einen Einzeltäter hin.

„Ich habe da noch einige Fragen“. Bornhoff holte einen Spickzettel von seinem Schreibtisch. „Was ist mit seiner Frau. Ist für Ihre Sicherheit gesorgt?“

„Nein, leider nicht. Sie ist verschwunden! Spurlos.“

„Gekidnappt? Verschleppt?“

„Wissen wir nicht, jedenfalls verschwunden. Die Aufenthaltsermittlung läuft, und wenn alle Stricke reißen, beantragen wir eine öffentliche Fahndung. Wir werden jeden Stein auf der Suche nach ihr umdrehen.“

„Brauchen Sie Verstärkung?“

„Im Augenblick nicht.“

„Was ist mit dem Mann hinter Gittern? Ist der auch weg?“

Brandung fühlte den Angriff wie einen Florettstich. Das hatte er nicht verdient! „Das kann ich erst sagen, wenn ich wieder im Büro bin. Ich komme direkt von der Rechtsmedizin und muss mir solche Sticheleien nicht anhören.“

„Lassen wir das. Sie reden mit den BKA-Leuten. Können wir heute Abend eine kurze Lagebesprechung abhalten? So gegen 19 Uhr? Wäre das okay?“

Brandung ließ ihn stehen, ohne darauf einzugehen. Er war außer sich. Hatte etwa er den ganzen Schlamassel zu verantworten? Da wehte nicht nur ein neuer Wind, da tobte ein rauer Sturm, sagte er sich. Er werde sich davon nicht verbiegen lassen, schon gar nicht vor so einem jungen Novizen. Er, Lukas Brandung, werde auch damit fertig, egal, welche harten Brocken vielleicht noch auf ihn warteten.

Während er in sein Büro eilte, rief er: „Helga, das BKA bitte. Ich will Langenstein sprechen.“

Mit einem Handzeichen gab er Schaffner zu verstehen, ihm in sein Büro zu folgen. Das Telefon klingelte. „Ja, Herr Kriminaloberrat Langenstein.“ Aus seinem Munde klangen die Worte sarkastisch – und genauso waren sie auch gemeint. Schaffner grinste Brandung an, eine letzte Heiterkeit vor der Reise in die ägyptische Feuersbrunst.

„Ihre Vorgehensweise halte ich für Schiet. Haben Sie mich verstanden? Schiet! Ein Kollege ist ermordet worden, und Sie erzählen mir, dass wir uns noch Zeit nehmen sollten, ehe wir nach Kairo fliegen? Nur weil Sie Ihren Laden nicht im Griff haben? … Hören Sie mir jetzt gut zu: Wir fliegen noch heute Abend dahin, und Sie sollten alles nötige dafür sofort in die Wege leiten. Ich kann Sie nur davor warnen, uns Steine in den Weg zu legen. … Nein, ich höre nicht zu! Sie hören mir zu! Sie teilen mir mit, in weniger als einer halben Stunde, wer von Ihnen mitkommt. Oder unser Mann fliegt allein. Mehr Zeit für Ihr Durcheinander in Wiesbaden haben wir nicht. Die Presse wird den Mord möglicherweise von irgendeiner Seite gesteckt bekommen; die wartet doch nur darauf, uns durch den Kakao zu ziehen und uns Unfähigkeit vorzuhalten. Dass wir nicht einmal in der Lage seien, unsere eigenen Leute zu schützen. Eine halbe Stunde, Herr Kri-mi-nal-ober-rat. Mehr nicht! Tschüss!“

Der Hörer flog in hohem Bogen auf die Gabel. Aus dem Gesicht von Schaffner entschwand die letzte Spur Gelassenheit schlagartig.

„Helga!“, brüllte Brandung an ihm vorbei. „Ruf bitte sofort die deutsche Botschaft in Kairo an. Den Botschafter, und wenn er nicht da sein sollte, den Konsul.“

Vorsichtig legte Helga den Flugplan Frankfurt-Kairo auf den Tisch, eine Reservierungsbestätigung eines Hotels, weitergeleitet von der deutschen Botschaft, eine Liste von Namen und Telefonnummern der ägyptischen Kriminalpolizei und der koptischen Gemeinde der Markuskirche.

„Sobald Du da unten bist, besorgst Du dir ein neues Handy. Nicht dass jemand von hier aus deine deutsche Handynummer ortet und dir irgendwelche Typen auf den Hals hetzt. Bleib mir auf der Hut. Tarn dich als Tourist, Archäologe, Tennis- oder Golfspieler, wie es dir beliebt. Wann geht die Maschine?“

„Vorgebucht bin ich auf zwei Flügen. Ich kann den ersten nehmen. Um …“

Das Telefon unterbrach. Brandung ging ran. „Ja. Danke, dass Sie Zeit für mich finden. Wir brauchen Ihre direkte Faxnummer. Während ich mit Ihnen rede, erhalten Sie ein paar Seiten mit einigen Angaben. Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen, soweit es Ihnen möglich ist.“ Er notierte sich ein paar Zahlen. „Ja, habe ich. Danke!“

Brandung deutete Helga an, was er wollte, und seine Mitarbeiterin legte die Papiere ins Faxgerät ein.

„Es wäre sehr hilfreich“, sprach er ins Telefon, „wenn unser Kollege vom Flughafen abgeholt und zur Unterkunft gebracht werden könnte. …Wie? … Ah ja? Haben die sich auch gemeldet? … Das ist gut so. Sie sehen, es läuft mal koordiniert und geordnet ab. Läuft es ein? … Okay. Dann lasse ich Sie das Ganze durchsehen. Meine Faxnummer haben Sie. Und danke. Ihre Unterstützung war sehr hilfreich. Guten Tag.“

„Wann geht deine Maschine? Die erste?“, fragte Brandung.

Brandung vergisst nie, was irgendwo in den finsteren Nischen seines Gehirns herumspukt, dachte Schaffner.

„Um zehn nach drei“, antwortete er.

„Dann guten Flug. Bitte sei besonders vorsichtig, nicht erst in Kairo unten. Ich traue niemandem, und das solltest Du auch nicht. Komm heil zurück.“

Schaffner war bei Brandung an vieles gewöhnt, doch in diesem Augenblick nahm er etwas Neues wahr: offen ausgesprochene Sorge, unverhohlene Angst vor dem Ungewissen. Besorgt verließ er den Raum. Er rief in Kairo an. Er erfuhr, dass der deutsche Konsul dort bereits von zwei Seiten unterrichtet worden war. Von den ägyptischen Behörden und auch vom BKA. Der deutsche Diplomat musste sich nur noch mit dem Büroleiter des koptischen Papstes in Verbindung setzen und ihm die bevorstehende kriminaltechnische Untersuchung ankündigen. Nach der Entdeckung der Leiche inmitten des Kirchenschiffs waren die ägyptischen Behörden sofort an Ort und Stelle gewesen. Die Kirche war auf Spuren untersucht und der allabendliche Gottesdienst, wegen eines angeblichen hohen ausländischen Staatsbesuchs im historischen Bau, abgesagt worden. Weiträumig war das Areal abgeriegelt worden. Niemand fiel es auf, dass der Wachposten abgezogen war und an seiner Stelle Männer in Zivil die Kontrolle übernommen hatten.

Als BKA-Kriminaloberrat Langenstein Brandung telefonisch mitteilte, sein Mitarbeiter Uwe Klausen werde ebenfalls die erste Maschine nach Kairo nehmen, legte sich der aufbrausende Sturm ein wenig. Und solange die ägyptischen Behörden – Souveränität hin, Souveränität her – wohlwollend mitspielten, ja sogar die deutsche Botschaft und die koptische Zentrale einbinden würden, könne man doch nicht zögern und umständlich herumtrödeln. Bei diesen Worten grinste Brandung zum ersten Mal an diesem Morgen. Jetzt spuren sie richtig, die Hessen, dachte er sich. Na also! Ganz im Stillen beglückwünschte er sich selbst.

Dann widmete er seine Aufmerksamkeit etwas Banalem: einem Kaffeefleck auf seinem Hemd. In diesem Moment gesellte sich Gustav Lindenberg zu ihm wieder. Er wurde Zeuge einer abstrusen Komödie, die sich nur selten in diesen Räumen abspielte. Da dreht sich die Welt um einen, überall muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Und der mit dem Fall befasste leitende Kriminalbeamte hat nichts Besseres zu tun, als sich um die Sauberkeit seines ohnehin verschwitzten Hemdes zu kümmern. Der Dezernatsleiter nahm Lindenbergs demonstrative Distanziertheit zur Kenntnis, kommentierte sie aber nicht.

„Multiple Sklerose, daran leidet die Frau“, erklärte Lindenberg. „Die Krankheit hat ihr in den letzten Jahren sehr zu schaffen gemacht. Und deshalb wollte sie auch damals nicht mit ihrem Mann untertauchen. Mich würde interessieren, wie sie jetzt damit zurechtkommt. Ein Taxifahrer berichtete den Uniformierten von einer Fahrt zum Bahnhof. Die Frau soll der Frau auf dem Foto, das sie ihm vorgelegt haben, sehr ähnlich gesehen haben, behauptete er. Außer einer kleinen Damenreisetasche soll sie nicht viel Gepäck bei sich gehabt haben. Er erinnerte sich gut, dass sie sich nicht wohlfühlte und so eigenartige Zuckungen und unerklärliche Verrenkungen gemacht habe. Er habe sich bei ihr erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Sie habe aber nur undeutlich vor sich gemurmelt.“

„Hat jemand am Bahnhof auf sie gewartet?“

Darauf habe der Mann nicht geachtet, stellte Lindenberg fest. Brandungs lapidare Nachfrage verriet, dass ihm der verdammte Kaffeefleck im Augenblick wichtiger war als das Schicksal der kranken Witwe.

„So kann es nicht weitergehen; wir müssen nachbohren“, fuhr Lindenberg fort. „Warum ist sie überhaupt untergetaucht? Wurde sie bedroht, ist sie erpresst worden oder wollte sie ihrem Mann folgen? Das sind so viele Fragen, die wir schleunigst klären müssen. Bis jetzt keine Spuren, weder im Internet noch in Hotels oder an anderen Stellen. Das dauert wohl noch. Auch die Nachbarn haben nicht viel Neues erzählen können.“

Ruckartig schob Brandung sein Kinn nach vorn und stierte Gustav Lindenberg erbost an. Dessen schulmeisterlicher Ton gefiel ihm ganz und gar nicht. Lindenberg hatte sich über den Tisch gelehnt und war ihm jetzt so nahe, dass er seinen nicht gerade angenehmen Atem riechen konnte. Das war Lukas Brandung zu viel. Er warf sich heftig in seinen Sessel. „Dann klär das – und komm erst wieder, wenn du all diese schlauen Fragen eindeutig beantworten kannst. Meinen Segen hast du. Was ist mit dem Inhaftierten? Wie nannten wir ihn? Den „Griechen“. Weiß Helga inzwischen darüber Bescheid? Noch bevor du verschwindest, sag allen, um 18 Uhr ist Besprechung. Und Tempo. Klar? Bis dann. Helgaaa!“, hallte es durch die Räume.

7.

Helga Frommbach kannte Brandung seit Jahrzehnten. Sein aggressiver Tonfall ihr gegenüber verriet Verunsicherung, mit der er allein nicht fertig wurde. Ihr war längst klar: Wenn er brüllte, schrie er nicht, um sie zu verletzen, er schrie, weil die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Er brauchte dringend ihre Hilfe. Helga Frommbach ließ sich Zeit, bis sie fast aufreizend langsam in seinem Büro erschien. Und bevor er nur den Mund aufmachte, las sie schon die Frage von seinen Lippen ab. „Nein, der Gefängnisdirektor war nicht da. Aber sein Stellvertreter meint, wir könnten unbesorgt sein. Der „Grieche“ sei die ganze Zeit unauffällig gewesen, geradezu lammfromm, meinte er. In den letzten Tagen sogar noch umgänglicher und bescheidener als sonst – auffällig bescheiden. Seine Dienste in der Haftanstalt verrichte er gewissenhaft. Neuerdings würde er lebhaften Anteil am schweren Los der Vollzugsbeamten nehmen. Das bringe ihm nicht gerade Sympathien unter den Mitinsassen bei. Und seine Kumpane würden sich über ihn wundern. Sie würden ihn weiterhin den ›Afentiko‹ nennen. Den großen Zampano. Was halten Sie davon, Chef? Wenn Sie mich fragen: Ich bin misstrauisch. Er suhlt sich doch in einer Übermacht, die er verborgen hält. Er kann es sich leisten, den Sanftmütigen zu mimen. Er malt sogar! Als könnten Farben seine blutige Hinterlassenschaft verdecken. Ob er nicht selbst aus seinem Käfig heraus, die Fäden zieht – mit Blut an den Händen? Es würde mich wundern, wenn es anders wäre.“

Brandung antwortete ihr nicht. Ihre Beschreibung des gefährlichsten Verbrechers, der ihnen während ihres gemeinsamen Berufslebens je über den Weg gelaufen war, verdüsterte seine Stimmung weiter. Aber er ließ sich nicht anmerken, an welche Ufer ihn seine Gedanken in diesem Augenblick tatsächlich trugen. Obwohl er hinter Schloss und Riegel war, musste man sich vor dem Spinnennetz dieses „Künstlers“ fürchten. Mordlust und Kunst – sie sind sich erstaunlich nah, entspringen derselben Urquelle, der lebhaften Fantasie, der blutrünstigen Leidenschaft. Seelenverwandt, wie sie sind, bezieht die eine Begabung ihr Elixier nicht selten von der anderen. Und der „Grieche“ scheint ein seltenes Exemplar dieser doppelschichtigen Gattung zu sein.

„Helga, wir müssen dran bleiben. Mit wem ist er im Knast befreundet? Und eins müssen wir noch herausfinden: Gibt es jemanden unter den Vollzugsbeamten, der für ihn die Drecksarbeit erledigt? Mich wurmt es mächtig, wenn ich höre, dass der Kerl weiter ›Afentiko‹ genannt wird. Darin steckt Respekt und Ergebenheit. Helga, bitte, hör weiter nach. Wir brauchen eine Liste seiner Besucher und seiner gesamten Kontakte im Knast. Ob er inzwischen schon Wind davon bekommen hat, dass Karl-Heinz ermordet wurde? Gibt er deshalb den frommen Ahnungslosen? Kostet er den Triumph still und genüsslich direkt vor unseren Augen aus? Was sind das für Deppen, seine Bewacher? War er nicht in Einzelhaft? Und halt: Hat der Verwaltungsheini, mit dem du gesprochen hast, nicht gefragt, warum wir uns so plötzlich für den Mann interessieren?“

„Doch, doch. Ich habe ihm gesagt, es sei reine Routine. Ich wolle nur die Akte endlich vom Tisch haben, sie aktualisieren, bevor sie endgültig ins Archiv wandern würde. Das war alles.“

„Und das hat er einfach geschluckt?“

„Es scheint so, zumindest keine Nachfrage.“

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