Kitabı oku: «Der Kolonisator und der Kolonisierte», sayfa 2
Ich möchte noch ein Beispiel anführen, das wahrscheinlich gegen mich sprechen wird. (Aber so verstehe ich meine Rolle als Schriftsteller: sie kann sich sogar gegen meine eigene Person kehren.) Diesem Porträt des Kolonisierten, das nun einmal so sehr das meinige ist, geht ein Porträt des Kolonisators voraus. Wie kann ich es mir erlauben, mit einer derart bedrückenden Lebensgeschichte in gleicher Weise auch das Bild meines Gegners zu zeichnen? An dieser Stelle muss ich ein spätes Eingeständnis machen: in Wahrheit kannte ich den Kolonisator fast ebenso gut und aus dem Inneren heraus. Das muss ich erklären. Ich sagte bereits, dass ich Tunesier bin. Wie alle Tunesier wurde ich demnach als Bürger zweiter Klasse behandelt, bestimmter politischer Rechte beraubt, hatte keinen Zugang zu den meisten Verwaltungspositionen, war zweisprachig aufgewachsen, meine Ausbildung lag lange Zeit im Ungewissen usw…., man wird all das in meinem Porträt des Kolonisierten lesen. Aber ich war kein Moslem. In einem Land, in dem so viele Gruppen von Menschen nebeneinander lebten, aber jede ängstlich darauf bedacht war, ihre Eigenart zu wahren, hatte das eine wesentliche Bedeutung. Vereinfacht ausgedrückt können wir sagen, dass der Jude ebenso viel mit dem Kolonisator wie mit dem Kolonisierten gemeinsam hatte. War er einerseits unleugbar Eingeborener, wie man damals sagte, dem Moslem denkbar nahe durch das unerträgliche Elend seiner Armen, durch seine Muttersprache (meine eigene Mutter sprach in ihrem ganzen Leben kein Wort Französisch), durch Gemüt und Gebräuche, die Vorliebe für dieselbe Musik und dieselben Wohlgerüche und eine fast identische Küche, versuchte er andererseits, sich hingebungsvoll mit dem Franzosen zu identifizieren. Mit einer großen, schwungvollen Bewegung, die ihn zum Okzident hin entriss, der ihm als Inbegriff aller eigentlichen Zivilisation und Bildung erschien, kehrte er dem Orient leichten Herzens den Rücken, wählte unwiderruflich die französische Sprache, kleidete sich nach italienischer Mode und übernahm höchst bereitwillig sogar die Ticks der Europäer. (Womit er übrigens versuchte, einer der Ambitionen eines jeden Kolonisierten zu folgen, der sich noch nicht für die Revolte entschieden hat.) Noch besser – oder schlechter, wie man will –, in dieser Pyramide kleiner Tyrannen, wie ich sie zu beschreiben versucht habe und die das Gerippe jeder Kolonialgesellschaft darstellt, fand sich der Jude um genau einen Rang höher als sein mohammedanischer Mitbürger. Sein Privileg war lächerlich, aber es reichte aus, ihm einigen Dünkel zu verleihen und in ihm die Hoffnung zu wecken, er stehe nicht auf derselben Stufe wie die Masse der muselmanischen Kolonisierten, die die unterste Ebene der Pyramide bildeten. Es genügte zugleich, dass er sich seit dem Tag bedroht fühlte, an dem das Gebäude zum ersten Mal wankte. Man hat das recht gut bei den Barrikadenkämpfen in Algier beobachten können, wo zahlreiche Juden Seite an Seite mit den »Piedsnoirs«* ihre Schüsse abfeuerten. Nebenbei gesagt ist auch mein Verhältnis zu meinen Glaubensgenossen nicht gerade erleichtert worden, als ich mich entschlossen hatte, die Kolonisierten zu unterstützen. Kurz, wenn ich es auch für unumgänglich hielt, die Kolonisation anzuprangern, obwohl sie für die meisten weniger drückend gewesen ist, habe ich doch diese widersprüchlichen Regungen gekannt, die ihre Gemüter bewegten. Schlug denn nicht auch mein eigenes Herz beim Anblick der kleinen blau-weiß-roten Fahne auf den Schiffen der »Compagnie Générale Transatlantique«, die den Hafen von Tunis mit Marseille verband?
All dies, um zu sagen, dass dieses Porträt des Kolonisators zum Teil auch das meinige war; nehmen wir an, ein Bild in geometrischer Projektion. Insbesondere bei der Schilderung des wohlwollenden Kolonisators habe ich mich von einer Gruppe von Philosophiedozenten in Tunis anregen lassen, meinen Kollegen und Freunden, deren Großherzigkeit außer Zweifel steht, leider aber auch ihre Ohnmacht, ihre Unfähigkeit, sich für das Gehör zu verschaffen, was in den Kolonien vor sich ging. Nun habe ich mich gerade unter ihnen am wohlsten gefühlt. Als ich mühsam daran arbeitete, die von der Kolonisation aufgerichteten Mythen zu zerstören, konnte ich da gegenüber den in der Brust des Kolonisierten entstandenen Gegenmythen nachsichtig sein? Gleich meinen Freunden musste ich über seine freilich unsichere Behauptung unwillkürlich lächeln, die andalusische Musik sei die schönste der Welt oder darüber, dass der Europäer durch und durch hartherzig und bösartig sei, man brauche nur zu beobachten, wie grob er mit seinen Kindern umgehe. Aber trotz ihres beträchtlichen guten Willens in den Augen des Kolonisierten und obwohl sie bereits von der übrigen französischen Kolonie geächtet waren, brachte ihnen das letztlich nur den Argwohn des Kolonisierten ein. Nun war mir all dies nur zu sehr vertraut; ihre Schwierigkeiten, ihr notwendiger Zwiespalt und die damit verbundene Isolierung und, was am schwersten wog, ihr Zaudern vor der Aktion, all das war zu einem großen Teil auch mein Schicksal. (Ich wurde eines Tages heftig beschimpft, weil ich es für sinnlos und gefährlich gehalten hatte, ein Gerücht weiterzugeben, das sich der Medina* bemächtigt hatte, wonach der diplomatische Vertreter Frankreichs wahnsinnig geworden sei.) Würde ich weiter gehen als sie? Im Grunde genommen verstand ich selbst den »Piednoir« mit seinen höchst einfachen Gefühlen und Gedanken, wenngleich ich sein Verhalten missbilligte. Ein Mensch ist das, was seine objektive Lage aus ihm macht, das habe ich oft genug wiederholt. Ich habe mich gefragt, ob es mir wirklich gelungen wäre, die Kolonisation ebenso nachdrücklich zu verurteilen, wenn ich mehr von ihr profitiert hätte. Ich würde mir das natürlich wünschen; aber allein schon deshalb, weil ich unter ihr kaum weniger gelitten habe als die anderen, habe ich einen genaueren Begriff von ihr bekommen. Kurz gesagt, noch der eingefleischteste und bornierteste »Piednoir« war im Grunde von Geburt aus mein Bruder. Das Leben hat uns unterschiedlich behandelt: er wurde als legitimer Sohn des Mutterlandes anerkannt, als Erbe des Privilegs, das er dann um jeden Preis verteidigte, selbst um den schändlichsten; ich war eine Art Mischling der Kolonisation, der jedermann verstand, weil er niemandem gänzlich zugehörte.
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Noch ein Wort zum Schluss dieses neuen Vorworts, das schon zu lang geraten ist. Dieses Buch hat bei seinem Erscheinen ebenso viel Unruhe und Wut wie Begeisterung hervorgerufen. Einerseits hat man darin eine unverschämte Provokation gesehen, andererseits ein Wegzeichen. Alle Welt war sich darin einig, das Buch als eine Waffe, als ein Werkzeug im Kampf gegen die Kolonisation zu kennzeichnen; das ist es allerdings geworden. Aber nichts scheint mir lächerlicher, als sich mit einem geborgten Mut und mit Heldentaten zu brüsten, die man nie begangen hat: ich habe diesen Text ziemlich unbefangen abgefasst, ich wollte einfach zunächst das koloniale Verhältnis verstehen, in das ich so fest verstrickt war. Nicht dass ich diese Philosophie nie gehabt hätte, die meiner Untersuchung zugrunde liegt und in gewisser Weise meinem Leben Farbe gibt. Ich bin bedingungslos gegen jede Form von Unterdrückung; ich sehe in ihr die Hauptgeißel der Menschheit, die die besten Kräfte des Menschen in eine falsche Richtung lenkt und verdirbt, überdies nicht nur die des Unterdrückten, sondern auch des Unterdrückers, denn man wird beides erleben: ebenso wie die Kolonisation den Kolonisierten zerstört, so zersetzt sie auch den Kolonisator. Aber das war eigentlich nicht die Absicht meines Buches. Die Wirkung dieses Textes hat sich in gewisser Weise während seines Entstehens eingestellt, und zwar allein durch die Tugend der Wahrheit. Das heißt, dass es wahrscheinlich genügt hat, möglichst genau das Kolonialverhältnis, die Art und Weise, wie der Kolonisator notwendig handeln musste, und die allmähliche und unerbittliche Zerstörung des Kolonisierten zu beschreiben, um die absolute Ungerechtigkeit der Kolonisation ans Licht zu bringen und zugleich ihre fundamentale Instabilität zu enthüllen und ihr Ende vorauszusagen.
Das einzige Verdienst, das ich mir demnach zurechne, besteht darin, dass ich versucht habe, jenseits meines eigenen Unglücks Rechenschaft abzulegen über einen Aspekt der menschlichen Wirklichkeit, der unerträglich und deshalb unannehmbar ist und der zwangsläufig immer neue Erschütterungen auslöst, unter denen alle bis ins Innerste zu leiden haben. Ich wünschte, dieses Buch würde nicht länger als Ärgernis angesehen, sondern es würden ruhige Überlegungen angestellt, warum diese Schlussfolgerungen, die sich mir aufgedrängt haben, weiterhin von so vielen Menschen spontan nachvollzogen werden, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Liegt das nicht einfach daran, dass diese beiden Porträts, die ich versuchsweise entworfen habe, schlicht ihre Modelle getreu wiedergeben, die meines vorgehaltenen Spiegels nicht bedürfen, um sich wiederzuerkennen, um ganz von sich aus den richtigen Weg in ihrem elenden Leben zu entdecken? Die hartnäckige Verwechslung zwischen dem Künstler und seinem Gegenstand ist bekannt (was wohl eines der Anzeichen für unsere fortwährende Barbarei, unser verzweifelt magisches Denken ist). Statt sich über die Äußerungen der Schriftsteller aufzuregen und ihnen vorzuwerfen, dass sie eine Unordnung schaffen wollen, die von ihnen lediglich beschrieben und prophezeit wird, täte man besser daran, ihnen aufmerksamer zuzuhören und ihre warnenden Hinweise ernster zu nehmen. Bin ich denn am Ende nicht im Recht, wenn ich jetzt, nach so vielen verheerenden und vergeblichen Kolonialkriegen und da sich Frankreich heute zum Vorkämpfer der Entkolonialisierung auf der Welt macht, meine, dass dieses Buch für den Kolonisator ebenso nützlich hätte sein können wie für den Kolonisierten?
Albert Memmi
Paris, Februar 1966
*Prüfung zur Erlangung der Lehrbefähigung an Schulen und/oder Universitäten in Frankreich (A. d. Ü.).
*»Die Kolonisation, das ist vor allem eine ökonomisch-politische Ausbeutung.« S. 125
*Die in Algerien geborenen und aufgewachsenen Franzosen (A.d.Ü.)
*Mohammedanischer Teil der Stadt (A.d.Ü.)
Porträt des Kolonisators
1. Gibt es den Kolonialisten?
Der Sinn des Aufbruchs in die Kolonien
Hier und da wird der Kolonisator gern noch als ein hochgewachsener Mann mit sonnengebräunter Haut, in Stiefeln und auf eine Schaufel gestützt dargestellt – denn er verschmäht es keineswegs, selbst Hand anzulegen, während sein Blick in die Ferne auf den Horizont seiner Ländereien gerichtet ist; inmitten zweier Handlungen gegen die Natur kümmert er sich um die Menschen, pflegt die Kranken und verbreitet die Kultur, kurz, ein edler Abenteurer, ein Pionier.
Ich weiß nicht, ob diesem naiven Klischee jemals eine gewisse Realität entsprochen hat oder ob es nur als Bildchen auf den kolonialen Banknoten vorkommt. Die wirtschaftlichen Motive des Kolonialunternehmens werden heute von allen Geschichtsschreibern des Kolonialismus ins Licht gerückt, kein Mensch glaubt mehr an die kulturelle und moralische Mission des Kolonisators, nicht einmal in den historischen Anfängen. Jedenfalls ist in unseren Tagen der Aufbruch in die Kolonie nicht die Entscheidung für einen ungewissen Kampf, der gerade um seiner Gefahren willen gesucht wird, es ist nicht die Versuchung des Abenteuers, sondern die der Bequemlichkeit.
Man braucht übrigens nur den Europäer über die Kolonien zu befragen: was hat ihn dazu bewogen, das Heimatland zu verlassen und vor allem, was hat ihn veranlasst, im Exil auszuharren? Zuweilen spricht er auch von Abenteuer, vom Pittoresken und Fremdartigen. Aber warum hat er dies nicht in Arabien oder einfach in Zentraleuropa gesucht, wo man nicht seine eigene Sprache spricht, wo er nicht auf eine zahlenmäßig bedeutende Gruppe seiner Landsleute trifft, auf eine Verwaltung, die ihm dient und eine Armee, die ihn schützt? Ein solches Abenteuer hätte mehr an Unvorhergesehenem bereitgehalten; aber dieses Fremdartige wäre für ihn dort zwar sicherer und echter, doch von zweifelhaftem Gewinn gewesen: das Fremdartige an der Kolonie, sofern es das für ihn überhaupt gibt, muss sich in allererster Linie rentieren. Unbefangen und präziser als die Sprachakrobaten wird unser Reisender uns die beste Definition anbieten, die es für »Kolonie« gibt: man verdient dort mehr und gibt weniger aus. Man begibt sich in die Kolonie, weil die Situationen dort gesichert, die Gehälter höher, die Karrieren steiler und die Geschäfte einträglicher sind. Dem frischgebackenen Universitätsabsolventen hat man eine Stelle angeboten, dem Beamten die Einstufung in eine höhere Besoldungsgruppe, dem Geschäftsmann beträchtliche Steuererleichterungen und dem Industriellen Rohstoffe und Arbeitskräfte zu ungewöhnlich niedrigen Löhnen.
Aber nehmen wir einmal an, dass es diesen naiven Reisenden wirklich gibt, der genauso zufällig in der Kolonie landet, wie er auch in Toulouse oder Colmar hätte ankommen können.
Wird er sehr lange brauchen, um die Vorteile seiner neuen Situation zu sehen? Auch wenn er erst im Nachhinein entdeckt wird, so drängt sich der ökonomische Sinn des Aufbruchs in die Kolonien kaum weniger stark oder schnell auf. Der Europäer in den Kolonien mag sicherlich auch die neue Landschaft lieben und das Malerische ihrer Gebräuche genießen. Wenn ihn jedoch das Klima abschrecken würde, wenn er sich inmitten dieser fremdartig gekleideten Menschenmassen unbehaglich fühlen und seiner Heimat nachtrauern würde, dann stellte sich das Problem, ob diese Widrigkeiten und Unannehmlichkeiten für die Vorteile der Kolonie in Kauf genommen werden sollen oder nicht.
Bald verhehlt er es nicht länger, überall kann man ihn vernehmlich träumen hören: noch ein paar Jahre, und er wird sich ein Haus im Mutterland kaufen … alles in allem eine Art Fegefeuer, aber eines, das sich auszahlt. Von jetzt an reicht es ihm zwar, das Exotische hat er satt, und manchmal wird er krank, aber er klammert sich an dieses Land – er steckt in der Falle bis zur Pensionierung oder sogar bis zu seinem Tod. Warum sollte er ins Mutterland zurückgehen, wo er seinen Lebensstandard auf die Hälfte reduzieren müsste? Wieder zurück in die Metropole, wo es mit den Beförderungen so quälend lange dauert? …
Als in den letzten Jahren die Geschichte in Bewegung geraten war und das Leben für die Kolonisatoren schwieriger und oft gefährlich wurde, da war es diese einfache, keinen Einwand duldende Rechnung, die sie zurückgehalten hat. Selbst diejenigen, die in der Kolonie als Zugvögel bezeichnet werden, haben keine übertriebene Eile an den Tag gelegt, abzureisen. Einige, die eine Rückkehr erwogen, fürchteten plötzlich überraschend eine neue Fremdartigkeit: sich in ihrer ursprünglichen Heimat wiederzufinden. Man kann ihnen ein Stück weit glauben; sie haben ihr Land vor so langer Zeit verlassen, dass mit ihm keine freundschaftlichen Verbindungen mehr bestehen, ihre Kinder sind in der Kolonie geboren, und dort haben sie auch ihre Toten begraben. Aber sie übertreiben ihren Trennungsschmerz. Sie haben sich zwar mit ihren täglichen Gewohnheiten innerhalb der Kolonialbevölkerung eingerichtet, aber sie haben ihr auch die Sitten des Mutterlandes mitgebracht und auferlegt, jenes Mutterlandes, in dem sie regelmäßig die Ferien verbringen, aus dem sie ihre verwaltungstechnischen, politischen und kulturellen Anregungen beziehen und auf das ihre Augen unverändert gerichtet bleiben. Im Grunde genommen ist ihr Gefühl des Fremdseins wirtschaftlicher Art, nämlich das des Neureichen, der Gefahr läuft, zu verarmen.
Deshalb werden sie so lange wie möglich ausharren, denn je mehr Zeit vergeht, um so länger dauern die Vorteile, die wohl einige Beunruhigungen wert sind und die man in jedem Fall zu früh verlieren wird. Aber erst wenn eines Tages die Wirtschaft betroffen ist, wenn die »Lage«, wie man sagt, wirklich gefährlich wird, erst dann fühlt sich der Kolonisator bedroht und denkt daran, diesmal ernsthaft, in die Metropole zurückzukehren.
Auf der kollektiven Ebene liegt die Angelegenheit noch klarer. Die kolonialen Unternehmungen haben nie einen anderen erklärten Sinn gehabt. Während der französisch-tunesischen Verhandlungen haben sich einige Unbedarfte über den relativ guten Willen der französischen Regierung insbesondere im kulturellen Bereich gewundert, aber auch über die insgesamt schnelle Nachgiebigkeit der Herren der Kolonie. Die klugen Köpfe der Bourgeoisie und der Kolonie hatten eben erkannt, dass das wesentliche an der Kolonisation weder das Prestige einer Fahne ist noch die kulturelle Expansion, ja nicht einmal die Leitung der Verwaltung oder das Wohlergehen eines Beamtenkörpers. Die Naiven wundern sich darüber, dass man in allem Zugeständnisse machen konnte, solange die Basis, d.h. die ökonomischen Vorteile, erhalten blieb. Und wenn Herr Mèndes-France seine berühmte Blitzreise unternehmen konnte, so geschah dies mit ihrem Segen und unter dem Schutz eines der ihren. Genau das war sein Programm und der wichtigste Inhalt der Abkommen.
Der Eingeborene und der Privilegierte
Wenn der Kolonisator – durch Zufall oder Zielstrebigkeit – einmal den Profit entdeckt hat, fehlt ihm allerdings noch die bewusste Einsicht in die historische Rolle, die ihm zugedacht ist. Zur Erkenntnis der neuen Situation bedarf es noch eines Schrittes: er muss zugleich den Ursprung und die Bedeutung dieses Profits verstehen. Freilich braucht man darauf nicht lange zu warten. Wie könnte er über längere Zeit hinweg das Elend des Kolonisierten und den Zusammenhang zwischen diesem Elend und seinem eigenen Wohlergehen übersehen? Es wird für ihn deutlich, dass dieser leichte Gewinn nur darum so leicht ist, weil er anderen entrissen wird. Kurz gesagt, er macht zwei Entdeckungen auf einmal: er entdeckt die Existenz des Kolonisierten und damit sein eigenes Privileg.
Zweifellos wusste er, dass die Kolonie nicht ausschließlich von Kolonisten oder Kolonisatoren bewohnt war. Er hatte sogar eine bestimmte Vorstellung von den Kolonisierten, die er der Lektüre von Büchern aus seiner Kindheit verdankte; im Kino hatte er diesen oder jenen Dokumentarfilm über einige ihrer Gebräuche gesehen, die meistens wegen ihrer Fremdartigkeit ausgesucht worden waren. Aber diese Menschen gehörten eben den Regionen der Phantasie, der Bücher oder der Kinovorstellungen an. Sie betrafen ihn nicht oder kaum, nur auf dem Umweg über die Vermittlung von Bildern, die seiner gesamten Nation gemeinsam waren, militärische Heldenepen, unbestimmte strategische Überlegungen. Das hatte ihn ein wenig beunruhigt, als er für sich den Entschluss fasste, selbst in die Kolonie zu gehen, aber nicht anders, als ihn das möglicherweise ungünstige Klima beunruhigt hatte oder das Wasser, das dort zu kalkhaltig sein sollte. Und auf einmal sind diese Menschen kein simples Zubehör einer geographischen oder historischen Kulisse mehr, sondern treten real in sein Leben ein.
Er kann sich nicht einmal dafür entscheiden, ihnen aus dem Weg zu gehen, er muss in beständiger Beziehung mit ihnen leben, denn gerade diese Beziehung ist es, die ihm dieses Leben ermöglicht, das er in der Kolonie freiwillig gesucht hat, diese Beziehung ist es, die so einträglich ist und die das Privileg schafft. Er befindet sich auf der einen Schale einer Waage, deren andere den Kolonisierten trägt. Ist sein Lebensstandard hoch, so deshalb, weil der des Kolonisierten niedrig ist; wenn er von Arbeitskräften profitieren kann, von einer zahlreichen und anspruchslosen Dienerschaft, so deshalb, weil der Kolonisierte nach Belieben ausgebeutet werden kann und von den Gesetzen der Kolonie nicht geschützt wird; wenn er so leicht einen Posten in der Verwaltung erhält, so darum, weil diese Stellen für ihn reserviert werden und der Kolonisierte von ihnen ausgeschlossen ist; je freier er atmet, um so mehr schnürt es dem Kolonisierten die Kehle zu.
Es ist unmöglich für ihn, das alles nicht zu entdecken. Er ist es nicht, den die öffentlichen Reden vielleicht überzeugen werden, denn diese Reden hat er selbst, sein Vetter oder sein Freund verfasst; die Gesetze, die seine weitgehenden Rechte und die Pflichten der Kolonisierten festhalten, sie sind von ihm gemacht, die kaum verhüllten Anweisungen zur Diskriminierung, die Quoten bei den Ausscheidungsprüfungen und Stellenvergaben; er ist zwangsläufig in das Geheimnis ihrer Anwendung eingeweiht, da er nun einmal damit betraut ist. Selbst wenn er sich gegenüber dem Funktionieren des gesamten Apparates blind und taub stellen wollte – es genügt, dass er dessen Früchte empfängt: der Nutznießer des gesamten Unternehmens ist eben er.