Kitabı oku: «VirOS 4.1», sayfa 2
Sie strich Augi über die blonden Haare und ihrer eigenen Tochter über deren pechschwarze - zweifelsfrei hatte Lisa die Haarfarbe ihrer Mutter geerbt, auch wenn ihre Schwiegereltern das natürlich anders sahen und seit der Geburt andeuteten, dass Lisa möglicherweise ja gar nicht von Leon abstammte: Wie sollte es sonst sein, dass ihr Enkelkind nicht das typische Schwitterstörffische Blond aufwies?
»Gut!«. Lisa war zufrieden. »Dann bringe ich Augi jetzt ins Bett.«
»Hat sie denn auch schon ihre Zähne geputzt?«, erkundigte Soledad sich.
»Mama! Augi ist doch eine Puppe. Die hat keine Zähne«, erklärte Lisa in einem Tonfall, den nur kleine Kinder zustandebringen und auch nur dann, wenn sie ihren zurückgebliebenen Eltern etwas völlig Sonnenklares erklären müssen.
Soledad sah ihr nach, wie sie über den kurzen Flur tappte und im Nebenzimmer verschwand. Dies war das allabendliche Ritual - bevor Soledad ihre Tochter ins Bett brachte, musste diese erst einmal Augi ins Bett bringen.
Danach kuschelte sie sich noch für die Dauer der Nachrichten zu Soledad in den Sessel, weil Erwachsene das ja so machten, noch fernsehen, wenn die Kinder schon im Bett lagen, und die Tagesschau war die erwachsenste Serie, die Lisa kannte. Wobei sie erwachsen mit langweilig gleichsetzte.
Lisa kam zurück, enterte den Sessel und schaute gebannt auf den Schirm, wo sich gerade das NDR-Logo aufbaute.
»Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es heute im Kindergarten war.«
»Ganz gut«. Lisa nahm den Blick nicht vorm Fernseher und tat so, als ob sie Dinge wie die Krise in Griechenland oder Serbien oder überhaupt irgendwelche Krisen interessierten. »Das ist deutsch«, stellte sie schließlich fest.
»Soll ich umschalten?«
Lisa nickte. »Ich will Mamasprache!«
Soledad musste grinsen. Das war auch so ein Knackpunkt gewesen. Als sie versucht hatte, Lisa zweisprachig zu erziehen, oh, was hatte es da einen Krawall gegeben. Dann würde sie ja zwei Sprachen halb und keine ganz sprechen. Also hatte sie es um des lieben Friedens willen aufgegeben. Witzigerweise begann sich Lisa, als es ihr verboten worden war, erst recht, für Spanisch zu interessieren, und als sie hierher zogen, war es das erste, eine Satellitenschüssel zu installieren. Eigentlich hatte Soledad sich damit nur ein wenig Heimat nach Deutschland holen wollen, dann aber stellte sich heraus, dass Lisa viel lieber das spanische Fernsehen anschaute als das deutsche.
Die Nachrichten waren eh nicht interessant. Weiterbau der A26 gefährdet, na und, da fuhr sie sowieso nie lang, und zehn Touristen hatten den gestrigen Nachmittag im Aufzug der Nikolai-Kirche verbringen müssen, weil aus unerklärlichen Gründen die Steuerung des Lifts ausgefallen war. Die Fachleute rätselten noch, wie das passieren konnte, die Touristen waren entsprechen angepisst - eine Frau im wahrsten Sinne des Wortes, denn es hatte im Fahrstuhl ja keine Toilette gegeben - und das Wetter würde so bleiben wie bisher. Kalt. Nass. Windig. Zeit für ein paar sonnige Gedanken. Also schaltete sie um auf Canal Sur, wo gerade ein alter spanischer Spielfilm lief, der Besetzung nach zu urteilen aus den 50er Jahren.
»Mamasprache kingt viel schöner«, fand Lisa.
Ja, das fand Soledad auch.
»Warum wohnen wir nicht da?«
»Liebes, weil ich dich da nicht mit hinnehmen könnte. Papa will das nicht.«
Lisa verschränkte die Arme vor der Brust: »Papa ist doof.«
»He«, Soledad streichelte Lisa am Kinn und drehte dann ihren Kopf zu sich. »Sowas darfst du nicht sagen. Er will nur das beste für dich.«
»Er will nicht, dass ich rede wie du. Bei ihm muss ich immer deutsch reden. El idiota.«
»Lisa, wirklich. Papa ist eben ... naja ...«, sie suchte nach dem richtigen Wort und fand aber keines. »Er ist eben anders ... aber er hat dich sehr lieb. Und er ist kein Idiot.«
»En Español, por favor.«
Das machte Lisa immer. Gerade wenn es um ihren Vater ging, wollte sie plötzlich nur noch spanisch sprechen. Vermutlich gerade weil er derjenige war, der es ihr verboten hatte.
»Tu padre no es un idiota. El es ... el es ...«, Soledad schüttelte den Kopf. Selbst in ihrer Muttersprache fiel ihr kein Wort ein, das dazu taugen würde, Leon zu beschreiben. Jedenfalls keines, das sie in Gegenwart seines Kindes aussprechen würde.
»Un imbécil«, schlug Lisa vor.
»No, no digas esto.«
»Un estúpido?«
»Lisa Mercedes!« Die Nennung ihres Zweitnamens sollte Lisa klarmachen, dass es ernst wurde - das kleine Mädchen befürchtete jedes Mal, es könne sich herumsprechen, dass sie wie eine Automarke hieß. Etwas, woran Soledad bei der Namensfindung überhaupt nicht gedacht hatte, weil ihr der Name aus ihrer Heimat völlig geläufig gewesen war. Und Leon hatte den Namen vermutlich genau deshalb »cool« gefunden.
Lisa schaute ihre Mutter aufmerksam an.
»Sag mal, woher kennst du eigentlich diese ganzen Worte?«, fragte Soledad.
»Von Joaquin.«
»Ach, der. Klar.«
Joaquin ging in Lisas Kindergarten, aber Soledad selber kannte ihn nicht. Sie hörte immer nur von Lisa, dass er sich oftmals einen Spaß daraus machte, auf spanisch zu fluchen, was die deutschen Erzieherinnen nicht verstanden. Und natürlich fand Lisa ihn deswegen ganz besonders cool - oder, wie sie sagen würde, muy chulo.
»Na schön«, beschloss Soledad, das Thema zu beenden. »Zeit für´s Bett.«
Lisa sprang aus dem Sessel und streckte ihre Arme aus: »Bringst du mich?«
»Naturlich«.
»Ü!«
»Natürlich«. Sie hob Lisa hoch, das kleine Mädchen klammerte sich an ihr fest, und trug sie in das Kinderzimmer, ein kleiner Verschlag mit Dachlukenfenster, aber mehr konnte sie sich vom Tankstellenlohn nicht leisten. Umso mehr rührte es sie, dass Lisa trotz des gigantischen Zimmers im Hause von Leon, das so groß war, dass man darin hätte Fußball spielen können, lieber bei ihr war.
Sie legte Lisa in ihr Bettchen und deckte sie zu. »Schlaf gut, meine Kleine«, flüsterte sie.
»Buenas Noches!«
Soledad streichelte ihr über den Kopf und gab ihr zwei Küsse auf die Wangen, links und rechts.
»Buenas Noches!«
Dann ging sie zur Tür, drehte sich dort noch einmal um, winkte zurück und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Tür zum Kinderzimmer ließ sie offen.
Auf dem Bildschirm trällerte Rafael gerade eine Uralt-Schnulze, aber Soledad war es egal. Sie ließ sich einfach in den Sessel fallen, zog mit den Füßen den kleinen Hocker heran und legte ihre Beine darauf. Endlich Feierabend. Und zwar für zwei ganze Tage. Die sie aber auch dringend brauchte. Natürlich war es rechtlich nicht in Ordnung acht Tage durchzuarbeiten, aber wer war sie denn, das zu kritisieren? Und schließlich hatte sie ja nun morgen und übermorgen frei. Da könnte sie zusammen mit Lisa etwas unternehmen. Fragte sich nur, was.
Ihr Blick ging aus dem Fenster. Dort draußen herrschte bereits absolute Dunkelheit, lediglich die Regentropfen, die an der Scheibe hinunterliefen, waren zu sehen. Wäre es Sommer, hätten sie in den Wildpark gehen und die Hängebauchschweinchen besuchen können. Rosalinde, hatte Lisa eines von ihnen genannt, und obwohl sie alle gleich aussahen, hatte sich die Kleine nicht davon abbringen lassen zu behaupten, sie würde Rosalinde immer und überall wiedererkennen. Aber jetzt im Winter würden das keinen Spaß machen. Oder eine Fahrt auf der Elbe? Mit den HVV-Fähren? Das wäre bei Regen vielleicht ganz spaßig und auch nicht teuer, weil die Fähren den S- und U-Bahnen gleichgestellt waren.
Etwas besichtigen? Eventuell, solange es nicht die Nikolaikirche war. Soledad hatte herzlich wenig Lust, im Lift in fünfzig Metern Höhe steckenzubleiben. Oder sie blieben einfach zu Hause, kochten Kakao und backten Plätzchen. War ja eh schon Vorweihnachtszeit, und in der tut man so etwas normalerweise in Deutschland. Genauso, wie ruhig und besinnlich werden und feierliche Weihnachtslieder singen wie Stille Nacht, heilige Nacht ... ihr fielen die Augen zu ... oder dieses andere, Leise rieselt der Schnee ... oder dann gab das da noch dieses ... wie hieß das noch gleich?
2. Kapitel - Mittwoch, 6. Dezember
Das Hochgefühl, in dem er sich befand, schwand, als die Wohnungstür geöffnet wurde. Nur mit Pyjama und Bademantel bekleidet, die Gesichtsfarbe ein ungesundes Grau und die Augen rot umrandet, sah Burkhard aus wie ein Zombie in einem SPA. Und überdies benahm er sich auch so, hob matt die Hand - was wohl so etwas Ähnliches wie ein Gruß darstellen sollte - und schlurfte dann mit hängenden Schultern in sein Wohnzimmer zurück. »Komm rein«, murmelte er, ihm den Rücken zugewandt.
Er schloss die Tür hinter sich und befand, dass er sich seine Euphorie nicht von so einem übernächtigten Computerzombie kaputtmachen lassen sollte.
»Hast du es schon gehört?«, rief er also Burkhards Rücken zu. »Bernd hat ganze Arbeit geleistet. Die Schwachmaten haben sechs Stunden gebraucht, ehe sie die Leute da rausgeholt hatten.«
»Hab´s gehört«, keuchte Burkhard und ließ sich auf seine Couch plumpsen. »Ganze Gruppe Touris einen Nachmittag lang im Turm.«
»Genau«. Er setzte sich Burkhard gegenüber. »Und, was noch besser ist, der Rechner setzte genau auf die Minute aus. Genau nach Plan. Du hast da ganze Arbeit geleistet.«
»Hm«, machte Burkhard. Es sah nicht so aus, als ob er auf seine ganze Arbeit stolz wäre. »Paranoimia und Scoopex haben ja auch mitgeholfen. Und Quartex und ...«
»Ja, ja, schon klar, aber«, er sah Burkhard an, »Ehre, wem Ehre gebührt - die Hauptarbeit hast doch du gemacht. Einfach klasse.«
Burkhard holte tief Luft: »Und die Tankstelle?«
Er sah ihn überrascht an. »Warst du noch nicht da?«
»Nein.«
»Also ich bin da gleich heute morgen hin. Außer Betrieb. Ich tat so, als ob ich tanken wollte, da haben sie mir schon zugerufen, dass es gerade keinen Sprit gibt. Technischer Defekt oder so. Du, das funktioniert tatsächlich. Stick rein - Rechner lahm. Jetzt muss Quartex noch den E-Test durchführen, und wenn der auch klappt, dann können wir sicher sein, dass wir da was ganz Großes erschaffen haben. Den absoluten Überhammer. Den Hammer of the Year, ach was, den Hammer of all years! The final hammer of all years!« Seine Stimme schraubte sich in immer neue Begeisterungshöhen, während Burkhards Mundwinkel damit negativ korrelierten - sie sanken immer weiter nach unten Richtung Antipathie.
»He, was ist denn los?«
»Nix«, bekräftigte Burkhard und stemmte sich hoch. »Ich glaub, mir fehlt einfach nur eine Dusche. Warte mal, ich bin gleich wieder da.«
Er nickte. Eine Dusche konnte Burkhard bestimmt nicht schaden. Er sah so aus, als hätte er sich seit seinem Aufenthalt auf der Ackerebene nicht mehr gewaschen.
Burkhard trottete aus dem Zimmer, wenig später verriet das Geräusch fließenden Wassers, dass er sein Ziel erreicht hatte.
»Wann ist Quartex dran?«, rief er aus der Dusche.
»Sonnabend. Wenn er wieder Dienst hat.«
»Okay. Hoffen wir mal, dass es klar geht.«
»Klar geht das klar.«
Er sah sich um. Es erstaunte ihn immer wieder, wie beinahe spießig Burkhards Wohnzimmer eingerichtet war. Ein Sofa, Fernseher, Stehlampe, Telefonschränkchen, Kommode - es sah aus, als ob er die Möbel seiner Großmutter abgeschwatzt hatte. Nichts deutete darauf hin, dass hier einer der genialsten Computerprogrammierer aller Zeiten wohnte. Aber vielleicht sollte das auch so sein. Wer wusste denn schon, was Burkhard in seinem Schlafzimmer hatte! Er hatte nur einmal einen Blick hineinwerfen können und gesehen, dass der Raum bis oben hin mit Rechnern und Monitoren und was noch alles vollgestopft war - und dann hatte Burkhard ihm auch schon die Tür vor der Nase zugeschlagen und gesagt, wenn er Computer sehen wolle, könne er das auch im Vereinsraum tun. Der im Übrigen Burkhards zweites Wohnzimmer war. Egal, wie oft er in der letzten Zeit dort aufgetaucht war und zu welcher Uhrzeit, Burkhard und mindestens einer von den anderen war immer da gewesen und vor einem Bildschirm gehockt. Mit einer zunehmend begeisterten Miene. Und als sie dann die drei USB-Sticks austeilten, sahen sie aus, als hielten sie Generalvisa für Elysium, Nirvana und Walhalla gleichzeitig in den Händen.
Jetzt allerdings kam ihm Burkhard wie jemand vor, der bereits da gewesen und dort nichts von dem Erhofften gefunden hatte, weshalb er deprimiert zurückgekehrt war. Und eigentlich schien er ganz schön lange zu duschen.
»Alles klar?«, rief er in Richtung Bad.
»Ja. Jaja, moment, ich ziehe mich nur eben an.«
»Okay.«
Wenigstens etwas. Ein Burkhard im Bademantel war nun nicht unbedingt eine Augenweide. Man musste schon wirklich erstens eine Frau und zweitens eine sein, die auf den Fetter-Teddybären-Typ stand, um Burkhard ansatzweise attraktiv finden zu können.
Kurz darauf tauchte Burkhard im Türrahmen auf, dieses Mal in Jeans und einem roten Rollkragenpulli, der aber erstaunlich gut zu seinem rotbraunen Vollbart passte.
»Ich hab nachgedacht«, verkündete er, legte den einen USB-Stick, den sie gestern in der Tankstelle benutzt hatten, auf den flachen Couchtisch und setzte sich. Einige Sekunden vergingen, in dem er nur das silberne Ding da auf der eichenholzfarbenen Tischoberfläche betrachtete.
»Und worüber?«
»Wenn Quartex auch Erfolg hat ...«
»Was er haben wird!«
»... dann wissen wir, dass dieses Ding wirklich so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben.«
»Ist das nicht toll?« Er lächelte, in der Hoffnung, Burkhard mit seiner Begeisterung anzustecken. Diese ganze Stimmung gefiel ihm überhaupt nicht. Diese Blümchentapeten gefielen ihm nicht. Dieser hellgrüne Stoffbezug gefiel ihm nicht. Und Burkhard gefiel ihm erst recht nicht, er hatte zwar die Kleidung gewechselt, aber es war noch immer derselbe Mensch, der da drinsteckte. Und dieselbe, seltsame Melancholie, die wiederum in diesem Menschen steckte.
Burkhard sah auf und blickte ihn aus seinen braunen Teddybär-Augen an: »Die Tankstelle ist komplett zu?«
»Allerdings.«
»Hast du eine Ahnung, was das kostet?«
»Wie?« Er beugte sich vor. »Was soll wieviel kosten?«
»Der Verdienstausfall, oder wie man das nennt.«
»Junge - ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ist doch deren Schuld, wenn die mit Windows arbeiten.«
»Und die Menschen im Fahrstuhl? Was meinst du, wieviele noch stecken bleiben werden, wenn wir loslegen?«
»Selber schuld, wer Linux nutzt.«
»Und Quartex - jaja, sag nichts«, wehrte Burkhard ab, »ich weiß schon!«
»Yepp. Haben es nicht besser verdient, vor allem die nicht!«
Burkhard richtete sich auf: »Ich hab letzte Nacht die ganze Zeit wach gelegen.«
Sah man dir an, dachte er.
»Und ich hab einen Entschluss gefasst. Das ist mir zu heiß. Ich steige aus.«
»Was?«, rief er und sprang auf. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich meine das todernst. Das wird zu groß. Hast du mal das alles bis ins letzte Glied durchdacht?«
»Und ob ich das habe«, blaffte er los. »Haben wir alle. Du auch. Du vor allem, Du hast doch gesagt, dass es möglich wäre.«
Burkhard senkte den Kopf: »Ja, möglich. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass es wirklich funktioniert ...«
Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Zorn auf diesen Knödel, der da auf der Couch hockte und ´Armer Tropf´ spielte, wo doch eben dieser arme Tropf mit der ganzen Sache angefangen hatte. Er hatte doch die Idee gehabt, und er hatte die anderen damit angefixt, und nun wollte eben dieser Kerl einfach so den Schwanz einziehen? Nein. Nicht mit ihm!
Er beugte sich über den Tisch, packte Burkhard am Kragen und zog ihn an sich heran, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten: »Jetzt pass mal gut auf«, zischte er. »Quartex wird am Sonnabend den letzten Test machen. Das kannst du nicht verhindern, denn den Stick hat er schon. Und danach werden wir uns alle wieder treffen und feierlich unser Werk vollenden. Verstanden? Oder muss ich wirklich das Wort ´sonst´ aussprechen?«
Burkhard schaute ihn an und schwieg.
Er glaubte schon, gleich ein geflüstertes ´ja´ zu hören oder ein zaghaftes Nicken, mit dem der Fettklops seine Kapitulation eingestehen würde - doch dann wurde ihm klar, dass der Augenblick eine Sekunde zu lange dauerte, dass Burkhards Blick eine Spur zu störrisch war - und dass Burkhard selber kräftiger war, als er das gedacht hatte.
Der Programmierer sprang auf, stieß ihn frontal gegen die Brust - der Schlag war so gewaltig, dass er ins Taumeln geriet und sich an der Kommode festhalten musste.
Fassungslos sah er Burkhard an - der soeben vom weinerlichen Häufchen Elend zu einem entschlossenen Stier mutierte.
»Du hast recht. Quartexs Experiment kann ich nicht verhindern. Aber alles andere schon«.
Zu spät erkannte er, dass Burkhards Blick wieder zu dem USB-Stick ging, der noch immer zwischen ihnen lag. Mit einem Aufschrei langte er zu dem kleinen Stück Plastik hin, doch Burkhard war schneller - ein Handgriff, und er fischte ihm den Stick vor der Nase weg. Triumphierend hielt er ihn hoch: »Den kriegst du nicht.«
»Und ob ich den kriege«, fauchte er und stürzte sich auf seinen Gegner.
*
»Sole!«
Soledad drehte sich um. Es war Melanie, die ihr hinterhergerufen hatte. Aufgeregt winkend kam sie näher.
»Ich wusste gar nicht, dass du heute frei hast. Also komplett frei«, sagte sie und deutete neben Soledad, wo ausnahmsweise kein kleines Mädchen nebenherlief.
»Frau Esterogg passt auf sie auf«, erklärte Soledad und hob ihren Korb hoch. »Ich will nur schnell was einkaufen. Zum Backen.«
»Oh, das ist gut. Ich meine, das ist gut, dann hast du ja einen Moment Zeit. Ich muss dir unbedingt etwas erzählen«, sprudelte es aus Melanie hervor. »Ich hab mich jetzt bei diesem Online-Portal angemeldet. Und das ist voll toll, ich habe schon zweitausendfünfhundert Hits.«
Soledad hatte keine Ahnung, von welchem Portal ihre Freundin da sprach, aber bei Melanie konnte es sich eigentlich nur um so etwas handeln wie grosseliebefinden.de, maennerfuersleben.com oder maerchenpartner.net. Seit sie Melanie kannte, war diese immer auf der Suche nach Mister Perfect gewesen, und eigentlich hatte sie jeden ihrer Freunde auch vor Soledad als solchen bezeichnet, bis sich dann herausstellte, dass der jeweilige Typ dann doch nicht so ganz perfekt gewesen war. Woraufhin Melanie mit schöner Regelmäßigkeit beschloss, künftig einen ganz anderen Personenkreis anzuvisieren. Ihr letzter Freund war ein Portugiese gewesen, der ausgesehen hatte wie Iker Casillas und sogar wie Iker Casillas Torwart war, allerdings beim MTV Flautenwerder-Meersinbrook oder wie der Verein geheißen hatte. Melanie fand Fußball doof und portugiesisch war auch nicht gerade ihre Stärke. Deswegen war sie nun auf der Suche nach einem eher nordischem Typ, der bitte nicht so sportlich sein und mehr Zeit mit ihr als auf dem Spielfeld verbringen sollte. Und den wollte sie nun im Internet finden, denn da würden die inneren Werte entscheiden und nicht der erste, rein optische Eindruck. Na, wenn sie das glaubte.
»Deswegen hab ich geschrieben, Waschbrettbäuche könnten mir gestohlen bleiben.«
»Och. Ich hätte schon mal ... also ...«
»Ach ja?« Melanie legte den Kopf leicht schief. »Und sonst?«
Soledad zog die Schultern hoch. »Groß? Schlank? Athletisch? Sowas.«
»Und vom Typ her mediterran, was?«
»Ach Unsinn. Da hätte ich auch in Spanien bleiben können, da laufen genug davon rum. Nein, eher so was mitteleuropäisches ...«
»Dir ist aber schon klar, dass du gerade nur Äußerlichkeiten nennst, oder?«
»Logo, das soll ja auch nicht für immer sein, sondern nur mal ...«, Soledad brach ab, als sie sah, wie Melanies Grinsen immer breiter wurde.
»Schau an, schau an. Ist da jemand unterzuckert?«
»Ist da wer ... was?«
»Unterzuckert. Lust auf Naschwerk. Vernaschen. Verstehst du?«
»Ich mein ja nur«. Soledad verzog die Mundwinkel.
»Hey«, Melanie stieß sie spielerisch an. »Vor mir musst du dich doch nicht schämen. Ist doch normal, dass man manchmal einfach nur Appetit auf Fast Food hat. Was glaubst du, weshalb ich immer eine Packung Tiefkühlpommes im Kühlschrank habe?«
»Und mit Tiefkühlpommes meinst du ...«
»In dem Fall nur Tiefkühlpommes. Aber eigentlich ist es ja dasselbe. Frauen haben eben auch Bedürfnisse.«
»Nach Tiefkühlpommes.«
»Ich ja, du hast anscheinend gerade andere.«
Soledas beschloss, das Thema zu wechseln, bevor sich Melanies Grinsen noch völlig in ihr Gesicht einbrannte. »Wolltest du nicht eigentlich von dir erzählen?«
»Ach ja.« Dann erzählte sie Soledad ihre Wunschvorstellungen und wollte ihre Meinung dazu hören.
»Er kann also ruhig ein paar Pfunde mehr auf den Rippen haben?«, vergewisserte sich Soledad.
»Klar doch. Ich will nicht schon wieder einen Sportler.«
»Ah ja«. Soledad grinste.
»Was?«
»Nichts, gar nichts.« Sie konnte Melanie ja schlecht darauf hinweisen, dass ihre zierliche Figur nicht so unbedingt zu einem Brocken von einem Kerl passen würde. Zumindest nicht in jeder Lage. Verdammt noch mal, schalt sie sich dann selber, du kannst anscheinend echt nur noch an das eine denken. Reiß dich mal am Riemen. Du hälst hier vor einem Cafe ein Schwätzchen mit deiner Freundin. Sonst nichts.
»Hört sich gut an«, sagte sie also.
Melanie legte den Kopf schief und funkelte sie aus ihren himmelblauen Augen an. »Ich glaub dir nicht. Du wolltest was ganz anderes sagen.«
»Wollte ich nicht.«
»Wolltest du doch, und das finde ich jetzt raus.«
Soledad hob den Korb hoch. »Ich muss dann auch so langsam ...«
»Nö no. Das könnte dir so passen. Ich will jetzt wissen, was du meinst. Und für einen Kaffee hast du sicher noch Zeit.«
Ehe Soledad antworten konnte, hatte Melanie schon auf dem Absatz kehrt gemacht, mit einem Schwung, der ihre langen blonden Haare fliegen ließ, und eilte auf den Verkaufsstand zu. Soledad stellte ihren Korb ab. Wenn Melanie sich was in den Kopf gesetzt hatte, dann passierte das auch, egal, was es war, und jetzt wollte sie mit ihr unbedingt einen Coffee-to-go trinken. Andererseits, bei dem Wetter würde ihr eine kleine Aufwärmung vermutlich gut tun. Und lange dauern konnte es ja auch nicht. Soledad sah auf ihre Armbanduhr. Doch, fünf Minuten würden wohl noch drin sein.
»Also.« Melanie kam zurück, in jeder Hand einen Becher voll heißer und dampfender brauner Brühe, eben das, was man hierzulande unter Kaffee verstand. »Ich glaube, ich weiß genau ...«
Melanie starrte an ihr vorbei, so dass Soledad sich umdehte, um zu sehen, was hinter ihr los war. Empörte Rufe drangen an ihr Ohr, bevor sie bemerkte, dass die Leute nach recht und links sprangen. Erst dann erkannte sie, warum. Ein dicker Mann rannte alles aus dem Weg räumend auf sie zu.
»Hee«-, »Unverschämtheit«- und »Geht´s noch«-Rufe begleiteten ihn. »Schulldigung«, keuchte der Koloss und lief genau auf Melanie zu, die offensichtlich fasziniert die Dampflok anstarrte, die da auf sie zuschnaufte.
Auch Soledad war zu perplex, um irgendetwas zu tun, und dann war es auch zu spät. Er rempelte sie beide einfach aus dem Weg, die beiden Becher flogen davon und verschütteten den Kaffee über die Betonplatten. Melanie stürzte in eine Parklücke, während Soledad gegen die Hauswand geschubst wurde. Sie drehte sich um sich selber und ihre herumschwingende Hand bekam gerade noch die Schulter des Rüpels zu fassen.
»Hey, du Penner«, schrie sie. Der Mann beendete tatsächlich seinen Amoklauf und fuhr herum. Soledad sah in ein erschrockenes panisches Teddybärengesicht.
»Entschuldigung, tut mir leid«, stieß er hervor und sah sie aus großen braunen Kulleraugen an.
»Entschuldigung für´n Arsch«, knurrte Soledad. »Hilf ihr lieber hoch«, fügte sie hinzu und warf dem Teddybären einen Blick zu, der ausgereicht hätte, ein Nashorn zu töten. Sie wankte, selbst noch benommen, hinüber zu Melanie und ging neben ihr in die Hocke. »Alles okay?«
»Ja, ich denke schon.« Ihre Freundin setzte sich auf und betrachtete ihre Hände. »Hatte ich nicht zwei Becher gehalten?«
»Die sind irgendwo da auf die Straße geflogen«.
Soledad deutete auf die Fahrbahn, wo einer der Becher unter dem Reifen eines vorbeifahrenden Lasters gerade sein Ende fand.
»Es tut mir leid, tut mir leid, wirklich, tut mir leid«, plapperte Teddy, als sei er eine Schallplatte, die einen Sprung hatte, und reichte Melanie die Hand. Sie ergriff sie und zog sich daran hoch. Etwas wacklig kam sie wieder auf die Beine und balancierte auf ihren Absätzen. »D ... danke«, stotterte sie.
»Es tut mir wirklich leid«. Der Kerl blickte sich um. »Kann ich das vielleicht wieder gutmachen? Eine Einladung zum Kaffee vielleicht?« Er schaute abwechselnd von Melanie zu Soledad.
»Warum eigentlich nicht?« Melanie sah Soledad an. »Oder, Sole?«
»Von mir aus«, stimmte sie zu. Teddybär strahlte und hielt ihnen die Tür auf.
*
Dass Burkhard in die beiden Frauen hineinrannte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Immer und immer wieder hatten sie allen gepredigt, sie dürften ja keine Aufmerksamkeit erregen - und was machte er hier gerade? Hetzte diesem Kerl hinterher, als sei der ein Ladendieb und er der Kaufhausdetektiv oder sowas. Und was wäre gewesen, wenn er ihn erwischt hätte? Hier, in aller Öffentlichkeit, und jetzt, am hellichten Tage, hätte er ihm den Stick kaum abnehmen können. Er rieb sich sein schmerzendes Handgelenk, wo ihn in der Wohnung der entscheidende Schlag getroffen hatte. Verdammt! Fast wäre es ihm gelungen, diesem Fettklops die passende Lektion zu erteilen - und ihm das Teil abzunehmen, aber dann hatte Burkhard diesen Zufallstreffer gelandet. Einen Moment nur hatte er nicht aufgepasst, und schon war diese Qualle mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit die Treppe hinuntergestürmt und auf und davon.
Und jetzt musste er zusehen, wie dieser Verräter mit den beiden Tussen in dieses Cafe ging, als ob rein gar nichts und der Tag ein wunderschöner Sonntag wäre.
Vor Wut knirschte er mit den Zähnen. Das würde Burkhard büßen. Er konnte ja schließlich nicht ewig in dieser Bude hocken bleiben. Irgendwann würde die Ratte aus ihrem Loch kommen müssen. Vorsichtig würde sie nach links und rechts äugen, einen Schritt weiter hinaus wagen, noch einmal in alle Richtungen sehen und dann weggehen. In der sicheren Gewissheit, der Verfolger habe aufgegeben.
Aber er würde nicht aufgeben. Er würde hier hinter der Eiche stehen bleiben, er würde das Cafe keinen Moment aus den Augen lassen, und wenn Judas das Lokal verließ, würde er sich an seine Fersen heften. So lange konnte es schließlich nicht dauern. Als ob Burkhard zwei Frauen gleichzeitig an sich fesseln könnte! Lächerlich. Er würde einen Kaffee mit ihnen trinken und dann zwei Stück Torte innerhalb von fünf Minuten verschlingen - das einzige Kunststück übrigens, mit dem der Schweinepriester andere Leute zu beeindrucken vermochte - und schließlich würden sich die drei nach einem nochmaligen »Tut mir wirklich leid« wieder trennen. Die große Schwarzhaarige würde dann vermutlich in den Supermarkt gehen - der Korb deutete darauf hin. Die kleine Blonde würde vielleicht ... egal, und Burkhard würde wohl wieder nach Hause gehen. Er sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde war vergangen, eigentlich eine ganze Menge Zeit für ... da!
Da kamen sie!
Sie verabschiedeten sich.
Die Schwarze nach links, die Blonde nach rechts. Und Burkhard machte sich daran, die Straße zu überqueren. Richtung Park. Der um diese Uhrzeit und vor allem bei diesem Wetter nicht sehr belebt sein würde ...
Burkhard sah sich noch einmal um und ging dann den Sandweg entlang, eigentlich direkt an ihm vorbei, aber natürlich ohne ihn zu bemerken.
Er wartete, bis Burkhard die erste Kurve erreicht und hinter einer Hecke immergrüner Rhododendren verschwunden war.
Er trat hinter dem mächtigen Stamm hervor und ging Burkhard nach. Ganz in Ruhe, denn jetzt hatte er Zeit. Mit dem gemächlichen Tempo würde der Verräter nicht sehr weit kommen. Grimmig lächelnd wog er den alten Eichenknüppel, den er vom Boden aufgelesen hatte, in der Hand. Das Holz war schon ziemlich mürbe, es musste bei dem Sturm von vor drei Tagen abgebrochen sein, aber es war ziemlich dick. Logisch würde es beim ersten Schlag zerbrechen. Aber mehr als einen Schlag würde er auch nicht brauchen ...
*
Es gab Momente, in denen Leon sich durchaus fragte, ob es eine gute Idee gewesen war, nach seiner Scheidung wieder in sein Elternhaus zu ziehen.
Einer dieser Momente war das Frühstück.
Leon saß da, an der einen Stirnseite des etwas zu lang geratenen Esstisches und war tunlichst darauf bedacht, die blitzblankblütenweiße Tischdecke nicht mit Marmelade zu bekleckern oder mit Brötchenkrümeln vollzukrümeln, während seine Mutter ihm gegenber saß, mit abgespreitzem kleinem Finger an einer blumenverzierten Kaffeetasse aus hochedlem Porzellan nippte und ihn fortwährend musterte. Sein Vater, der zwischen ihnen an der Längsseite seinen Platz gefunden hatte, studierte derweil den Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung. Beim Essen lesen, das war etwas, was Carola überhaupt nicht leiden konnte - und es hatte Jahre gebraucht, ehe sein Vater sein Zeitungsprivilieg hatte durchsetzen können. Aber immerhin hatte er es geschafft. Leon fand das auch ganz praktisch und wünschte sich, er könnte auch etwas lesen, aber seine Aufgabe war es, seinen Vater zu ersetzen und Konversation zu machen.
»Was hast du heute vor?« Carolas Stimme waren die hochgezogenen Augenbrauen förmlich anzuhören. Sie zog die Augenbrauen immer hoch, wenn sie etwas wissen wollte, vermutlich dachte sie, es wirke vornehm.
»Ich muss ein paar Pressemitteilungen schreiben. Violent Angel ist so gut wie fertig, und das muss natürlich beworben werden«. Leon griff nach einem Sesambrötchen, hielt dann aber in der Bewegung inne. Er hatte nicht mehr viel Hunger, und das Brötchen würde krümeln wie sonstwas. Carola hasste Krümel. Sesam- und Mohnbrötchen waren für sie bloß zum Dekorieren gut.
Carola stellte ihre Kaffeetasse ab: »Violent Angel«, wiederholte sie, wobei sie das »Angel« aussprach wie »Ehnschel«. Sie hielt einen Augenblick inne. »Und worum geht es da?«