Kitabı oku: «Ange Pitou Denkwürdigkeiten eines Arztes 3», sayfa 2
Je näher er diesem Quartier kam, desto mehr hemmte Pitou seinen Schritt; denn offenbar führte man ihn zu seiner Tante Angélique, und trotz der wenigen Male, die er seine Patin gesehen – die Tante Angélique hatte nämlich Pitou mit ihrem poetischen Taufnamen beschenkt – bewahrte er doch eine furchtbare Erinnerung an diese ehrwürdige Verwandte.
Die Tante Angélique besaß in der That nichts Anziehendes für ein Kind, das sich an alle Zärtlichkeiten mütterlicher Fürsorge gewöhnt hatte. Sie war in jener Zeit eine alte Mademoiselle von fünfundfünfzig bis achtundfünfzig Jahren, verdumpft durch den Mißbrauch der ängstlichen Religionsübungen, bei der eine mißverstandene Frömmigkeit alle mitleidigen, menschlichen Gefühle verengt und zusammengeschnürt hatte, um an ihrer Stelle eine starke Portion gierigen Verstandes zu pflegen, die sich täglich im beständigen Umgang mit den Betschwestern der Stadt vermehrte. Sie lebte nicht gerade von Almosen, doch außer dem Verkauf von flächsenem Garn, das sie am Rädchen spann, und der Vermietung der Kirchenstühle, die ihr vom Kapitel bewilligt worden war, empfing sie von Zeit zu Zeit von frommen Personen, die sich von ihrer Scheinheiligkeit bethören ließen, kleine Summen, welche sie allmählich von Kupfermünze in Silbermünze, und von Silbermünze in Louis d'or verwandelte. Ohne daß jemand ihr Vorhandensein mutmaßte, verschwanden sie einer um den andern in den Kissen des Lehnstuhls, auf dem sie arbeitete. Und befanden sie sich einmal in diesem Versteck, so trafen sie eine gewisse Anzahl ihrer Kameraden, die bestimmt waren, fortan von der Cirkulation ausgeschlossen zu sein, bis zu dem unbekannten Tag, wo der Tod der alten Mademoiselle sie in die Hände ihres Erben bringen würde.
Nach der Wohnung dieser ehrwürdigen Verwandten begab sich also der Doktor Gilbert, den großen Pitou an der Hand fortziehend.
Wir sagen den großen Pitou, weil vom ersten Vierteljahr nach seiner Geburt Pitou für sein Alter immer zu groß gewesen war.
Mademoiselle Rose Angélique Pitou war in dem Augenblick, als sie ihre Thüre öffnete, um ihren Neffen und den Doktor einzulassen, in sehr freudiger Laune. Während man die Totenmesse über dem Leichnam ihrer Schwägerin in der Kirche von Haramont las, hatten Hochzeiten und Taufen in der Kirche von Villers-Cotterets stattgefunden, so daß die Einnahme für die Stühle an einem Tage auf sechs Livres angewachsen war. Mademoiselle Angélique hatte ihre Sous in einen großen Thaler verwandelt, der wiederum mit den drei anderen zu verschiedenen Zeiten in Reserve gelegten Thalern einen Louisd'or gab. Dieser Louisd'or war soeben den übrigen beigesellt worden, und der Tag, an dem eine solche Vereinigung stattfand, bildete natürlich einen Festtag für Mademoiselle Angélique.
Gerade in dem Augenblick, als die Tante eine letzte Runde um ihren Lehnstuhl gemacht hatte, um sich zu versichern, daß nichts von außen den im Innern verborgenen Schatz verrate, traten der Doktor und Pitou ein.
Die Scene wäre rührend gewesen; doch in den Augen eines so richtigen Beobachters, wie der Doktor Gilbert, war sie nur grotesk. Als sie ihren Neffen erblickte, sprach die alte Frömmlerin ein paar Worte von ihrer armen teuren Schwester, die sie so sehr geliebt, und gab sich die Miene, als wischte sie eine Thräne ab. Der Doktor, der erst einen Blick in die tiefste Tiefe des Herzens der alten Mademoiselle werfen wollte, bevor er in Beziehung auf sie einen Entschluß fassen würde, hielt zum Schein Mademoiselle Angélique eine Rede über die Pflichten der Tanten gegen die Neffen. Doch in dem Maße, in welchem die Rede sich entwickelte und die Worte von den Lippen des Doktors strömten, trank das Auge der alten Mademoiselle die Thräne, die es befeuchtet hatte, alle ihre Züge nahmen die Trockenheit des Pergaments wieder an, mit dem sie bedeckt zu sein schienen. Sie hob die linke Hand bis zur Höhe ihres spitzigen Kinns empor und fing an, mit der rechten an ihren dürren Fingern die annähernde Zahl der Sous zu berechnen, die ihr das Vermieten der Stühle jährlich eintrug, so daß sie, da es der Zufall gefügt, daß die Rechnung zugleich mit der Rede geschlossen war, auf der Stelle antworten konnte: wie sehr sie auch ihre arme Schwester geliebt, und in welch hohem Grade sie auch Teilnahme für ihren Neffen hege, so gestatten ihr doch ihre geringen Einnahmen, trotz ihres doppelten Titels als Tante und Patin, keinen Zuwachs an Ausgaben.
Der Doktor war übrigens auf diese Weigerung gefaßt gewesen, sie überraschte ihn daher nicht. Er gehörte zu den großen Parteigängern der neuen Ideen, und da der erste Band vom Werke Lavaters erschienen war, so hatte er die physiognomische Lehre des Philosophen von Zürich schon auf das hagere gelbe Gesicht von Mademoiselle Angélique angewendet.
Aus dieser Untersuchung ergab sich für ihn folgendes: die kleinen, glühenden Augen der alten Mademoiselle, ihre lange Nase und ihre dünnen Lippen bieten die Vereinigung der Habgier, der Selbstsucht und der Heuchelei in einer Person.
Die Antwort erregte bei ihm, wie gesagt, nicht das geringste Erstaunen. Als Beobachter wollte er jedoch sehen, wie weit die Frömmlerin die Entwickelung dieser drei gemeinen Laster treiben würde.
»Aber Mademoiselle,« sagte er, »Ange Pitou ist ein armes Waisenkind, der Sohn Ihres Bruders, und Sie können, im Namen der Menschlichkeit, den Sohn Ihres Bruders nicht der öffentlichen Wohlthätigkeit überlassen.«
»Oh! hören Sie doch, Herr Gilbert,« erwiderte die alte Mademoiselle, »das ist eine Mehrausgabe von wenigstens sechs Sous täglich, und zwar noch gering gerechnet; denn dieser Junge muß mindestens ein Pfund Brot den Tag essen.«
Pitou schnitt ein Gesicht; er aß gewöhnlich anderthalb Pfund nur bei seinem Frühstück.
»Abgesehen von der Seife für seine Wäsche,« fuhr die Betschwester fort, »und ich erinnere mich, daß er erschrecklich verschmutzt.«
Pitou verschmutzte allerdings sehr, und das ist begreiflich, wenn man sich des Lebens erinnern will, das er führte; doch man mußte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: er zerriß noch viel mehr, als er verschmutzte.
»Ah!« sagte der Doktor, »pfui, Mademoiselle Angélique; Sie, die Sie so sehr die christliche Liebe üben, machen solche Berechnungen bei einem Neffen und Paten!«
»Abgesehen von der Unterhaltung der Kleider,« rief die alte Frömmlerin aus, die sich erinnerte, ihre Schwester Madeleine beständig mit Flickereien und Ausbesserungen an den Wämsern und Hosen ihres Neffen beschäftigt gesehen zu haben.
»Sie weigern sich also, Ihren Neffen zu sich zu nehmen?« sagte der Doktor; »von der Schwelle seiner Tante zurückgestoßen, wird die Waise genötigt sein, Almosen auf der Schwelle fremder Häuser zu fordern.«
So habgierig sie auch war, so begriff die Betschwester doch das Gehässige, das ganz natürlich auf sie zurückfallen müßte, wäre ihr Neffe, durch ihre Weigerung, ihn aufzunehmen, genötigt, diese Aeußerste zu ergreifen.
»Nein,« sagte sie, »ich behalte ihn bei mir.«
»Ah!« sprach der Doktor, »glücklich, ein gutes Gefühl in diesem Herzen zu finden, das er für vertrocknet hielt.«
»Ja,« fuhr die alte Mademoiselle fort, »ich werde ihn den Augustinern von Bourg-Fontaine empfehlen, und er wird bei ihnen als Laienbruder eintreten.«
Der Doktor war, wie gesagt, Philosoph. Man kennt den Wert des Wortes Philosoph in jener Zeit.
Er beschloß daher auf der Stelle, den Augustinern einen Neophyten zu entreißen, und zwar mit demselben Eifer, den die Augustiner ihrerseits angewandt hätten, den Philosophen einen Adepten zu entführen.
»Nun wohl!« sprach er, indem er die Hand an seine tiefe Tasche drückte, »da Sie in einer so schlimmen Lage sind, meine liebe Demoiselle Angélique, da Sie sich in Ermanglung eigener Mittel genötigt sehen, Ihren Neffen der Wohlthätigkeit anderer zu empfehlen, so werde ich jemand suchen, der wirksamer als Sie zum Unterhalt des armen verwaisten Knaben die Summe anzuwenden vermag, die ich für ihn bestimmt habe . . . Ich muß nach Amerika zurückkehren und werde vor meinem Abgang Ihren Neffen Pitou in die Lehre bei einem Tischler oder bei einem Stellmacher bringen. Er selbst soll übrigens einen Stand nach seiner Neigung wählen. Während meiner Abwesenheit wird er groß werden, und bei meiner Rückkehr wird er schon geschickt in seinem Handwerk sein, und ich werde dann sehen, was sich für ihn thun läßt. Auf, mein Kind, küsse deine Tante und laß uns gehen,« fügte der Doktor bei.
Der Doktor hatte noch nicht vollendet, als Pitou schon mit seinen zwei langen Armen auf die Mademoiselle zustürzte; es drängte ihn in der That sehr, seine Tante zu küssen, unter der Bedingung, daß dieser Kuß zwischen ihm und ihr das Zeichen einer ewigen Trennung wäre.
Doch bei dem Worte die Summe, bei der Gebärde des Doktors, der seine Hand in seine Tasche steckte, beim silbernen Klang, den diese Hand eine Masse von großen Thalern, deren Quantum man nach der Ausdehnung des Rockes berechnen konnte, von sich geben ließ, hatte die alte Mademoiselle die Hitze der Habgier bis zu ihrem Herzen aufsteigen gefühlt.
»Ah!« sagte sie, »mein lieber Herr Gilbert, Sie wissen eines wohl.«
»Was?« fragte der Doktor.
»Ei! mein guter Gott! daß niemand in der Welt das arme Kind so sehr lieben wird, als ich!«
Und ihre magern Arme mit den ausgestreckten Armen von Pitou verschlingend, drückte sie auf jede seiner Wangen einen sauren Kuß, der ihn von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln schauern machte.
»Oh! gewiß,« sagte der Doktor, »ich weiß das wohl, und ich zweifelte so wenig an Ihrer Freundschaft für ihn, daß ich ihn unmittelbar zu Ihnen, als seiner natürlichen Stütze, brachte. Aber was Sie mir soeben sagten, liebe Demoiselle, hat mich zugleich von Ihrem guten Willen und von Ihrem Unvermögen überzeugt und Sie sind, wie ich wohl einsehe, selbst zu arm, um einem noch Aermeren zu helfen.«
»Ei! mein guter Herr Gilbert,« entgegnete die alte Frömmlerin, »ist nicht der liebe Herrgott im Himmel, und ernährt er nicht vom Himmel herab alle seine Geschöpfe?«
»Das ist wahr, aber wenn er den Vögeln Futter giebt, so bringt er doch die Waisen nicht in die Lehre. Das muß nun für Ange Pitou geschehen, und das wird Sie bei Ihren geringen Mitteln nicht zu viel kosten.«
»Wenn Sie aber diese Summe geben,« Herr Doktor?
»Welche Summe?«
»Die Summe, von der Sie gesprochen, die Summe, die hier in ihrer Tasche ist?« fügte die Betschwester bei, indem sie ihren gekrümmten Finger gegen den Schoß des kastanienbraunen Rockes ausstreckte.
»Ich werde sie sicherlich geben,« liebe Demoiselle Angélique, doch ich sage Ihnen zum voraus, nur unter einer Bedingung.«
»Unter welcher?«
»Daß das Kind ein bestimmtes Gewerbe erlernt.«
»Es soll eines haben, ich verspreche es Ihnen bei meinem Wort, Herr Doktor,« sagte die Frömmlerin.
»Sie versprechen mir im Ernste?«
»Ich nehme den guten Gott zum Zeugen der Wahrheit meines Schwures,« erwiderte Angélique. Und sie streckte ihre fleischlose Hand in die Höhe.
»Gut, es sei,« sagte der Doktor, während er aus seiner Tasche einen Sack mit rundem prallem Bauche zog; »ich bin bereit, das Geld zu geben, wie Sie sehen; sind Sie Ihrerseits bereit, mir für das Kind zu haften?«
»Bei dem wahrhaftigen Kreuze, Herr Gilbert.«
»Schwören wir nicht so sehr, liebe Demoiselle, und unterzeichnen wir ein wenig.«
»Ich werde unterzeichnen,« Herr Gilbert, »ich werde unterzeichnen.«
»Vor dem Notar?«
»Vor dem Notar.«
»So gehen wir ein wenig zu dem Notar Niguet.«
Der Papa Niguet, dem infolge einer langen Bekanntschaft der Doktor diesen freundschaftlichen Titel gab, war, wie diejenigen von unsern Lesern schon wissen, die mit unserem Buche Joseph Balsamo vertraut sind, der angesehenste Notar des Ortes.
Mademoiselle Angélique, deren Notar Meister Niguet auch war, hatte nichts gegen die vom Doktor getroffene Wahl einzuwenden. Sie folgte ihm daher in die bezeichnete Schreibstube. Hier protokollierte der Notar das von Demoiselle Rose Angélique Pitou geleistete Versprechen, ihren Neffen Louis Ange Pitou zu sich zu nehmen und zur Ausübung eines ehrenhaften Gewerbes gelangen zu lassen, wogegen sie jährlich die Summe von zweihundert Livres erhalten sollte.
Am andern Tag verließ der Doktor Villers-Cotterets, nachdem er einige Rechnungen mit seinem Pächter geordnet hatte. Und Mademoiselle Pitou, die wie ein Geier über die genannten, zum voraus zahlbaren zweihundert Livres herfiel, schloß acht schöne Louisd'or in ihren Lehnstuhl ein.
Was die übrig bleibenden acht Livres betrifft, so warteten sie in einer kleinen Unterschale von Porzellan, die seit dreißig bis vierzig Jahren eine Menge Münzen von allen möglichen Sorten hatte durchziehen sehen, bis die Ernte von einigen Sonntagen die Summe von vierundzwanzig Livres vervollständigte, eine Zahl, bei der immer die genannte Summe eine Verwandlung in Gold durchmachte und von der Schale in den Lehnstuhl überging.
III.
Ange Pitou bei seiner Tante
Wir haben gesehen, wie wenig Sympathie Ange Pitou für einen zu langen Aufenthalt bei seiner guten Tante Angélique hegte; mit einem, dem der Tiere gleichen oder ihm vielleicht überlegenen Instinkte begabt, hatte der arme Knabe zum voraus erraten, was bei diesem Aufenthalt seiner harrte an Verdrießlichkeiten, Plackereien und Widerwärtigkeiten.
Einmal, sobald der Doktor Gilbert abgereist – und das hatte Pitou nicht am meisten gegen seine Tante mißgestimmt – war nicht einen Augenblick mehr davon die Rede gewesen, das Kind in die Lehre zu bringen. Wohl hatte der Notar mit einem Worte die förmliche Uebereinkunft berührt; aber Mademoiselle Angélique antwortete, ihr Neffe sei noch zu jung und besonders von zu zarter Gesundheit, um Arbeiten unterworfen zu werden, die vielleicht seine Kräfte übersteigen würden. Bei dieser Bemerkung bewunderte der Notar das gute Herz von Mademoiselle Pitou und verschob die Lehre auf das nächste Jahr. Dabei war keine Zeit verloren, denn der Knabe hatte erst sein zwölftes Jahr erreicht.
Sobald er bei seiner Tante war, und während sie darüber nachsann, wie sie den besten Nutzen aus ihrem Neffen ziehen könnte, hatte Pitou, der sich wieder in seinem Walde befand, auch schon alle seine topographischen Anordnungen getroffen, um in Villers-Cotterets dasselbe Leben zu führen, wie in Haramont. Denn eine Wanderung in der Runde hatte ihn in der That gelehrt, die besten Tränkherde wären die am Wege nach Dampleux, am Wege nach Compiègne und am Wege nach Vivieres, und der wildreichste Bezirk sei der der Wolfsheide.
Nachdem er diese Rekognoszierung vorgenommen, traf Pitou demgemäß seine Vorkehrungen.
Das, was er sich am leichtesten verschaffen konnte, insofern es keine Anlage von Kapitalien erforderte, war der Leim und die Leimruten. Die Rinde der Stechpalme, mit einer Mörserkeule zermalmt und im heißen Wasser gewaschen, verschaffte den Leim; die Ruten aber wuchsen zu tausenden auf den Birken der Umgegend. Pitou verfertigte sich, ohne einem Menschen ein Wort davon zu sagen, ein tausend Leimruten und einen Topf Leim erster Qualität, und an einem schönen Morgen, nachdem er tags zuvor auf Rechnung seiner Tante einen vierpfündigen Laib Brot beim Bäcker genommen hatte, ging er in der Dämmerung weg, blieb den ganzen Tag auswärts und kehrte erst bei sinkender Nacht wieder zurück.
Pitou hatte einen solchen Entschluß nicht gefaßt, ohne die Folgen davon zu berechnen. Er hatte einen Sturm vorhergesehen. Ohne die Weisheit von Sokrates zu besitzen, kannte er doch die Laune seiner Tante Angélique ebensogut, als der berühmte Lehrer von Alcibiades die seiner Frau Xantippe.
Pitou hatte sich in seiner Vorhersehung nicht getäuscht, doch gedachte er dem Sturme dadurch die Stirne zu bieten, daß er der alten Frömmlerin den Ertrag seines Tagewerkes überreichen würde. Nur hatte er den Platz nicht erraten können, wo ihn der Blitzstrahl treffen würde.
Der Blitzstrahl traf ihn bei seinem Eintritt.
Mademoiselle Angélique hatte sich hinter der Thür in den Hinterhalt gelegt, um ihren Neffen beim Vorübergehen nicht zu verfehlen, so daß er in dem Augenblick, wo er den Fuß in die Stube setzte, einen Schlag an das Hinterhaupt erhielt, an dem er, ohne einer andern Belehrung zu bedürfen, vollkommen die dürre Hand der Betschwester erkannte.
Zum Glück hatte Pitou einen harten Kopf, und obgleich ihn der Schlag kaum erschütterte, gab er sich doch, um seine Tante zu rühren – deren Zorn sich dadurch vermehrte, daß sie sich durch ein maßloses Schlagen an den Fingern sehr wehe gethan – den Anschein, als fiele er stolpernd an das andere Ende der Stube. Sobald er hier angelangt war und seine Tante, ihren Rock in der Hand, auf sich zukommen sah, zog er hastig aus seiner Tasche den Talisman, auf den er gerechnet hatte, um sich Verzeihung für sein Ausbleiben zu verschaffen.
Das waren zwei Dutzend Vögel, worunter ein Dutzend Rotkehlchen und ein halbes Dutzend Drosseln.
Mademoiselle Angélique riß ihre Augen ganz erstaunt auf und fuhr der Form wegen fort zu zanken; aber während sie schalt, bemächtigte sich ihre Hand des Jagdertrags ihres Neffen, sie machte drei Schritte gegen die Lampe und fragte:
»Was ist das?«
»Sie sehen es wohl, mein gutes Tantchen Angélique erwiderte Pitou, es sind Vögel.«
»Gut zum essen?« sagte rasch die alte Mademoiselle, welche in ihrer Eigenschaft als Betschwester natürlich eßgierig war.
»Gut zum essen!« wiederholte Pitou, »entschuldigen Sie; Rotkehlchen und Drosseln, ich glaube wohl.«
»Und wo hast du diese Tiere gestohlen, kleiner Unglücklicher?«
»Ich habe sie nicht gestohlen, ich habe sie gefangen.«
Wie?«
»Am Tränkherd.«
»Was ist das, ein Tränkherd?«
Pitou schaute Tante mit erstaunter Miene an; er konnte nicht begreifen, daß es in der Welt eine Person gebe, die in ihrer Erziehung vernachlässigt genug sei, um nicht zu wissen, was der Tränkherd bedeute.
»Der Tränkherd?« erwiderte er. »Bei Gott! das ist der Tränkherd.«
»Ja, kleiner Schlingel, aber ich weiß nicht, was das ist.«
Da Pitou voll Mitleid gegen alle Unwissenheiten war, so antwortete er:
»Der Tränkherd ist eine kleine Lache, es finden sich solche ungefähr dreißig im Wald; man legt Leimruten rings umher, und wenn die Vögel, die das nicht kennen, die Dummköpfe, kommen, um zu trinken, so fangen sie sich.«
»Woran?«
»Am Leim.«
»Ah! ah!« sagte die Tante Angélique, »ich begreife; doch wer hat dir Geld gegeben?«
»Geld?« erwiderte Pitou, erstaunt, daß man glauben konnte, er habe je einen Pfennig besessen; »niemand.«
»Mit was hast du denn den Leim gekauft?«
»Ich habe den Leim selbst gemacht.«
»Und die Leimruten?«
»Auch.«
»Diese Vögel kosten dich also nichts?«
»Die Mühe, mich zu bücken und sie zu nehmen.«
»Und kann man oft an den Tränkherd gehen?«
»Man kann alle Tage dahin gehen, nur muß man nicht . . .«
»Was muß man nicht?«
»Alle Tage dahin gehen.«
»Aus welchem Grunde?«
»Weil das ruiniert.«
»Was ruiniert das?«
»Den Tränkherd. Sie begreifen, Tante Angélique, die Vögel, die man gefangen hat . . .«
»Nun?«
»Sie sind nicht mehr da.«
»Das ist richtig, erwiderte die Tante.«
Zum ersten Mal, seitdem er sich in ihrem Hause befand, gab die Tante Angélique ihrem Neffen recht; diese ungewohnte Billigung entzückte auch Pitou.
»Doch,« sagte er, »an den Tagen, wo man nicht an den Tränkherd geht, geht man anderswo hin. An den Tagen, wo man keine Vögel fängt, fängt man etwas anderes.«
»Und was fängt man denn?«
Man fängt Kaninchen.«
»Kaninchen?«
»Ja, man ißt das Fleisch und verkauft den Balg. Ein Kaninchenbalg ist zwei Sous wert.
Die Tante Angélique schaute ihren Neffen mit ganz erstaunten Augen an; sie hatte nie in ihm einen so großen Oekonomen gesehen. Pitou hatte sich geoffenbart.
»Aber ich werde die Kaninchenbälge verkaufen?«
»Allerdings, wie es Mama Madeleine machte.«
Es war dem Kinde nie der Gedanke gekommen, es könnte von dem Ertrage seiner Jagd etwas anderes in Anspruch nehmen, als seinen Teil am Verzehren.
»Und wann wirst du Kaninchen fangen?« fragte Mademoiselle Angélique.
»Ah! sobald ich Schlingen habe,« erwiderte Pitou.
»Nun denn! so mache Schlingen.«
Pitou schüttelte den Kopf. Du hast ja Leim und Leimruten gemacht!
»Ah! ich verstehe wohl Leim und Leimruten zu machen, das ist wahr; aber ich verstehe nicht Messingdraht zu machen; das kauft man fertig bei den Krämern.«
»Und wie viel kostet das?«
»Oh! mit vier Sous werde ich wohl zwei Dutzend machen,« antwortete Pitou an den Fingern rechnend.
»Und wie viel kannst du mit zwei Dutzend Kaninchen fangen?«
Das ist, wie es gerade kommt: vier, fünf, sechs vielleicht; und dann dienen diese Schlingen mehrere Male, wenn sie der Aufseher nicht findet.«
»Hier hast du vier Sous,« sagte Tante Angélique, »kaufe Messingdraht bei Herrn Dambrun und gehe morgen auf die Kaninchenjagd.«
»Ich werde die Schlingen morgen legen,« erwiderte Pitou, »doch erst übermorgen früh erfahre ich, ob sich Kaninchen gefangen haben.«
Der Messingdraht war minder teuer in der Stadt, als auf dem Lande, weil die Krämer von Haramont sich in Villers-Cotterets damit versahen. Pitou erhielt also vierundzwanzig Schlingen für drei Sous. Er brachte einen Sou seiner Tante zurück.
Diese unerwartete Ehrlichkeit ihres Neffen rührte beinahe die alte Mademoiselle. Sie hatte einen Augenblick den Gedanken, mit diesem Sou, der nicht verwendet worden war, ihren Neffen zu beschenken. Zum Unglück für Pitou war es ein mit dem Hammer breit geschlagener Sou, der in der Dämmerung für zwei Sous gelten konnte. Mademoiselle Angélique dachte, man müsse ein Geldstück nicht ausgeben, das hundert Prozent tragen könne; und steckte den Sou wieder in die Tasche.
Pitou hatte die Bewegung bemerkt, aber nicht analysiert. Es wäre ihm nie eingefallen, seine Tante könnte ihm einen Sou geben.
Er verfertigte seine Schlingen, und am andern Morgen verlangte er einen Sack von Mademoiselle Angélique.
»Wozu?« fragte die alte Mademoiselle.
»Weil ich einen brauche,« antwortete Pitou, der voller Geheimnisse war.
Mademoiselle Angélique gab ihm den verlangten Sack, legte den Vorrat an Brot und Käse hinein, der zum Frühstück und Mittagessen ihres Neffen dienen sollte, und dieser ging sogleich nach der Wolfsheide ab.
Die Tante Angélique ihrerseits fing damit an, daß sie die zwölf Rotkehlchen rupfte, die sie zu ihrem Frühstück und ihrem Mittagessen bestimmt hatte. Sie brachte zwei Drosseln dem Abbé Fortier und verkaufte die vier andern an den Wirt zur Goldenen Kugel, der sie ihr mit drei Sous das Stück bezahlte und ihr alle, die sie ihm bringen würde, um denselben Preis abzunehmen versprach. Die Tante Angélique kehrte strahlend zurück. Der Segen des Himmels war mit Pitou in ihrem Hause eingekehrt.
»Ah!« sagte sie, während sie ihre Rotkehlchen aß, die fett waren wie Ortolane und zart wie Feigenschnepfen: »man hat recht, wenn man behauptet, eine Wohlthat sei nie verloren.«
Am Abend kam Ange nach Hause; er trug auf seinem Rücken einen herrlich gerundeten Sack. Diesmal erwartete ihn die Tante nicht hinter der Thüre, sondern auf der Schwelle, und statt mit einer Kopfnuß empfangen zu werden, wurde der Knabe mit einer Grimasse aufgenommen, die beinahe einem Lächeln glich.
»Hier bin ich!« rief Pitou, als er in die Stube mit jener Dreistigkeit eintrat, die das Bewußtsein eines gut ausgefüllten Tages bezeichnet.
»Du und Dein Sack,«
»Ich und mein Sack,« erwiederte Pitou.
Und was ist in deinem Sack? fragte die Tante Angélique.
»Bucheln.«
Bucheln.«
»Allerdings, Sie begreifen wohl, Tante Angélique, wenn der Vater La Jeunesse, der Schütze der Wolfsheide, mich auf seinem Bezirke ohne meinem Sack hätte herumstreichen sehen, so würde er gesagt haben: »»Was machst du hier, kleiner Landstreicher?«« Abgesehen davon, daß er etwas vermutet hätte. Während ich mit meinem Sack, wenn er mich fragt, was ich machen wolle, ihm antwortete: »»Ich komme zur Buchellese; ist es denn verboten, zur Buchellese zu gehen?«« »»Nein.«« »»Nun wenn das nicht verboten ist, so haben Sie mir nichts zu sagen.«« In der That, wenn er etwas sagt, der Vater La Jeunesse, so hat er unrecht.
»Also hast du deinen Tag damit zugebracht, daß du Bucheln gelesen, statt die Schlingen zu legen, Träger!« rief die Tante Angélique, die unter allen diesen Kniffen ihres Neffen die Kaninchen sich entgehen zu sehen glaubte.
»Im Gegenteil, ich habe meine Schlingen gelegt, während ich Bucheln las, so daß er mich bei der Arbeit sah.«
»Und er hat dir nichts gesagt?«
»Doch. Er hat mir gesagt: »»du wirst deiner Tante Pitou meine Komplimente ausrichten.«« Nun! ist das ein braver Mann, der Vater La Jeunesse.
»Aber die Kaninchen? versetzte die Tante Angélique, die nichts von ihrem Hauptgedanken abbringen konnte.
»Aber die Kaninchen?« versetzte die Tante Angélique, welche nichts von ihrem Hauptgedanken abbringen konnte.
»Die Kaninchen? Der Mond geht um Mitternacht auf, und ich werde um ein Uhr nachsehen, ob sie gefangen sind.«
»Wo dies?«
»Im Walde.«
»Wie, du willst um ein Uhr morgens in den Wald?«
»Jawohl!«
»Ohne Angst zu haben?«
»Angst, wovor?«
Die Tante Angélique war ebenso erstaunt über den Mut von Pitou, als sie über seine Spekulationen erstaunt gewesen war.
Einfach wie ein Kind der Natur, kannte Pitou allerdings keine von den scheinbaren Gefahren, die die Kinder der Städte erschrecken.
Er brach auch um Mitternacht auf und ging längs der Kirchhofmauer hin, ohne sich abzuwenden. Das unschuldige Kind, das in seinem Leben, wenigstens in seinen Unabhängigkeitsideen, weder Gott noch die Menschen beleidigt hatte, fürchtete sich ebenso wenig vor den Toten, als vor den Lebendigen.
Ange fürchtete eine einzige Person: den Vater La Jeunesse; er hatte auch die Vorsicht, einen Umweg zu machen, um an seinem Hause vorüberzugehen. Da alles im Innern erloschen, da Thüren und Läden geschlossen waren, so fing Pitou, um sich zu versichern, ob der Schütze zu Hause und nicht in seinem Bezirk sei, an, das Bellen des Hundes nachzuahmen, so daß Ronflot, der Dachshund des Vaters La Jeunesse, sich in der Herausforderung täuschte, ebenfalls mit voller Kehle Laut gab und unter der Thüre durchschnüffelte.
Von diesem Augenblick an fühlte sich Pitou ruhig. War Ronflot zu Hause, so war Vater La Jeunesse auch zu Hause; Ronflot und der Vater La Jeunesse waren unzertrennlich, und sobald man den einen erblickte, konnte man sicher sein, man würde sogleich auch den andern erscheinen sehen.
Vollkommen beruhigt, wanderte also Pitou nach der Wolfsheide. Die Schlingen hatten ihr Werk verrichtet; zwei Kaninchen waren gefangen und erdrosselt.
Pitou steckte sie in die weite Tasche jenes zu langen Rockes, der nach Verlauf eines Jahres zu kurz geworden sein sollte, und kehrte zu seiner Tante zurück.
Die alte Mademoiselle war zu Bette gegangen, doch die Habgier hatte sie wach erhalten; wie Perette, hatte sie berechnet, was ihr vier Kaninchenbälge wöchentlich eintragen konnten, und diese Rechnung hatte sie so weit geführt, daß sie nicht ein Auge zu schließen imstande war: sie fragte auch mit einem nervösen Zittern den Knaben, was er bringe.
»Ein Paar! Ah! Tante Angélique, es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht mehr habe bringen können; aber es scheint, sie sind boshaft, die Kaninchen des Vaters Jeunesse.«
Die Hoffnungen der Tante Angélique waren mehr als erfüllt. Sie nahm, bebend vor Freude, die zwei unglücklichen Tiere, untersuchte ihren unversehrt gebliebenen Balg und schloß sie in ihre Speisekammer ein, die in ihrem Leben keine Vorräte gesehen hatte, wie die, die sie enthielt, seitdem es Pitou eingefallen war, sie zu verfolgen.
Dann forderte sie mit ziemlich sanftem Tone Pitou auf, sich niederzulegen; das ermüdete Kind that dies auf der Stelle, ohne ein Abendbrot zu verlangen, was ihn vollends aufs beste in der Meinung seiner Tante stellte. Zwei Tage nachher wiederholte Pitou seinen Versuch, und er war diesmal noch glücklicher als das erste Mal. Er fing drei Kaninchen.
Zwei nahmen den Weg nach dem Wirtshause zur goldenen Kugel, das dritte den nach dem Pfarrhause. Die Tante Angélique trug sehr Sorge für den Abbé Fortier, der sie seinerseits den guten Seelen des Kirchspiels empfahl.
So gingen die Dinge drei bis vier Monate. Die Tante Angélique war entzückt, und Pitou fand seine Lage erträglich. Doch ein unerwarteter Umstand, auf den man indessen gefaßt sein mußte, machte der Tante einen Strich durch die Rechnung und unterbrach die Expeditionen des Neffen.
Es war ein Brief von Doktor Gilbert, datiert von New-York, angekommen. Als der philosophische Reisende den Fuß auf den Boden Amerikas setzte, vergaß er seinen kleinen Schützling nicht. Er schrieb an Meister Niguet, um sich zu erkundigen, ob seine Vorschriften befolgt worden seien, und um den Vollzug des Vertrags, wenn man dies nicht gethan, oder seinen Bruch zu fordern, wenn man diese Vorschriften nicht befolgen wollte.
Der Fall war ernster Natur. Die Verantwortlichkeit des Notars stand auf dem Spiel: er fand sich bei der Tante Pitou ein und stellte sie, den Brief des Doktors in der Hand, über den Vollzug des Vertrags zur Rede.
Man konnte nicht zurückweichen; jede Entschuldigung mit schlechter Gesundheit wurde durch das Aussehen von Pitou Lügen gestraft. Pitou war groß und mager; aber die jungen Bäume des Waldes waren auch groß und mager, was sie nicht verhinderte, sich äußerst wohl zu befinden.
Mademoiselle Angélique verlangte acht Tage, um ihren Geist auf die Wahl des Standes vorzubereiten, den sie ihren Neffen wollte ergreifen lassen.
Pitou war ebenso traurig als seine Tante. Das Gewerbe, das er trieb, kam ihm vortrefflich vor, und er wünschte sich kein anderes.
Während dieser acht Tage war weder von der Vogeltränke, noch vom Wildern mehr die Rede. Ueberdies befand man sich im Winter, und im Winter trinken die Vögel überall. Dann war Schnee gefallen, und beim Schnee wagte es Pitou nicht, seine Schlingen zu legen. Der Schnee bewahrt den Eindruck der Sohlen, und Pitou besaß ein paar Füße, das dem Vater La Jeunesse die schönste Aussicht gab, innerhalb vierundzwanzig Stunden zu erfahren, wer der Dieb gewesen, der den seiner Obhut anvertrauten Bezirk entvölkert.
Während dieser acht Tage wuchsen der alten Mademoiselle die Klauen wieder. Pitou hatte seine Tante Angélique von einst wiedergefunden, diejenige, welche ihm so sehr Furcht eingeflößt, und die das Interesse, diese mächtige Bewegkraft ihres ganzen Lebens, einen Augenblick Sammetpfoten hatte machen lassen. Je näher man dem Ziele rückte, desto mürrischer wurde die Laune der alten Mademoiselle, dergestalt, daß am fünften Tag Pitou wünschte, seine Tante möchte sich sogleich für irgend einen Stand entschließen, gleichviel welcher es wäre, wenn nur nicht der eines Schmerzendulders, den er bei der alten Mademoiselle einnahm.