Kitabı oku: «Ingénue», sayfa 39
Man hat keine Idee, wie sehr das Volk von Paris die wiederholten Geschichten liebt.
Sobald Rétif annehmen konnte, sein Bösewicht habe Vorsprung genug, wagte er es auch, seinen Gang fortzusetzen.
Doch dem Helden des Nächtlichen Zuschauers ähnlich, ging er nicht am Ende einer Straße vorüber, ohne sich versichert zu haben, daß ihm Auger nicht folgte.
LXII
Was man durch das Loch eines Bohrers sieht
Unter Weges ließ Rétif in seinem Monologe und in seinen Geberden die Freude und die Hoffnung, die ihm dieser Brief gegeben, überströmen.
Zuweilen hielt er auch an und fragte sich, ob es nicht eine Falle sei, in der ihn der arglistige Schuft fangen wolle.
In der That, eine unbekannte Schrift, kein Zeichen, das ihn beruhigen konnte; die Hand, welche das Billet geschrieben, war Rétif völlig fremd.
Die Hoffnung allein winkte ihm am Horizont.
Dieser Wink gab ihm den Glauben; hätte man zu ihm gesagt: »Deine Tochter ist auf dem jenseitigen Ufer!« wie der Apostel, wäre er auf den Wogendes Meeres gegangen.
Und wenn er es sich überlegte, so war doch das, was dieser Brief enthielt,.so wenig wahrscheinlich!
Nichtsdestoweniger schritt er weiter gegen die Rue Saint-Honoré; nur ging er zwischen dem Schmerze der Täuschung und der Furcht vor einem Hinterhalte.
Als er indessen, sah, daß man ihm nicht folgte, erlangte Rétif ein wenig Sicherheit; er erreichte den Ort, den man ihm bezeichnet.
Er hatte das Haus nicht zu suchen gebraucht: nach der Beschreibung hatte er es erkannt, und er wußte, wo es lag.
Rétif kannte alle Häuser von Paris.
Endlich blieb er vor der Thüre stehen, klopfte an, wurde eingeführt und nannte sich.
Fünf Minuten nachher lag er, erstickend vor Freude, nicht im Stande, an ein solches Glück zu glauben, in den Armen von Ingénue, welche, wie wir gesagt haben, gerettet und der sorgsamen Pflege der geschicktesten Wundärzte von Paris anvertraut worden war.
Der Schmerz ist, wie man versichert, leichter zu verbergen, als die Freude.
Man müßte denn die Seelenstärke von Rétif nach der Unempfindlichkeit beurtheilen, die er vom Faubourg Saint-Honoré nach der Rue des Bernardins zurückkehrend an den Tag legte.
Nichts in seiner Haltung, nichts in seiner Physiognomie verrieth das Geheimniß, das ihm enthüllt worden war.
Die Augen des guten Mannes waren allerdings ein wenig angeschwollen und ein wenig roth; doch er weinte seit acht Tagen so viel aus Schmerz, daß man unmöglich errathen konnte, die Thränen, die er vergossen, seien Freudenthränen gewesen.
Ueberdies war Rétif vor Auger zurück; er ließ sich in seinem Zimmer nieder und wartete. – Unter Weges hatte er einen guten Bohrer gekauft, mit dem er ein Loch in seinen Alcoven machte.
Dieses Loch war so abgemessen worden, daß es gerade in eine Blume der Tapete von Auger ging.
Schief gehöhlt, bestrich das Loch mit dem Gesichte das ganze Zimmer des Elenden.
Durch diese kleine Oeffnung verlor der Blick von Rétif nichts vom Plafond bis zum Fußboden.
Rétif machte die Erfahrung noch an demselben Tage; er hatte sich den Kranken spielend zu Bette gelegt, um nicht die Erstlinge seiner Erfindung zu verlieren.
Er sah Auger mit seinem Lichte hereinkommen. Das Spiel dieser Physiognomie, bei den röthlichen Reflexen des brennenden Dochtes, hatte etwas Erschreckliches, das den guten Mann in seinem Bette erbleichen machte.
In der That, Auger, der nicht vermuthen konnte, er werde bemerkt, kam mit seinem natürlichen Gesichte zurück, das heißt mit der ekelhaften Gleichgültigkeit des wilden Thieres; er war häßlich so.
Sein Gesicht hatte keinen Geist; seine Augen sahen, ohne zu schauen; ein gewisses Zusammenziehen feines Mundes in den Momenten, wo er sich bewachte, hatte einer völligen Trägheit Plah gemacht. Der Stumpfsinn, die Schlaffheit der Lippen, die Wildheit des Blickes machten aus dieser Physiognomie einen abscheulichen Typus.
Das Thier suchte um sich her und sah bald aus, als ob es sich erinnerte.
Der Gegenstand von diesem Gedächtnißaufschwunge war Rétif; das Gesicht erleuchtete sich, die Hände bewegten sich, die Beine trugen den Leib nach der Thüre.
Da erfaßte Rétif die unangenehme Empfindung dieses nahe bevorstehenden Besuches: er wollte sich stellen, als schliefe er.
Die Thüre öffnete sich. Auger schlich sich leise wie ein Wolf herein und trat auf das Bett zu. Rétif hörte, so zu sagen, den Athem dieses Menschen ausströmen.
Er bekam bange, Auger könnte ihn, im Glauben, er sei eingeschlafen, erwürgen.
Es war gewiß eine grausame Minute, die Minute, während welcher Rétif das Licht fühlte und diesen Menschen ohne eine andere Anschauung als die des Geistes sah.
Durch die Augenlider dringt indessen die Helle, die man nicht sehen will.
Auger ging auf den Fußspitzen weg, wie er gekommen war.
Sobald sich Auger in seinem Zimmer befand, näherte sich Rétif wieder seinem Observatorium.
Und da sah er das Gesicht seines Schwiegersohnes sich völlig verändert.
Dieser stellte an die Eingangsthüre einen großen Koffer und einen Tisch, was er sich Beides seit ein paar Tagen verschafft hatte.
Er untersuchte, ob das Schloß wohl verstopft sei, ob kein Blick in sein Zimmer eindringen könne, und er zog hermetisch die Vorhänge seines Fensters zu.
Er gebrauchte sogar die Vorsicht, als Futter für ihre zu durchsichtige Gaze die baumwollene Decke seines Bettes anzuwenden, die er an den Vorhangstangen befestigte.
»Was bedeutet Alles dies?« sagte Rétif zu sich selbst: »mir werden also einer neuen Schändlichkeit dieses Elenden beiwohnen!«
Auger zog ein Messer aus seiner Tasche, und, wir müssen es sagen, diese glänzende Klinge erschreckte sehr den guten Rétif.
Sie war indessen nicht bestimmt, eine fürchterliche Rolle zu spielen.
Sie drückte sich in den Fußboden zwischen zwei Backsteinen ein, die sie trennte.
Auger hob hierauf einen Backstein aus und legte ihn auf die Seite; unruhig und in der Haltung des antiken Schleifers, richtete er sodann den Kopf auf und horchte.
Da er aber nichts hörte und nichts sah, so steckte er zwei Finger in den Boden und fischte zwischen seinen zwei Fingern ein Goldstück.
Dieses feenhafte Ausziehen war für Rétif ein ganz außerordentliches Schauspiel.
»Gut!« sagte er zu sich selbst, »der Schurke hat sein Versteck an diesem Orte.«
Nachdem er das Goldstück in seine Tasche geschoben, ließ Auger den Backstein wieder fallen und drückte ihn zum Niveau der andern nieder, rieb den Boden mit seinem Schuh, nahm seine Decke ab, warf sie wieder auf sein Bett und zog Tisch und Koffer von der Thüre zurück.
Endlich entstopfte er das Schloß, löschte sein Licht aus und legte sich nieder.
Eine halbe Stunde nachher schnarchte er, um Rétif aufzuwecken, hätte Rétif nach Alle dem, was er gesehen, schlafen können.
Morpheus hatte aber, wie Herr Delille sagt, seinen Mohn sehr weit von diesem Alcoven der Rue des Bernardins fortgeschickt.
Der Brief am Morgen, der Besuch im Faubourg und diese nächtliche Erscheinung waren mehr als gemacht, um den wackern Rétif am Schlafen zu verhindern.
Er entwarf seine Pläne und nahm seine Dimensionen mit der Ruhe eines festen Mannes. Hätte ihn Auger wachen sehen, wie er Auger hatte wachen sehen, das wäre für den Schuft ein solcher Schrecken gewesen, daß er sogleich an die Flucht oder an das Verbrechen gedacht haben würde.
Am andern Morgen empfing indessen der Greis sehr liebreich den Besuch seines Schwiegersohnes. Er ließ sich durch seine Fuchsschwänzereien wiegen, trank den Kaffee mit Sahne, den man ihm einschenkte, brennend heiß, und aß sogar mit sehr gutem Appetit, was den vortrefflichen Sohn entzückte.
Auger war hinfort seines Sieges sicher; sobald er sich entfernt hatte, zog Rétif seinen blauen Ueberrock an und ging aus, um Réveillon einen Besuch zu machen.
Es ist in der That Zeit, daß wir auch einen Besuch diesem Opfer der Revolution abstatten, welches der Hof Anfangs hatte machen wollen, und das er später nicht mehr hatte aufhalten können.
Völlig zu Grunde gerichtet, war Réveillon Philosoph geworden.
Er fand Tröstungen selbst bei seinen früheren Feinden.
Sein Unglück machte ihn interessant. Die Republicaner, – wir bitten unsere Leser um Verzeihung, daß wir dieses 1789 noch unbekannte Wort aussprechen, – die Republicaner, sagen wir, geriethen in Bewegung, als sie einen Quasipatrioten vom Hofe getroffen sahen.
Und Santerre hatte seine Gastfreundschaft dem Unglücklichen und seiner Familie angeboten.
Die Gastfreundschaft von Santerre war aber Etwas im Faubourg Saint-Antoine.
Der Bierbrauer lebte im Ueberflusse; stolz auf ein durch die Arbeit erworbenes Vermögen, machte er von diesem einen so edlen Gebrauch, als wäre er einer der verschwenderischsten Aristokraten seiner Zeit gewesen.
Pferde, Hunde, Leute, Alles war stark, fett und herzhaft bei ihm.
Neues Haus, reichlich bestellten Tisch, muntere Gesichter, Luft für die Lunge, das fand man bei Santerre.
Leider fand man hier auch etwas zu viel politische Discussionen, doch sie waren damals in der Mode.
Es war sehr elegant, über Politik und Reform zu sprechen.
Die Herren von Lafavette und Lameth sprachen wohl darüber, die Königin und der Graf von Artois auch.
Jedermann sprach hierüber so viel, daß einige Leute Politik treiben wollten, und als die Sache einmal in Gang gebracht war, so trieb sie Jedermann und sprach nicht mehr davon.
Wir sagen also, Réveillon mit seinen Töchtern habe Gastfreundschaft bei Santerre gefunden.
Der Bierbrauer hatte von Anfang an den größten Eifer gezeigt: er hatte den Schaden untersucht
Um ihn wieder gut zu machen, brauchte man nicht nur Geld, sondern auch Zeit, nicht nur Zeit, sondern auch Muth.
Beutete man ein wenig sein Unglück durch die Politik und die Sympathie der Religionsverwandten aus, so war es möglich, das Vermögen des unglücklichen Tapetenfabricanten wiederherzustellen.
Santerre bot Geld; das war Alles, was erbieten konnte.
Réveillon, der, damit seine Töchter in Sicherheit, unter Obdach wären, gern Zimmer und Tisch bei Santerre angenommen hatte, – es war noch die Zeit des Austausches von Gastfreundschaft, – Réveillon erzürnte sich, sobald man in ihm den Kaufmann erweckte.
Ihm zwanzigtausend Livres anbieten, das war schön, und dennoch fühlte er sich gedemüthigt.
Er sing damit an, daß er es ausschlug.
Sodann erklärte er, zwanzigtausend Livres können ihm von keinem Nutzen sein; er beklagte sich viel über den Verlust seines Portefeuille, das so viel Werthe und besonders die Realisirung seiner Gewinne vom Jahre enthielt.
Doch war nicht Alles dies verbrannt, geraubt, folglich verloren?
Das konnte sich auf eine so ansehnliche Summe belaufen, daß hiergegen zwanzigtausend Livres durchaus nichts bedeuten würden.
Santerre begriff, und selbst verletzt beharrte er nicht bei seinem Anerbieten.
Nichtsdestoweniger war sein Gesicht das, was es sein mußte, das heißt vollkommen sanft und freundlich gegen seinen unglücklichen Gast.
Mitten in dieses häusliche Leben gelangte Rétif, da er genöthigt war, dem Bierbrauer einen Besuch zu machen, um Réveillon zu besuchen.
Rétif hatte übrigens zu Santerre nur vortreffliche Beziehungen gehabt; der Bierbrauer war nicht der Mann, der nicht Alles für sich gewann, was in Paris eine Feder geschickt hielt.
Und Rétif hielt die seinige originell genug, daß die Aufmerksamkeit eines Neuerers dadurch erregt worden war.
Rétif war also einer guten Aufnahme bei Santerre unter einem doppelten Titel versichert.
Als unglücklicher Vater, denn sein Unglück war zu den taubsten Ohren von ganz Paris gedrungen; als verfolgter Patriot, da sich die Verfolgung von Réveillon in zwei Loose theilte, von denen Rétif das schrecklichere getroffen.
Der Papierfabricant hatte sich sehr verändert: der Verlust seines Vermögens hatte ihn bedeutend alt gemacht. Er schaute Rétif an und erblickte in dessen Zügen den Schmerz nicht, der sich in den seinigen offenbarte.
Hieraus konnte er, ohne unlogisch zu sein, schließen, der Verlust von fünfhunderttausend Livres übersteige noch den einer einzigen Tochter.
Santerre, nachdem er eine Zeit lang mit ihnen geplaudert hatte, verließ sie; die Töchter von Réveillon, nachdem sie eine Throne des Herzens dem Andenken ihrer Freundin geschenkt hatten, zogen sich ebenfalls zurück.
Da begann zwischen Rétif und Réveillon das wahre Gespräch,
»Nun,« sagte Rétif, »wie gedenken Sie den Zustand zu ertragen, auf den Sie beschränkt sein werden?«
»Mein Gott,« antwortete der Fabricant, »ich werde wieder anfangen.«
»Aber Ihre Feinde?«
»Ich habe jetzt weniger, als Freunde.«
»Das ist wahr.«
»Und eröffne ich mein Magazin wieder, so werden alle meine Feinde kommen und bei mir kaufen, um zu sehen, welche Miene ich mache.«
»Sie haben Recht.«
»Was meine Freunde betrifft, – da es keiner wagt, mir ein Almosen zu bieten, so werden alle nicht ermangeln, mir das Geld für eine Tapetenrolle oder für einen Kaminschirm zu bringen, so daß ich, habe ich in Paris, wie ich annehme. . .«
»Zweitausend Freunde,« sagte Rétif.
»Ungefähr! . . Dann werde ich hunderttausend Livres am Ende des Jahres haben.«
»Das ist ein Vermögen!« rief Rétif.
»Ah!« erwiederte verächtlich der Fabricant, »es wird ein Anfang sein.«
»Ich weiß wohl, Herr Réveillon, daß Sie über hunderttausend Livres hatten; doch das zweite Vermögen, das man macht, hat nie den Werth des ersten, das man verloren.« ,
»Ach! nein. Es handelt sich also nur darum, die Materialien des zweiten zu finden.«
»Bleibt Ihnen denn nichts mehr?«
»Nichts.«
»Doch der Credit?«
»Oh! hiermit muß man nicht anfangen; benütze ich den Credit, da ich nichts habe, so wird dieser Credit so gering sein, daß ich lieber gar nicht davon sprechen will; reden wir vom Credit für Summen, wo es der Mühe werth ist.«
»Nun,« sagte Rétif, »Herr Santerre bietet Ihnen nichts an?«
»Ich nehme von Niemand etwas an,« antwortete Réveillon mit strengem Tone.
»Und Sie thun wohl daran; erheben Sie sich wieder, so geschieht es wenigstens durch Sie selbst.«
»Sie verstehen mich!« sprach Réveillon, indem er Rétif die Hand drückte.
»Ja,« sagte der Dichter; »doch wie werden Sie aus Ihrem Fonds das ziehen, was Sie vielleicht nicht mehr darin haben?«
Hier versenkte sich die Stirne von Réveillon in den Schmerz; sein Stolz machte dem Kummer eines früher Reichen Platz.
Rétif beobachtete ihn mit einem zugleich guten und forschenden Blicke.
Réveillon verdüsterte sich immer mehr; er seufzte am Ende: er war besiegt.
»Mein Gott! hoffen Sie!« rief Rétif.
»Herr Rétif,« sagte sodann Réveillon alle Argumente des Dichters durchgehend, »um zu hoffen, müßte man vor Allem eine erste Basis der Hoffnung haben.«
»Wie viel würden Sie ungefähr brauchen?« fragte Rétif.
»Oh! viel.«
»Nun?«
»Viel mehr als Sie und ich haben,« erwiederte der Fabricant mit einer Art von verächtlichen Bitterkeit.
Rétif hatte ein leichtes Lächeln, das in diesem Augenblicke sehr bezeichnend gewesen wäre, hätte er begriffen werden können.
Doch er wurde es nicht zum großen Glücke für die folgenden Kapitel.
Da kamen die Töchter des Fabricanten zurück, sodann Santerre, und das Gespräch wurde wieder allgemein. Rétif hatte nichts mehr zu thun; er ließ sich mit Vorbereitung die ganze von Auger erfundene Geschichte erzählen, mischte seine Commentare darein, und verließ das Haus als ein Mann, den man für sehr unglücklich hielt, der aber im Ganzen nur eine kleine Tochter verloren hatte.
»Welche,« fügte Réveillon bei, als der Schriftsteller weggegangen war, »welche vortreffliche Eigenschaften besaß, jedoch keinen Sou Mitgift, was sie sehr unglücklich gemacht hätte, da ihr Mann Auger sein Leben lang vegetirt haben würde.«
Er schloß mit der Versicherung, sie sei unendlich viel glücklicher, daß sie todt, so daß er sie nicht beklage, und daß, wenn der erste Schmerz vorüber, Rétif klar hierin sehen und ihren Verlust auch nicht mehr bedauern werde; während er, Réveillon, zwei große Töchter aus dem Nacken, ein vernichtetes Vermögen und die Gewohnheit des Wohlstandes habe.
Dieser letzte Theil der Beweisführung war nicht der stärkste.
Es preßte ihm zahlreiche Seufzer aus, wenn er den glücklichen Luxus seines Gevatters des Bierbrauers betrachtete.
Und die Demoiselles Réveillon seufzten auch, während sie sich weniger unglücklich mit ihrer Jugend, mit ihrer Schönheit, mit ihrer Unschuld fühlten, als ihr Vater es sagen wollte.
Unglücklich allerdings, doch noch lebend, statt wie die arme Ingénue Rétif lebendig verbrannt worden zu sein.
LXIII
Wo man Auger während seines Mahles stört
Wir müssen nun zu dem vortrefflichen Auger zurückkehren, dem die Academie in unseren Tagen sicherlich den Tugendpreis bewilligt hätte.
Er hatte auch seine Pläne gemacht und sogar theilweise seine Vorbereitungen getroffen.
Wohl gesehen von der Welt, durchaus nicht beunruhigt in Betreff des Diebstahls bei Réveillon und des Todes seiner Frau, beklagt und bewundert vom Faubourg Saint-Antoine und von der Rue des Bernardins, hatte er doch im Sinne, der Undankbare! Frankreich oder wenigstens die Hauptstadt zu verlassen, die ihn als angebetetes Kind behandelte!
Auger schielte nämlich ganz einfach nach einer gewissen Provinz Gascogne, in welcher er, ein wenig Handel treibend, um einem Vermögen Vorwand zu geben, sich mit einer Frau, welche weniger Sylphide als Ingénue, mit einer mit dicken Unschlitt- und Wollehändlern verwandten Frau, welche aber auf keinerlei Art Tochter, Schwester oder Nichte eines Literaten, wiederverheirathen würde.
Denn im Grunde haßte, ohne Zweifel aus Instinct, Auger den armen Rétif.
Und in den von. uns erwähnten Träumen sah er sich, statt in einer elenden, einsamen, verdrießlichen Stube ohne Meubles der Rue des Bernardins zu sein, in einem guten kleinen Hause, das auf die Fluren und die Wälder ging, comfortable, warm und respectabel war.
Hier war er guter Gatte, guter Familienvater, reich! er hatte alle Tugenden!
Dieser Mensch war so gierig nach einem guten Rufe, daß er eine Hälfte der Welt ermordet hätte, um die Achtung der andern zu erlangen.
Die Leute, welche keine Tugend im Herzen haben, sind außerordentlich darauf erpicht, eine solche auf dem Kleide oder auf dem Gesichte zur Schau zu stellen.
Auger hatte in seinem Geiste seine Abreise auf einen sehr nahen Tag festgesetzt: vielleicht beging er eine Unklugheit, daß er sich hiermit in seinem Zimmer beschäftigte; immerhin wollen wir, um den Leser nicht schmachten zu lassen, erzählen, was geschah.
Es war am Montag den 16. Mai, also in der schönsten Zeit des Frühlings.«
Paris ist dann ganz Wohlgeruch; die Levkojen und die Maiblümchen bestreuen die Straßen, die Veilchen und die Narcissen durchbalsamen die Luft.
Kleine Blumenhändlerinnen laufen mit ihren Körben, wie lebendige Weihrauchpfännchen, in der Stadt umher.
An den Fenstern nehmen die Rosenstöcke ihre Blätter an und die Syringen blühen.
Sodann erscheinen da und dort die frühen Kirschen, ihre rothen Köpfe an grünen Stängeln zeigend, mit denen man die kleinen Kinder, die sich gut aufgeführt, belohnt.
Es war also an einem von diesen Tagen.
Die Fenster standen offen und ließen in die dürftigen Stuben einen von den warmen Sonnenstrahlen eindringen, welche der Reichthum des Armen sind, weil sie der Arme allein vollkommen zu genießen weiß.
Auger setzte sich um zwei Uhr wie gewöhnlich, seinem Schwiegervater gegenüber, zu Tische; mehrere Male hatte er zu dem guten Manne Rétif die Augen aufgeschlagen, denn nie seit dem Tode seiner Tochter war der gute Mann Rétif so düster und sorgenvoll gewesen.
Eine sonderbare Befangenheit verrieth sich in seinen Geberden und in seiner Stimme.
Obschon seine Liebenswürdigkeit gegen Auger verdoppelnd, hatte er doch etwas Unruhiges in allen seinen Bewegungen.
Er, der vorzugsweise geschickte Mann, hatte einen Teller fallen lassen.
Sodann hatte er ein Glas zerbrochen.
Worauf ihm Auger lachend gesagt:
»Aber, Schwiegervater, nehmen Sie sich doch in Acht, Sie zerstören unsere Haushaltung . . . Sie wissen, daß zerbrochene Gläser Unglück bringen?«
Und bei diesen Worten hatte ein seltsames Lächeln die spöttische Lippe des Greises umschwebt.
Dann hatte er, ohne Zweifel um seine Befangenheit zu verbergen, zum dritten Male dieselbe Schüssel genommen.
Während Auger plauderte, füllte Rétif sein Glas, legte ihm vor, und suchte sich durch einen seltsamen Wortschwall, oder durch ein ungewöhnliches Geräusch auf dem Tische, oder durch das Zusammenstoßen von Geräthen zu betäuben.
Die Verblendung gewisser mißtrauischen Naturen ist bei gewissen Fällen ein interessanter Gegenstand der Beobachtung.
Auger errieth, fühlte nichts; er sah nur seinen Schwiegervater sehr erhitzt und erhitzte sich mehr als er.
Man nahm den Braten in Angriff, als Auger, den Kopf ein wenig aufrichtend, horchte.
Rétif horchte auch, nur erbleichte er, während er horchte.
»Was haben Sie denn, Schwiegervater?« fragte Auger.
»Nichts!« erwiederte der Schriftsteller; und er schenkte seinem Schwiegersohne so rasch und mit einer so heftig zitternden Hand zu trinken ein, daß er mehr als ein halbes Glas Wein auf das Tischtuch goß.
»Wahrhaftig!« rief Auger mit einem schallenden Gelächter, »ich erkenne Sie heute gar nicht mehr, Vater Rétif! Haben Sie etwa einen neuen Roman im Gehirne?«
»Ei! mein Schwiegersohn, ganz richtig!«
»Ah! . . . Nun, so erzählen Sie mir das ein wenig.«
»Gern, mein lieber Auger.«
»Ist Liebe darin?«
»Gewiß! . . . Sie lieben die Liebe?«
»Ja, aber tugendhaft . . . Ei! ei! Ihre Bücher sind zuweilen ein wenig frei, mein lieber Herr Rétif.«
»Ah! Sie finden?«
»Ja wohl.«
»Sie lieben also die Tugend?«
»Bei Gott!«
»Nun, ich will Ihnen meinen neuen Roman erzählen.«
»Ich höre.«
»Und er wird Ihnen gefallen, denn das Verbrechen wird darin bestraft und die Tugend belohnt.«
»Gut!« sagte Auger.
Und da er nach und nach gut gegessen und gut getrunken hatte, stützte er sich so bequem als möglich mit den Ellenbogen auf den Tisch, um die Erzählung seines Schwiegervaters anzuhören.
Unglücklicher Weise aber ertönte in demselben Augenblicke ein zugleich schweres und lebhaftes Geräusch vor der Thüre, auf dem Ruheplatze.
»Nun?« sagte Auger.
»Nun?« rief Rétif.
»Was gibt es denn?«
Die Thüre öffnete sich, und vier Soldaten von der Wache traten rasch in das Zimmer ein, indeß zwei Commissäre wie Schlangen zwischen ihnen durchschlüpften und an den beiden Thüren Platz nahmen.
Bleich und entstellt, schaute Auger seinen Schwiegervater an, der am Tische geblieben war.
»Was bedeutet das?« fragte er.
»Welcher von Ihnen heißt Auger?« fragte Einer von den Commissären, – aus reiner Höflichkeit, denn es war ein Mann mit spitziger Nase, überragt von einer Brille, der seine Leute offenbar kannte.
Zum Glück ich nicht!« antwortete Rétif, während er aufstand, um sich unter den Schutz der Schildwachen zu stellen.
»Ich,« sagte Auger mit einer gewissen Festigkeit.
»Also,« sprach der Commissär, indem er auf ihn zuschritt, »also sind Sie schuldig, die Demoiselle Ingénue Rétif, Frau Auger, ermordet zu haben.«
»Ich?« rief der Mörder unwillkürlich zurückweichend.
»Ja, Sie, bei Gott!«
»Oh! wer konnte das sagen?« rief Auger, die Hände zum Himmel erhebend.
»Ei! Ihre Frau selbst.«
»Meine Frau?«
»Oder, wenn sie es nicht gesagt hat, hat sie es wenigstens geschrieben.«
»Meine Frau hat geschrieben?«
»Schauen Sie das an,« sprach der Commissär, dem Elenden einen Brief reichend.
»Die Handschrift von Ingénue!« rief dieser bestürzt; »was heißt das?«
»Mein Herr,« erwiederte der Polizeicommissär mit einer erschrecklichen Höflichkeit, »ich will Ihnen den Brief vorlesen; doch, da Ihre Kniee zittern, so haben Sie die Güte, sich zu setzen.«
Auger wollte der Lage trotzen und stehend bleiben.
Da las der Commissär mit lauter Stimme folgendes Schriftstück:
»»Ich, Ingénue Rétif de la Bretonne, versichere, daß mein Gatte Auger mich, am Tage des Brandes und der Plünderung des Hauses Réveillon, in dem Theile des Hauses, welchen man die Kasse nennt, mit einem Messerstiche niedergestoßen hat; zum Beweise habe ich die Wunde und den Zeugen gegeben, der mich gerettet . . .««
»Falschheit! Lüge! Verleumdung!« rief Auger. »Wo ist Ingénue? Da sie mich anklagt, so muss man uns confrontiren. Wo ist sie? wo ist sie?«
»Ich fahre fort,« sprach der unbarmherzige Commissär; »hören Sie, mein Herr; Sie werden hernach leugnen, wenn Sie den Muth dazu haben.«
»»Und ich bezeuge überdies, daß mein Gatte mich mordend sich dafür rächen wollte, daß ich ihn auf frischer That des Diebstahls ertappte.
»»Ingénue Rétif de la Bretonne,verheirathete Auger.««
»Oh!« machte Auger erbleichend.
Und er suchte das Auge von Rétif, das er flammend und zugleich geschärft traf.
Der Elende blieb wie niedergedonnert von diesem Blicke.
Bald aber sich wiederbelebend, sagte er:
»Ist das Alles?«
»Nein, das ist nicht Alles,« antwortete der Commissär; »schauen Sie, was unter der Unterschrift Ihrer Frau geschrieben steht:
»»Als wahr bezeugt.
»»Charles Louis von Bourbon, Graf von Artois.««
»Verloren! verloren!« murmelte Auger, der in diesem Augenblicke erst sah, in welchen Abgrund er gefallen war.
Und vier Soldaten führten ihn weg, während Rétif, ganz zitternd vor Aufregung, sich an der Lehne eines Stuhles hielt, um nicht niederzusinken.
Nach ein paar Secunden ging Auger mit einem entsetzlichen Fluche ab; er warf von der Thürschwelle aus noch einen Blick der Verzweiflung auf den Ort des Fußbodens, wo sein Geld vergraben war.
Diesen Blick verdolmetschte Rétif im Vorübergehen, und er lächelte sich die Hände reibend.
Er hatte, wir müssen es sagen, nicht die Großmut!?, sich nicht ans Fenster zu stellen, um zu sehen, wie der Elende mit den vier Soldaten in einen Fiacre stieg, – zur großen Verwunderung der Nachbarn, welche noch am Tage vorher von der Ergebenheit von Herrn Auger so sehr erbaut gewesen waren.