Kitabı oku: «VirOS 4.1», sayfa 3
»Du bist ein gefallener Engel und versuchst, wieder in den Himmel aufgenommen zu werden. Naja, das Übliche eben, freie Welt, viele Quests, etcetera.«
Carola seufzte. »Ich wünschte, du würdest einmal etwas Richtiges machen! Als du angefangen hast, dich für Computer zu interessieren, war das ja noch gut und schön; wir dachten ja, du würdest mal was Richtiges damit machen. Und nun bringst du diese Spiele auf den Markt. Das ist doch nichts.«
»Er verdient damit aber ziemlich gut«, brummte sein Vater, ohne den Blick zu heben.
»Das meine ich doch nicht«, Carola starrte zu ihm hinüber. »Du hast auch dein Leben lang die Brauerei geleitet und warst damit zufrieden und dein Sohn hätte dich eigentlich am Computer entlasten sollen. Mit Anwendungsprogrammen«. Das letzte Wort sprach Carola immer so aus, als ob sie es auswendig gelernt hatte, ohne zu wissen, was es eigentlich bedeutete.
»Na und, jetzt macht der Junge eben Computerspiele.« Sein Vater blätterte um. »Das ist doch nicht schlecht.«
»Bier werden die Leute immer trinken«, befand Carola spitz.
»Na ist doch gut. Dann spielen sie Leons Computerspiele und trinken dazu das Bier seines Vaters. Schöner Synergieeffekt.« Sein Vater sah kurz auf, zwinkerte Leon zu und vertiefte sich wieder in sein Blatt.
Leon lächelte in sich hinein. Ach, was war das für ein Drama gewesen, als er verkündet hatte, er wolle lieber Informatik studieren statt BWL. Was man denn damit anfangen solle, und was er sich denn dabei dächte, und wieso er denn nicht einfach das tun könne, was man ihm auftrüge? Dabei war Carola nur deshalb dagegen gewesen, weil sie selber keine Ahnung von Informatik hatte. Von BWL eigentlich auch nicht, aber da bildetete sie sich immerhin ein, sich auszukennen. Richtig schlimm wurde es, als Leon dann einfach mal so ein kleines Spiel programmiert hatte. Eines von diesen Casual Games, das zu seiner eigenen Überraschung ein echter Hit wurde. Von da bis hin zur Gründung der LS-Games UG - haftungsbeschränkt, und zwar deshalb, weil Carola ihm die fünfundzwanzigtausend Euro zur Gründung einer GmbH nicht vorstrecken wollte - war es dann nur noch ein kleiner Schritt gewesen, und seitdem war er auf Kurs. Ein paar Spiele und eine gescheiterte Ehe später hatte er nun fünfzehn Mitarbeiter unter sich, war sein eigener Boss und sein Unternehmen auf dem besten Wege dazu, sich als Unterhaltungssoftwarehersteller zu etablieren. Tja, aber was war das schon gegen den Titel »Brauereibesitzer«? Und leider hatte er ja auch nicht immer alles richtig gemacht, wie Carola nicht müde wurde zu betonen.
»Jetzt seid ihr wieder lustig«, meinte sie. »Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es gar nicht so lustig war.«
Leon seufzte. »Fang doch bitte nicht wieder damit an.«
»Ich sage ja nur«, Carola nahm die Kaffeetasse wieder zu Hand, »um ein Haar hätte die kleine, und ich scheue mich nicht, das Wort auszusprechen, die kleine Schlampe sich vollends ins gemachte Nest gesetzt.«
»So klein ist sie gar nicht«, brummte Peter.
»Wie bitte?«
»So klein ist sie gar nicht. Sie ist fast genauso groß wie unser Sohn.«
»Das spielt doch nun überhaupt keine Rolle. Du weißt genau, wie ich das meine«, zischte Carola. Dann sah sie wieder zu Leon. »Sei nur froh, dass ...«
»Bin ich, bin ich«, unterbrach Leon sie, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Tasse und sah demonstrativ auf seine Rolex. »Oha«, entfuhr es ihm. Er tupfte sich den Mund mit der Stoffserviette ab. »Es tut mir leid, aber ich muss dann auch mal los.«
»Du darfst dich erheben«, sagte Carola, ungeachtet der Tatsache, dass Leon bereits aufgestanden war. Er nickte kurz, wünschte einen schönen Tag und machte sich auf den Weg zu seinem Golf. Den RX-8 hatte ja, wie auch immer es dazu gekommen war, seine Exfrau behalten dürfen. Wieso eigentlich?, überlegte Leon. Wieso darf die Frau, wenn man sich auseinandergelebt hat, den Wagen behalten? Manchmal war das Leben schon ganz schön ungerecht.
*
Ein letzter Blick - nein, sie waren die beiden einzigen Spaziergänger an diesem Vormittag, und die Stelle war wie gemacht für sein Vorhaben. Der Weg führte in einigen Kurven zwischen mehreren jahrzehntealten Koniferen hindurch, und Burkhard schien sich absolut sicher zu sein, ihn abgeschüttelt zu haben. Erst im allerletzten Moment blieb er plötzlich stehen und drehte sich um, aber da war der Schlag eh nicht mehr aufzuhalten gewesen, der schwere Eichenknüppel krachte gegen Burkhards Schädel, und der massige Mann ging wie ein nasser Sack zu Boden.
Er lächelte grimmig und warf den Knüppel weg. Dann packte er seinen nun mehr ehemaligen Kollegen und Verbündeten an den Füßen und zog ihn ins Unterholz. Es war gar nicht so einfach, diesen Fleischberg durch das Gestrüpp zu ziehen, Äste und Zweige schnellten hervor und zerkratzten ihm das Gesicht, aber endlich hatten sie eine kleine, uneinsehbare Lichtung erreicht. Er ließ Burkhard einfach fallen und betrachtete ihn kurz. »Das hättest du eben nicht machen dürfen«, flüsterte er. Dann machte er sich ans Werk. Durchsuchte den Bewusstlosen, fasste in jede Hosentasche, und je mehr Taschen er durchforstete, desto unruhiger wurde er. Fieberhaft zog er Burkhard schließlich die Hose ganz aus, krempelte das Innere nach außen, schüttelte und wedelte das Kleidungsstück hin und her, aber der Fetzen wollte den Stick verdammt nochmal nicht ausspucken. Schließlich knüllte er die Jeans zusammen und warf sie weg. Wo zum Kuckuck hatte der Kerl den USB-Stick hingesteckt? Hatte sein Pulli irgendeine innere Tasche oder was? Er ging hinter Burkhard in die Knie, hob dessen Oberkörper an und versuchte, so gut es ging, dem Regungslosen den Rollkragenpullover auszuziehen. Es war kein leichtes Unterfangen, allein Burkhards Unterarme hatten den Durchmesser von PET-Cola-Flaschen, und der ganze Kerl war vermaledeit schwer. Aber schließlich schaffte er es mit Ach und Krach, den Pulli zu ergattern. Zog ihn in die Länge. Drehte ihn von innen nach außen und wieder zurück. Nichts. Keine Tasche. Kein Geheimversteck. Nichts.
Er atmete tief durch. Der Anblick des regungslosen Burkard in Feinripp-Unterhemd und Unterhose mit Eingriff war nicht sehr appetitlich, und mit seiner blassen Haut auf dem dunkelgrünen Moos wirkte er zudem wie eine Wasserleiche zwischen Seerosenblättern. Unschlüssig stand er da und versuchte, sich den Ablauf des bisherigen Vormittages ins Gedächtnis zu rufen. Den Streit in Burkhards Wohnung. Wie Burkhard den Stick ergriffen hatte und davongelaufen war. Wie er ihm hinterherrannte. Und wie Burkhard dann die beiden Frauen umgerannt hatte ...
Ja. Genau das war es. Das musste es sein. Er ballte die Fäuste und gab dem Körper zu seinen Füßen einen Tritt in die Seite. »Du Arsch« presste er hervor und trat noch einmal zu. »Du verdammter, blöder Arsch«. Er verspürte den Impuls, Burkhard noch einen Tritt zu geben und holte bereits aus - dann hielt er inne. Dieser Idiot hier war keine Gefahr mehr, also brachte es nichts, weitere Energie auf ihn zu verschwenden. Er war nur noch insofern ein Problem, als dass er hier wegmusste. Aber das konnte man lösen. Er zog sein Handy hervor und tippte Paranoimias Nummer.
»Ackerlight hier«, wisperte er. »Schnapp dir Skid Row und komm in den Park. Du weißt schon ... ja, der ist hier. Darum ja. Aber total malade. Ihr müßt ihn abholen ... sofort. Ja, gut.«
Er beendete das Gespräch und nickte leicht. Das wäre erledigt. Um diesen Sack da - und nun trat er doch nocheinmal zu und rammte Burkhard seine Schuhspitze in die Seite - würden sich seine Leute kümmern. Sie hatten ihn eh nie gemocht. Und er selber würde sich nun auf die Jagd nach dem Stick begeben müssen. Immerhin wusste er, wo er mit der Suche anfangen müßte. Er drehte den Kopf in die Richtung, in der dieses Cafe liegen musste. Es war zwar nur ein kleiner Anhaltspunkt, aber wenigstens ein Anfang ...
3. Kapitel - Donnerstag, 7. Dezember
Der Tag fing grau und regnerisch an - und mit einem überraschendem Telefonanruf: Ihr Chef teilte Soledad kurz und knapp mit, dass sie heute nicht zur Arbeit kommen müsse, weil die Tankstelle lahmgelegt sei. Genau das war der Ausdruck, den er tatsächlich benutzt hatte: lahmgelegt. Soledad hatte keine Ahnung, wie man eine Tankstelle lahmlegen sollte, es sei denn, man schaltete die Pumpen ab (und die konnte man auch wieder einschalten), fragte aber nicht weiter nach. Ein arbeitsfreier, aber gleichzeitig bezahlter Tag war wie Urlaub. Und weil Lisa auch etwas davon haben sollte, hatte Soledad vorgeschlagen, doch gemeinsam frühstücken zu gehen. Die Kleine hatte sofort begeistert zugestimmt, und schon der Weg dorthin war ein Riesenspaß, Lisa wurde nicht müde, in jede einzelne Pfütze zu springen. Natürlich spritzte das Wasser weitaus höher, als ihre Gummistiefel reichten, aber Soledad brachte es nicht übers Herz, dem kleinen Mädchen die Freude zu verderben. Sie war ohnehin schon sehr brav, ging ohne wenn und aber in den Kindergarten und beklagte sich auch nie darüber, dass ihre Eltern getrennt lebten. Ja, sie versuchte sogar, Soledad im Haushalt zur Hand zu gehen, trennte bereits selbständig ihre Wäsche und putzte sich auch dann die Zähne, wenn Soledad es nicht kontrollierte. Wenn sie also Freude an Regenpfützen hatte, sollte sie die weiterhin haben.
Hand in Hand gingen die beiden über die Straße, während der Wind graue Wolken über ihre Köpfe hinwegblies, und betraten das kleine Cafe, das schon weihnachtlich geschmückt war. Wieviel Zeit war eigentlich noch bis zum Heiligen Abend?, schoss es Soledad durch den Kopf. Und wie sollte überhaupt entschieden werden, wo Lisa diesen Abend verbringen sollte? Es war schließlich ihr erstes Weihnachten nach der Scheidung. Sollte sie Lisa in den Tempel gehen lassen, wie Soledad das Haus von Leons Eltern insgeheim nannte? Oder alles daran setzen, sie bei sich zu behalten?
Egal - darum würde sie sich später noch kümmern. Jetzt würden sie erst einmal gemeinsam frühstücken.
Lisa rannte voraus zu ihrer kleinen Ecke, wie sie es nannte. Es war ein Zweiertisch, der hinter einer großen Säule verborgen lag und hinter der man sich wunderbar verstecken konnte. Und er war sogar frei. Sowieso war das Cafe um diese Uhrzeit nicht besonders gut besucht. Lediglich zwei Tische weiter saß ein Mann vor einem halb aufgegessenem Schinkenbrot und einer Tasse Kaffee - zumindest vermutete Soledad, dass es sich um einen Mann handelte, denn Frauen hielten sich normalerweise nie eine komplette Zeitung vor das Gesicht. Diese klischeehafte Leseposition, die einen vor aller Welt abschirmte, kannte Soledad von Leons Vater - und ihrem eigenen. Und dessen Brüdern. Und dem Bruder ihrer Mutter. Offenbar war diese Pose ein Privileg, das einem erst zuteil wurde, wenn man die fünfzig überschritten hatte. Und männlich war.
Ihre Tochter kletterte auf den Stuhl und stopfte sich die Serviette in den Ausschnitt ihres Pullis.
»Wie immer, Señorita?«, erkundigte Soledad sich.
»Como siempre, porfi«, krähte Lisa. Soledad hatte auch nichts anderes erwartet, ein kleines, süßes Frühstück, etwas anderes war für Lisa undenkbar, weil es nur bei diesem diese winzigen Marmeladengläschen gab, die zu sammeln sie beschlossen hatte. Inzwischen hatte sie bereits mehrere Apfrikosen-, Himbeer-, Erdbeer- und Pflaumentöpfchen, und vermutlich spekulierte sie darauf, heute endlich das seltene Gefäßchen mit der Apfelmarmelade zu bekommen.
Soledad winkte der Bedienung - mehr war nicht erforderlich, die Kellnerin wusste auch so schon, was die zwei nehmen würden -, als die Tür aufflog und Melanie hereinkam. Mit einem Blick hatte sie Soledad erfasst und das Winken vermutlich auf sie bezogen, jedenfalls stürzte sie auf sie zu und begann zu reden, noch ehe sie Soledad überhaupt erreicht hatte. »Das ist ja fantastisch, dass ich dich hier treffe, weisst du, ich habe darüber nachgedacht, und, also wegen unseres Gespräches gestern, hier, also da, da vor der Tür, und jetzt weiß ich, was wir machen«, sprudelte es aus ihr hervor, »damit wir jemanden für dich finden, und zwar nix Festes, sondern nur so für zwischendurch«, Soledad deutete auf die Säule, aber Melanie war so in Fahrt, dass sie es nicht bemerkte, »und zwar hat keine zwei Straßen weiter von hier eine Bar aufgemacht, der ´Blaue Saphir´, ja, ich weiß, klingt so nach 50er Jahre, aber die sollen ganz tolle Cocktails haben, und«, Soledas verzog das Gesicht und nickte in Richtung Lisa, die sich ganz still und leise hinter der Säule auf ihren Platz versteckt hielt, schließlich fuchtelte sie mit den Händen, aber Melanie ließ sich nicht aus dem Takt bringen: »Und das machen wir gleich heute abend, du sollst nämlich mal was erleben, und ich passe solange auf Lisa auf!«
Verkündete sie, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Soledad an, als sei sie ein Verkäufer in einem Elektrogeschäft, der soeben erklärt hatte, er könne ihr den neuen Superflatscreen in sechundneunzig Zoll mit Internet und Intranet und eingebautem Zimmerthermometer auch zum halben Preis verkaufen, weil bei Saturn gerade die soziale Woche sei.
Soledad fehlten die Worte.
Dafür fand Lisa welche.
Die Kleine sprang vom Stuhl, lief auf Melanie zu und klammerte sich an sie. »Au ja«, rief sie. »Tante Melanie passt auf. Dann bringe ich ihr weiter Spanisch bei.«
Soledad verdrehte die Augen. Weiß der Kuckuck, wer von den beiden auf den Gedanken gekommen war, Melanie Spanischunterricht zu geben - vermutlich war es Melanie selber, als sie noch mit dem Portugiesen zusammen gewesen war und gedacht hatte, Spanisch und Portugiesisch wären so ungefähr dasselbe, eben wie Hamburger Platt und Holsteiner Platt. Es hatte sich dann herausgestellt, dass Hamburger und Holsteiner sich doch besser untereinander verstehen konnten als Spanier und Portugiesen, aber von da an hatten Melanie und Lisa einen ganz besonderen Draht zueinander gefunden. Lisa genoss es vermutlich, einmal als die Ältere rüberzukommen, die etwas erklären konnte, und Melanie hatte die Kleine sowieso schon immer niedlich gefunden.
»Ihr könnt mich doch nicht einfach ausquartieren«, rief Soledad, als Melanie und Lisa sie gemeinsam anstrahlten. »Und vielleicht will ich ja auch Spanisch lernen!«
Ein mitlediges Lächeln - von beiden! - war die Antwort.
»Und außerdem muss ich morgen wieder arbeiten.«
»Es wäre ja nur für eine Stunde oder sowas. Du gehst hin, schaust dir den Laden mal an und kommst wieder zurück. Aber du wärest mal wieder unter Leuten und hättest zumindest die Chance, mal jemanden kennenzulernen.«
»Melanie, ich bin jetzt wirklich nicht so ...«, Soledads Blick blieb an Lisa hängen.
»Jaaa«, meinte ihre Freundin gedehnt. »Weiter, bitte!«
Soledad holte tief Luft. »So bedürftig, wie das gestern vielleicht geklungen hat.«
»Aha!«
»Nix aha! Ich geh doch nicht los und schlepp einfach ... äh«, Soledads Blick ging wieder zu Lisa.
»Ja, weiter bitte«, bat die Kleine und grinste.
»Na, jedenfalls, das mache ich nicht.«
»Sole, davon ist doch auch gar nicht die Rede. Aber ich glaube, es würde dir wirklich mal gut tun. Und wir warten solange auf deine Mama, ja?«, Melanie sah zu Lisa herunter, und die zu ihr hoch. »Jaa, das machen wir.«
»Ich ...«
»Also abgemacht. Heute abend um sieben komm ich vorbei, um die Zeit sind eh nur die Braven unterwegs, kann also gar nichts passieren, und dann schicken wir dich auf den Zwutsch. Keine Widerrede.«
Widerrede wäre sowieso zwecklos gewesen, weil Melanie nach diesen Worten auf dem Absatz kehrt machte und zur Eingangstür hinüberging, von wo aus sie sich noch mal umdrehte und winkte. »Bis heute abend«, rief sie.
»Bis heute abend«, rief Lisa.
»Bis heute abend«, seufzte Soledad.
*
Am Abend hatte es zu nieseln begonnen. Paranoimia schlug den Kragen höher und schob die Hände in die Manteltaschen. Die Warterei war nervtötend, obwohl er sich eigentlich inzwischen daran hätte gewöhnt haben müssen. Es war von vorneherein klar gewesen, dass sie nichts überstürzen durften. Trotzdem, das hier zerrte gewaltig an seinen Nerven, vermutlich deshalb, weil das nun Folgende nicht in seiner Hand lag.
Er schaute hoch zu dem erleuchteten Fenster im dritten Stock. Das Gebäude war ein typischer Nachkriegsbau, modernisiert zwar, aber architektonisch noch immer ein gigantischer Schuhkarton mit einem Satteldach oben drauf. Nach hinten raus gab es vielleicht ein tiefes Fenster oder sogar einen kleinen Balkon, nach vorne jedoch war es eine völlig schmucklose, gerade aufsteigende Fassade, in der die quadratischen Fenster mit schönster Regelmäßigkeit hineingetupft worden waren. Im Erdgeschoss ein Frisör und ein Bäcker, davor eine Durchgangsstraße, fertig war die Unterschichten-Unterkunft.
Er schaute auf die Uhr - es war mehr ein Reflex, denn die Zeit spielte sowieso keine Rolle. Er würde eben hier stehen müssen, auf der anderen Straßenseite, mit dem Schaufenster eines Nagelstudios im Rücken, bis sich dort drüben an der Haustür etwas tat. Und das alles nur wegen dieses Idioten Burkhard, der nun im Hauptquartier auf einer Pritsche lag. Wie hatten sie sich in ihm getäuscht. Erst den großen Zampano machen, nur um dann, als es ernst wurde, den Schwanz einzuziehen und zu kneifen. Es spielte aber keine Rolle. Sie waren mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem sie Burkhard, das Superprogrammiergenie, nicht mehr benötigten. Der Superchecker hatte seine Aufgabe erfüllt, der Superchecker wurde nicht mehr benötigt. Und dieses letzte Hindernis, das der Verräter ihnen in den Weg gelegt hatte, würden sie auch noch beiseite räumen.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Dort drüben tat sich was. Im Schein der Straßenlaterne sah er deutlich eine junge, blonde Frau den Bürgersteig entlangeilen. Ihre hohen Absätze klackten auf den Betonplatten, die Enden ihres Regenmantelgürtels schlackerten hin und her. Er nickte. Das war dieses Blondchen - und er wusste auch, wo es hinwollte. Plangemäß steuerte sie die Haustür an, verharrte kurz vor der Tür, trat einen Schritt zurück, schaute nach oben und stellte sich dann wieder in den Eingang, wo sie vermutlich, er konnte das nicht so genau sehen, nun zum zweiten Mal klingelte. Wunderbar. Bislang lief das alles so ab wie vorgesehen. Jetzt würde er nur noch warten müssen, bis die andere das Haus verließ, und dann würde er ihr folgen und ihr ein Angebot machen, das sie unmöglich würde ablehnen können ...
*
»Ja, ja, ist ja gut, voy, voy«, rief Soledad und öffnete ihrer Freundin die Wohnungstür. Wie ein Wirbelwind fegte Melanie in den kleinen Flur, drehte sich einmal um die eigene Achse und zog sich den Mantel aus. »Was klingelst du denn auf einmal Sturm?«
»Ich muss dir unbedingt was erzählen, unbedingt«, Melanie hängte ihren Mantel an einen Garderobenhaken, »unbedingt.«
»Und das musstest du vor zwei Minuten noch nicht? An der Haustür unten hast du nämlich noch ganz normal geklingelt«, Soledad zeigte zur Sprechanlage.
»Da hatte ich ihn ja noch nicht getroffen.« Melanie hob beide Hände und hielt sie neben den Kopf, als ob sie Soledad das unbedingt zu Erzählende via Gedankenübertragung mitteilen wollte.
»Wen?«
»Den Schnuckel!«
Soledad zog die Augenbrauen zusammen. »Was denn für ein Schnuckel?«
»Ich bin ein Schnuckel«, rief Lisa, die, von der Aufregung angelockt, aus dem Wohnzimmer auf Melanie zugeschossen kam. Melanie ging in die Knie und ließ sich von dem kleinen Mädchen umarmen. »Ja, du bist auch ein Schnuckel«, sagte sie und strich Soledads Tochter über den Kopf. »Aber jetzt musst du noch mal ganz kurz ins Wohnzimmer, Tante Melanie und deine Mama haben was zu besprechen.«
Lisa zog eine Schnute. »Manno!«, rief sie und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf.
»Lisa«, sagte Soledad in leicht drohendem Tonfall.
»Ja, schon gut«, schmollte die Kleine und marschierte zurück in das Zimmer. »Dann erzähle ich Augi eben auch Geheimnisse, und die dürft ihr nicht wissen.«
Melanie sah ihr nach. »Das ist ja irre, wie wohlerzogen sie ist. Darüber wundere ich mich immer wieder.«
Soledad stellte sich neben sie und spähte ebenfalls in das Wohnzimmer, wo Lisa inzwischen die Couch erklommen und Augi vor sich abgesetzt hatte. Mit kindlichen Gesten schien sie der Puppe irgendetwas zu erklären, wobei sie aber immer wieder Blicke in Richtung der Erwachsenen warf.
»Sie kann auch anders«, sagte Soledad.
»Na trotzdem. Wenn ich da an das blöde Balg meiner Schwester denke, das kann NUR anders, das glaub mal.«
Soledad stieß sie leicht an. »Das blöde Balg ist immerhin dein Neffe.«
»Manche Dinge kann man sich eben nicht aussuchen«, sinnierte Melanie.
»Und was war das nun mit dem Schnuckel?«
»Ach ja«, Melanie fuhr herum. »Also, wir sind uns ja einig, dass du, was völlig normal ist, gewisse Bedürfnisse hast, wie jede Frau.«
Soledad verdrehte die Augen und ließ sich auf die grün gepolsterte Bank sinken, der neben dem Telefontischchen im Flur stand. »Fang jetzt nicht wieder damit an!«
»Tu ich doch gar nicht. Ich meine ja, wenn du nichts für zwischendurch willst, dann brauchst du eben was Festes. Und da habe ich wen für dich.« Melanie baute sich vor Soledad auf und verschränkte die Arme. »Jawohl.«
Soledad sah auf. »Und wer soll das sein?«
»Na, der Schnuckel natürlich.«
»Wer ist das denn, verdammt?«
Melanie quetschte sich neben Soledad auf die kleine Bank. »Das will ich dir doch gerade erzählen. Also, wie ich eben in das Haus reinkomme, wen seh ich da? Einen Zuckerschnuckel. Steht da einfach so vor euren Briefkästen, also vor seinem, natürlich, schätz ich, vermute ich mal, und ich sag ›Hallo‹ und er sagt ›Guten Abend‹ und lächelt mich an. Ein total süßes, ein total süßes Lächeln. Braune Augen, groß, schlank, und soooo einen süßen Wuschelschopf. Hach. Ich musste mich echt beherrschen, ihm nicht über den Kopf zu streicheln. Naja, ich wäre ja eh nicht rangekommen. Aber für dich wäre er die perfekte Größe.«
»Ja, das ist ...«
»Und jetzt stell dir mal vor, der muss doch hier im Haus wohnen. So eine sanfte Stimme. Also wenn ich etwas größer wäre und auf so schlanke Typen stehen würde, da würde ich ganze Tage mit ihm im Bett verbringen und ihm nur zuhören, wie er mir lauter Komplimente ins Ohr flüstert.«
»Ja, das ist...«, versuchte Soledad es noch einmal, aber Melanie ließ sie einfach nicht ausreden.
»Da kannst du dich auf mich verlassen, ich hab eine ganz gute Menschenkenntnis. Und seine Hände. So feingliedrige Finger hast du noch nicht gesehen. Die können bestimmt ganz toll streicheln. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo er wohnt, und dann stellen wir dich ihm mal vor. Ich weiß, vor welchem Briefkasten er stand, aber ich konnte ja nicht nachgucken, solange er ebenfalls da war, aber jetzt müßte er ja weg sein. Ich geh schnell runter, und dann wissen wir, wie er heißt ...«
»Roman Falkner«
»Roman Falkner, genau, und dann finden wir raus, wo er wohnt ...«
»Gegenüber.«
»Das passt ja prima, dann gucken wir mal kurz ...« Melanie brach ab und sah Soledad an. »Du kennst den schon«, sagte sie nach einer Pause. Soledad nickte.
»Und wieso läßt du mich das dann alles erzählen?«
Soledad stand auf und seufzte. »Hast du dich mal reden gehört?«
Melanie dachte kurz nach. »Ist ja egal«, sagte sie dann. »Ich hab das im Gefühl, dass der genau der Richtige für dich wäre. Verlass dich auf mich, ich kenne mich bei sowas aus. Wir brauchen nur einen Vorwand, um ihn zu besuchen.«
Soledad nahm ein kleines Päckchen vom Telefontischchen und drückte es Melanie in die Hand. »Hier. Wir nehmen dies hier.«
Ihre Freundin drehte den kleinen Karton hin und her, als sei er ein außerirdisches Artefakt, von dem man nicht so genau wusste, ob es nicht gleich aufplatzen oder sich in glibberigen Schleim verwandeln würde. »Was ist das?«
Soledad zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Kam mit der Post, und ich hab es für ihn angenommen. Wäre sicher nett, es ihm zu bringen.«
»Du«, Melanie sah auf, »hast du dir den Absender angesehen?«
Soledad schüttelte den Kopf. »Wozu?«
»Da, da«, Melanie deutete auf das Päckchen, »das kommt von einem Juan Manchon, Amigastore, Lorca. Das kommt aus Spanien.«
»Ach, echt?« Soledad wusste nicht so recht, was sie dazu sagen sollte.
»Das verbindet doch. Er hat Kontakte nach Spanien. Und du kommst aus Spanien. Da habt ihr schon gleich eine Gemeinsamkeit. Hach, was bin ich gut.« Sie sprang auf und drückte Soledad den kleinen Karton in die Hand. »Auf geht´s. Jetzt besorgen wir dir einen Lover!« Melanie steuerte die Tür an.
Soledad warf einen Blick ins Wohnzimmer. Dort erzählte Lisa immer noch Augi ihre Kindergeheimnisse, und die Puppe, unterstützt von leichten Handbewegungen, nickte dazu, als würde sie aufmerksam zuhören.
»Ich bringe eben Roman sein Paket. Bist du brav?«
Das kleine Mädchen tat so, als habe sie ihre Mutter gar nicht gehört, aber Soledad wusste auch so, dass ihre Worte angekommen waren. Und die Wohnung war ja kindersicher. Den einen Moment konnte sie Lisa problemlos alleine lassen.
*
Romans Wohnungstür unterschied sich durch nichts von den anderen auf Soledads Stockwerk: Die rote, abblätternde Farbe, das zusätzliche Sicherheitsschloss und den Türspion, all das besaßen die anderen fünf Haustüren in dieser Etage ebenfalls. Die abgetretene Fußmatte grüßte in verblasster Schrift mit einem »Willkommen« und war so ziemlich der einzige Unterschied zu Soledads eigener Tür - sie hatte nämlich keine. Sie hatte auch kein Namensschild über dem messingfarbenem Klingelknopf, dessen glitzernde Oberfläche sie jetzt drückte. Gleich darauf erscholl ein tiefer Gong im Innern der Wohnung. Melanie sah sich um. »Das ist mir nie vorher aufgefallen, aber hier sehen ja echt alle Türen gleich aus!«
»Nicht ganz. Hier sind alle rot, aber im dritten sind sie grün und im ersten gelb.«
»Mhm«, machte ihre Freundin.
Die Tür wurde geöffnet, Roman tauchte auf. »Guten Abend, schöne Nachbarin«, begrüßte er sie, was Melanie sofort zu einem leichten Rippenstoß verleitete. Geht doch, sollte das wohl aussagen. »Und auch dir einen Guten Abend«. Melanie wurde ebenfalls mit einem Lächeln bedacht, was sie offenbar so stark beeindruckte, dass Soledad schon fürchtete, sie würde gleich einen Knicks machen.
Doch, eigentlich, schlecht sieht er nicht aus, dachte Soledad. Da wohne ich schon seit einem Jahr gegenüber von diesem Typ, und erst jetzt nehme ich ihn überhaupt mal als Mann war. Naja, sie lächelte in sich hinein, andererseits, auch kein Wunder.
»Hallo Roman«, sagte Soledad und hielt ihm das Päckchen hin. »Ich hab hier was für dich.«
Roman sah auf das Päckchen, dann glomm der Funke der Erkenntnis in seinen Augen auf. »Meine Furia 33«, rief er. »Oh, toll. Dann können wir die gleich ausprobieren. Ha! Da wird mein 600er aber Augen machen. Also, wenn er denn Augen hätte.«
Roman betrachtete fasziniert das Päckchen, Soledad musste innerlich breit grinsen. Sie selber war ja vorgewarnt - ein paar Gespräche führt man ja doch ab und an als Nachbarn, aber Melanie wusste ja von gar nichts. Auch ohne hinzusehen konnte sie sich Melanies Gesichtsausdruck nur zu gut vorstellen - und das Riesenfragezeichen, das gerade über ihrem Kopf schwebte. »Äh«, machte sie nur.
»Wollt ihr kurz reinkommen? Dann zeig ich sie euch!«, Roman trat zur Seite und hielt ihnen die Tür auf. Diese Chance konnte sich Soledad nicht entgehen lassen. Wenn sie jetzt die Wohnung beträten, würde sie eine absolut sprachlose Melanie erleben - und das waren die fünf Minuten allemal wert.
»Ja, gerne«, sagte sie also und betrat den kleinen Flur, der fast genauso eingerichtet war wie ihrer. Melanie kam zögerlichen Schrittes hinterher.
»Da lang?« Soledad deutete auf die offenstehende Tür, die ins Wohnzimmer führte.
»Ja, nur zu, nur zu.« Roman schloss die Wohnungstür und drückte sich an ihnen vorbei ins Zimmer.
Sein Wohnzimmer sah komplett anders aus als ihres. Zwar stand an einer Seite eine breite Couch, dazu ein kleiner Beistelltisch und sogar eine Zimmerpalme, aber die andere Seite wirkte wie ... tja, wie wirkte das eigentlich?
Die ganze Wand wurde von einer Reihe Schultische eingenommen, auf denen zig Monitore standen, davor befand sich eine wahre Armada von Uralt-PCs und Tastaturen, die fröhlich auf den Bildschirmen das anzeigten, was sie gerade taten. Die komplette Reihe bog dann ab, und an der Nachbarwand ging es munter weiter, Flachbildschirme und Röhrenmonitore, Rechner und Computer, alle in diesem typischen 90er-Jahre-Grau. Nur ein Gerät zeichnete sich durch ein komplett schwarzes Gehäuse aus, sah dafür aber auch eher aus wie das Teil einer Stereoanlage. Mäuse, Joysticks und ein Plastikgewehr lagen kreuz und quer auf den Tischen, und das Ganze in einem Halbdunkel, das Soledad an das schummerige Licht einer Cocktailbar erinnerte, die sie ab und an mit ihren Freundinnen besucht hatte, damals in Almería. Aber sie war auf so etwas Ähnliches schon vorbereitet. Wie musste es da Melanie gehen, die mit einer solchen Einrichtung bestimmt nicht gerechnet hatte? Und auch nicht damit, dass Roman Besuch hatte. Denn vor jedem einzelnen Computer saß jemand, insgesamt waren an die zehn Leutchen da, vermutlich alles Freunde von Roman, und zehn Augenpaare schauten die beiden Frauen nun neugierig an.
»So, ich darf euch mal vorstellen, ich mach es mal der Reihe nach, hier rechts sitzt unser Hardware-Spezi Sascha, der mir gleich die Furia einbauen wird ...«
»Werde ich das?«, fragte Sascha grinsend. Roman fuhr einfach fort: »Dann neben ihm Cord und Rollenspiel-Helmut«, Cord und Helmut winkten kurz, »dann hätten wir vor dem 4000er Fabian und David, die sich gerade an Ambermoon herangewagt haben«, die beiden nickten kurz, »der, der da gerade zum schätzungsweise zwanzigsten Mal versucht, Beam durchzuspielen, ist Alex«, Alex seufzte tief, was Soledad vermuten ließ, dass Beam - was auch immer Beam war - auch dieses Mal undurchgespielt bleiben würde, »dann hätten wir da hinten noch Andreas«, Andreas winkte ihnen freudig aus seiner Ecke zu, sodass das Kruzifix, das er als Ohranhänger trug, leicht hin- und herschwang, »und zu guter Letzt unser Mann am 1200er, Vincent. Er wollte uns gerade zeigen, wie man Apidya durchspielt, ich muss sagen, da bin ich echt gespannt drauf. Ja, und diese beiden wunderhübschen jungen Damen sind meine Nachbarin Soledad und ihre Freundin ...«, Roman blickte Melanie fragend an, bis diese ihren Namen nannte.