Kitabı oku: «Jugendgerichtsgesetz», sayfa 33
a) Faktische Schlechterstellung junger Menschen
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Die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation ergibt sich auch daraus, dass entgegen der ursprünglichen Zielrichtung einer Besserstellung junger Menschen im Jahre 1923 sich die Praxis soweit geändert hat, dass heute kritisch gefragt wird, ob unser Jugendstrafrecht zu einer Strafe für die Jugend geworden ist (Pfeiffer DVJJ-J 1991, S. 114). Bei einem empirischen Vergleich der Strafzumessung nach Jugendstrafrecht und allgemeinem Strafrecht ergeben sich Hinweise für eine härtere Bestrafung junger Straftäter (Dünkel 1990, S. 124 ff.; Heinz in: DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 45, Ostendorf Grdl. z. §§ 17, 18 Rn. 4; Walter/Wilms NStZ 2007, 4). Unterschiedliche Täter-, Taten- und Sanktionsstrukturen erschweren allerdings einen direkten Vergleich. Das Problem verringert sich bei einer Gegenüberstellung benachbarter Altersgruppen, z.B. von 20- und 21-Jährigen. So ergibt sich nach einer Untersuchung von Heinz zur Sanktionspraxis in Baden-Württemberg 2006 eine Internierungsrate (unbedingte Jugend- bzw. Freiheitsstrafe) von 8,1 % bei den 20-Jährigen, während sie bei den 21-Jährigen nur 5,3 % beträgt, so dass Jugendstrafrecht keinesfalls als milder bezeichnet werden kann (Heinz 2009, S. 29–80). Im langfristigen Vergleich erkennt Heinz drei Punitivitätswellen (1914–1920; ab 1930 und ab 1955) während entsprechende Entwicklungen ab 1970 und ab 1995 bei weitem nicht so ausgeprägt waren und auch aktuell nicht so eindeutig sind.
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Gefahren für eine Schlechterstellung liegen aber zum Teil in der Einbeziehung der noch nicht verbüßten Jugendstrafe nach § 31 Abs. 2, die dazu verführt, nach dem Motto zu verfahren „einmal schädliche Neigungen – immer schädliche Neigungen“ (Pfeiffer DVJJ-J 1991, 117, der einen Jugendrichter zitiert; ebenso Sonnen KrimPäd 2004, S. 20–24). Zum anderen resultiert diese Schlechterstellung aus einem Hochhangeln auf der Sanktionsleiter (vgl. Gerken/Berlitz 1988, S. 11 ff.). Auf dem Göttinger Jugendgerichtstag 1980 ist sehr klar herausgearbeitet worden, dass die Frage, ob man immer strenger werden müsse, aus pädagogischen, psychologischen und soziologischen Gründen zu verneinen und auch unter rechtlichen Aspekten nicht anders zu beantworten ist (DVJJ (Hrsg.), 1981, S. 354 ff.). Die Schlechterstellung von Jugendlichen und Heranwachsenden ist schließlich auch auf die inhaltlich wenig konkreten Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe zurückzuführen. Vor allem der Begriff der schädlichen Neigungen ist mit einer negativen Zuschreibung und Stigmatisierung verbunden, die faktisch zu einer Rückfallschärfung führt, obwohl der Gesetzgeber, wie die Streichung von § 48 StGB beweist, eine solche gerade vermeiden wollte (Dünkel 1990, S. 128). Ebenso genügt nach Walter und Wilms die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen de lege lata nicht rechtsstaatlichen Anforderungen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit und Begrenzbarkeit (NStZ 2007, 5 f.).
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Aus diesen empirischen Befunden ergibt sich die Forderung, die Voraussetzungen der Verhängung der Jugendstrafe neu zu formulieren und insbesondere den Begriff der schädlichen Neigungen neu zu fassen (Justizministerkonferenz 2014) oder ganz zu streichen (Dünkel NK 1989, 37 und 1990, 624; DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 419, 485 und 663; DVJJ-Kommission, DVJJ-J 1992, S. 4 und Regensburger Jugendgerichtstag, DVJJ-J 1992, S. 290; Dünkel in: DVJJ (Hrsg.) 1996, S. 609; Albrecht 2002; Kurzberg 2009, S. 253). Außerdem sollte durch eine Heraufsetzung der Bestrafungsmündigkeit Jugendstrafe gegenüber 14- und 15-Jährigen vermieden werden (Albrecht/Schüler-Springorum 1983; 2. DVJJ-Kommission, DVJJ-J Extra Nr. 5, 2002; skeptisch gegenüber dem Modell „Bestrafungsmündigkeit“ Streng DVJJ-J 1997, S. 385). Die Bundesregierung hält den Vorschlag für „noch nicht ausreichend diskutiert“ (BT-Drucks. 16/13142, S. 66). Bis der Gesetzgeber tätig wird, bleibt die Möglichkeit einer inneren Reform von der Basis her durch eine restriktive Interpretation der Voraussetzungen von § 17 Abs. 2.
b) Dogmatische Ungereimtheiten
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Die Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe sind nicht nur kriminologisch bedenklich, sondern werfen auch grundlegende dogmatische Fragen auf, die das Verhältnis der schädlichen Neigungen zur Schwere der Schuld betreffen. Die Praxis versucht, beide Voraussetzungen zu harmonisieren, indem sie einerseits die Schwere der Schuld als Indiz für schädliche Neigungen ansieht und andererseits auch bei der Schwere der Schuld den Vorrang des Erziehungsgedankens betont (OLG Hamm ZJJ 2004, 299). Beide Voraussetzungen haben jedoch eigenständige Bedeutung. Eisenberg § 17 Rn. 18c sieht in der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen sachlich eine Maßregel der Besserung und Sicherung (so schon Zipf 1969, S. 145) mit der Verpflichtung, gem. § 246a StPO einen Sachverständigen hinzuzuziehen (Kemme Die strafprozessuale Notwendigkeit zur Hinzuziehung eines Sachverständigen bei Feststellung schädlicher Neigungen gem. § 17 Abs. 2 JGG, StV 2014, 760). Strafcharakter hat dann nur die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld. Diese Differenzierung scheitert jedoch schon am klaren Gesetzeswortlaut von § 17 Abs. 1, der Jugendstrafe unabhängig von den Voraussetzungen als Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung definiert. Dogmatisch überzeugender ist insoweit das Plädoyer von Rössner für eine strikte Trennung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen in Erziehung und Strafe (Zweispurigkeit). Dogmatisches Leitprinzip wäre danach bei Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen der Erziehungs- und bei Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld der Strafaspekt (Rössner in: Wolff-Marek, 1990, S. 21). Diese strikte Zweiteilung lässt sich aber schon nicht mehr bei der Bemessung der Jugendstrafe einhalten, die sich nach § 18 Abs. 2 an der erforderlichen erzieherischen Einwirkung orientiert (Ostendorf Das Jugendstrafrecht als Vorreiter für die Verknüpfung von Zurechnung und Prävention: Für ein einheitliches Maß bei Strafen und Maßregeln, StV 2014, 766), ohne nach den Voraussetzungen der Verhängung der Jugendstrafe zu unterscheiden. Dogmatische Ungereimtheiten im Verhältnis von schädlichen Neigungen zur Schwere der Schuld sind also bereits im Gesetz angelegt und können nur de lege ferenda beseitigt werden. Als Auslegungshilfe bleibt deswegen nur der Hinweis, dass schädliche Neigungen stärker täterorientiert und Schwere der Schuld stärker tatorientiert zu verstehen sind (so auch OLG Hamm NStZ 2005, 58). Maßgeblich ist also eine unterschiedliche Akzentsetzung.
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Durch die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 in § 68a (Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor der ersten Vernehmung) ergibt sich die Chance, die von Swoboda ZJJ 2016, 278 benannten Kritikpunkte der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen wie Sanktionseskalation, Stigmatisierung und methodisch zirkelschlüssiger Begründungen z.B. zur Gefährlichkeitsprognose zu vermeiden oder zumindest abzumildern. So könne der Verteidiger bei möglicher Bejahung schädlicher Neigungen auf eine wissenschaftliche Fundierung der Gefährlichkeitsprognose durch einen Sachverständigen drängen (unter Hinweis auf Kemme/Wetzels 2014, 59).
2. Schädliche Neigungen von besonderem Ausmaß
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Schädliche Neigungen werden vom BGH MDR 1985, 796 (Holtz) wie folgt definiert: „Es muss sich mindestens um, sei es anlagebedingt, sei es durch unzulängliche Erziehung oder ungünstige Umwelteinflüsse bedingte, Mängel der Charakterbildung handeln, die ihn (den angeklagten Jugendlichen oder Heranwachsenden) in seiner Entwicklung zu einem brauchbaren Glied der sozialen Gemeinschaft gefährdet erscheinen und namentlich befürchten lassen, dass er durch weitere Straftaten deren Ordnung stören werde.“ Diese Befürchtung bezieht sich auf die konkrete Erwartung wiederholter schwerer Straftaten. Häufiger findet sich in Entscheidungen die Kurzform, nach der bei einem jungen Menschen schädliche Neigungen vorliegen, wenn „erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel die Gefahr begründen, dass er ohne längere Gesamterziehung durch weitere Straftaten die Gemeinschaftsordnung stören wird“ (BGHSt 11, 170; 12, 261). Diese an Nr. 1 RiRJGG 1943 zu § 6 orientierte Interpretation konnte 1953 nach Uminterpretation des strafzweckbezogenen Kontextes weiter gelten, Swoboda 2016, 278 f: NS-ideologisch wurde aus der Erziehungsstrafe eine Ehrenstrafe mit Ausschlussfunktion, die „auf die Verletzung der völkischen Gemeinschaftspflicht“ „diffamierend“ reagierte. Der Jugendliche mit schädlichen Neigungen hatte seine Ehre verloren, bei ihm würde sich wegen der „eingewurzelten verbrecherischen Gesinnung“ eine Erziehung nicht mehr lohnen und er sei deswegen aus der „Volksgemeinschaft“ auszustoßen, begründet mit Ideen der „Rassen- und Kriminalhygiene“. Mit der Abkehr von nationalsozialistischen Ideen im JGG der Bundesrepublik wurden schädliche Neigungen dann als Verwahrlosungserscheinungen definiert, die sich zum Positiven verändern lassen (statt Ausstoßung aus der Gesellschaft Chance zur Integration).
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Nach der aktuellen Definition des BGH NStZ-RR 2002, 20 müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein (erhebliche Persönlichkeitsmängel, Erforderlichkeit einer längeren Gesamterziehung, negative Prognose als Gefahr erheblicher Straftaten). Dennoch bleibt die von Swoboda festgestellte „Inhaltsleere“ des Begriffs, der durch Fallgruppenbildung bei Rose NStZ 2019, 57 etwas entgegengewirkt werden kann.
a) Persönlichkeitsmängel
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Persönlichkeitsmängel müssen entscheidend zur Begehung der Tat beigetragen haben, im Zeitpunkt der Entscheidung noch vorhanden sein und bereits „vor der Tat im Charakter des jugendlichen oder heranwachsenden Täters, wenn auch verborgen, angelegt sein“ (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 1, 2 und 5; BGH GA 1986, 370; OLG Hamm StraFo 2006, 425). Problematisch ist dabei, dass aus dem breiten Spektrum der Entstehungszusammenhänge von Jugendkriminalität nur der individualbezogene Erklärungsansatz berücksichtigt und zudem noch auf Anlage und Charakterbildung reduziert wird. Um wenigstens ansatzweise Umwelteinflüsse und soziale Mängellagen berücksichtigen zu können, wollte der Arbeitsentwurf zum JGGÄndG v. 30.8.1982 die Formulierung verwenden: „Gefährdung oder Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung von einem Ausmaß (...), dass die weitere Begehung nicht unerheblicher Straftaten zu befürchten ist.“ Dieser kriminologisch immer noch viel zu einseitige Reformansatz war bereits im Referentenentwurf 1983 wieder aufgegeben worden, und dann erneut durch einen aktuellen Gesetzesentwurf des Bundesrates(vgl. BT-Drucks. 15/3422 v. 24.6.2004) eingebracht worden. Hierzu können die oben aufgeführten Argumente nur erneut hervorgehoben werden. Ebenso kritisch Walter und Wilms in NStZ 2007, 6.
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Die für die Annahme von schädlichen Neigungen erforderlichen Persönlichkeitsmängel müssen für alle drei Phasen festgestellt werden, und zwar für die Zeit vor, während und nach der Tat, BGH NStZ-RR 2019, 159. Maßgebend ist eine sog. „psycho-soziale Täterdiagnose“, wobei die eher medizinische Terminologie kriminologisch problematisch ist. Relevante Faktoren sind die Persönlichkeit und die soziale Situation. Der bisherige Lebensweg in Familie, Schule, Ausbildung, Arbeit und Freizeit sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse sind zu berücksichtigen. Auf Ansätze für positive Entwicklungen (z.B. Umzug nach der Tat ohne weitere Auffälligkeiten, BGH StraFo 2003, 207) ist ebenso zu achten wie darauf, dass vieles, was aus der Erwachsenenperspektive als Persönlichkeitsmangel definiert wird, tatsächlich ein normales Phänomen in einer biologischen, psychischen und sozialen Übergangssituation ist. Normverstöße als Grenzüberschreitungen, Auflehnung und Protest zählen dazu. Die Orientierung an der „Clique“ allein genügt nicht, um schädliche Neigungen anzunehmen (BGH Beschl. v. 9.7.1997 – 2 StR 315/97 bei NStZ 1998, 289 [Böhm]); ebenso wenig, wenn der Jugendliche im Berufsleben noch nicht Fuß gefasst hat (BGH Beschl. v. 13.11.2013 – 2 StR 455/13). Andererseits kann der Verzicht auf weitere Drogengeschäfte und die Loslösung von der Bande Zweifel am Fortbestehen schädlicher Neigungen entstehen lassen, BGH StV 1998, 331; ebenso bei aus eigenem Antrieb erfolgtem Rückzug von kriminellen Aktivitäten, BGH Beschl. v. 10.1.2006 – 3 StR 263/05.
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Bei einer so verstandenen Prüfung, ob der junge Straffällige auf Grund vorhandener Sozialisationsdefizite erziehungsbedürftig ist, wird sich nur selten ein Erziehungsbedarf ergeben. Dieses Ergebnis entspricht neueren kriminologischen Erkenntnissen (Rössner 1990, S. 23) und wird auch vom Gesetzgeber berücksichtigt, der ausdrücklich betont, dass Kriminalität im Jugendalter meist kein Indiz für ein erzieherisches Defizit ist (BT-Drucks. 11/5829, 1). Nach dem OLG Hamm hat das erkennende Gericht insoweit darauf abgestellt, dass der Angekl. sich auch durch die Verbüßung wegen Volksverhetzung verhängten Dauerarrestes nicht hat davon abhalten lassen, zeitnah die Straftat nach § 86a StGB zu begehen. Deshalb ist auch auszuschließen, dass gruppendynamische Zwänge als jugendtypisches Phänomen den Angekl. zu der verfassungsfeindlichen Äußerung veranlasst haben könnten. Die Einschätzung des erkennenden Gerichts, dass bei dieser Sachlage und unter Berücksichtigung des von dem Angekl. bei der Begehung der Körperverletzung gezeigten Verhaltens ohne die nachhaltige erzieherische Einwirkung der Jugendstrafe weitere (gleichartige) Straftaten von Gewicht zu erwarten sind, sei deswegen nachvollziehbar (OLG Hamm NStZ 2007, 46). Bei einer Ersttat werden grundsätzlich noch keine schädlichen Neigungen festgestellt werden können (BGH NStZ-RR 2002, 20 – Überwindung der hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten; BGH NStZ 1984, 413; BGH StV 1982, 335, der aber auf die Möglichkeit seltener Ausnahmen hinweist; BGH Beschl. v. 3.3.1993 – 3 StR 618/92 – NStZ 1993, 528 [Böhm]; ebenso OLG Hamm StraFo 2006, 424; nach gem. §§ 45, 47 eingestellten Verfahren ist der Betroffene wie ein Ersttäter zu behandeln, OLG Köln StV 1993, 531). Ausnahmen bedürfen eingehender Feststellung und Begründung (BGH NStZ-RR 1997, 21 – die besonders aktive und brutale Rolle reicht als Begründung; dagegen wird in BGH StV 1998, 331 die Darlegung vermisst, warum es sich bei der Vergewaltigung nicht um eine Gelegenheitstat handelt).
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Aus einer Vorverurteilung zu zwei Freizeitarresten wegen gemeinschaftlichen Diebstahls kann bei einem erneuten Eigentumsdelikt die Frage schädlicher Neigungen nicht mit der „Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Vermögen“ begründet werden, wenn sich im bisherigen Lebensweg und der Lebensperspektive keine weiteren Anhaltspunkte ergeben (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 1). Ein Persönlichkeitsmangel liegt nicht vor, wenn sich ein junger Mensch dem erzieherischen Einfluss seiner Eltern entzieht und sich sehr stark von einem Mitangeklagten beeinflussen lässt (BGH NStZ 1988, 498 f.). Gruppendynamische Zwänge (BGH Beschl. v. 7.2.2006 – 3 StR 263/05) oder falsch verstandene Solidarität zu älteren Mittätern begründen als jugendtypische Phänomene ebenfalls keine schädliche Neigungen.
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Seit BGHSt 11, 170 ist unbestritten, dass allein aus Gelegenheits-, Konflikt- und Notdelikten nicht auf schädliche Neigungen geschlossen werden kann. Das gilt ebenso für Bagatell- und leichte bis mittelschwere Taten (LG Gera DVJJ-J 1998, 280 zum Hang eines 15-Jährigen zum Fahren ohne Fahrerlaubnis: Bloß „gemeinlästig“; OLG Hamm StV 2001, 176: 14 Taxifahrten, ohne zu zahlen, reichen nicht als Begründung für die Annahme schädlicher Neigungen). Nach der Rechtsprechung begründet auch ein erheblicher Tatvorwurf noch keinen Persönlichkeitsmangel (für Vergewaltigung = BGH StV 1998, 331; für schweren Raub = BGH StV 1984, 253; für Beihilfe zur versuchten schweren räuberischen Erpressung = BGH NStZ 1988, 499; für Totschlagsversuch = BGH StV 1985, 155; für den Erwerb der harten Droge Heroin = OLG Zweibrücken StV 1989, 313; für den Handel mit Heroin = AG Bremen-Blumenthal StV 1994, 600, für gefährliche Körperverletzung = BGH NStZ 2010, 280 = ZJJ 2009, 261: Erhebliche Persönlichkeitsmängel müssen schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt und die Ursache der Tat sein. Eine „möglicherweise falsche Reaktion auf eine ausländerfeindliche Demütigung“ steht der Annahme von schädlichen Neigungen ebenso entgegen wie ein besonders großer Einfluss durch einen Mitangeklagten).
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Schon die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung interpretiert also den Begriff des Persönlichkeitsmangels restriktiv – eine Notwendigkeit, die durch das 1. JGGÄndG noch weiter verstärkt wird.
b) Gesamterziehung
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Zweite Voraussetzung der Annahme schädlicher Neigungen ist die Erforderlichkeit einer längeren Gesamterziehung. Dabei ist Gesamterziehung als Erziehung in einer Jugendstrafanstalt bzw. einer für den Vollzug von Jugendstrafe vorgesehenen Einrichtung oder (da auch die Vollstreckung der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zur Bewährung ausgesetzt werden kann) im Rahmen der Bewährungshilfe zu verstehen. Die schädlichen Neigungen müssen ein solches (besonderes) Ausmaß erreicht haben, dass Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht mehr ausreichen (eindrucksvoll AG Bremen-Blumenthal StV 1994, 600: Weisung, sich in eine betreute Wohngemeinschaft zu begeben). Hinter § 17 Abs. 2 und noch deutlicher hinter § 18 Abs. 2 steht die Vorstellung, dass ein stationärer Erziehungsaufenthalt erfolgversprechend sein kann. Die Realität im Vollzug (vgl. z.B. Dünkel/Geng 2007, S. 143 ff.; DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 74 ff. und 356 ff.) beweist jedoch trotz aller Bemühungen des Personals das Gegenteil. Die kriminologischen Negativbefunde sind in der Entscheidung OLG Schleswig NStZ 1985, 475 anschaulich aufbereitet. Die Rückfallbelastung nach einer verbüßten Jugendstrafe bleibt weiterhin extrem hoch. Aktuell werden die nach verbüßter Jugendstrafe Entlassenen zu 77,8 % erneut straffällig und 45 % kehren wieder in den Vollzug zurück (Jehle/Heinz/Sutterer S. 55). Da inzwischen auch der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG von den schädlichen Nebenwirkungen der Jugendstrafe für die jugendliche Entwicklung ausgeht, muss diese zweite Voraussetzung zukünftig ebenfalls noch restriktiver interpretiert werden. Freilich soll nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf weniger einschneidende Maßnahmen ausgewichen werden dürfen, wenn diese erkennbar nicht ausreichen, die schädlichen Neigungen zu verringern (OLG Zweibrücken NStZ-RR 1998, 118 bei einem Heranwachsenden, der drei Tage nach der Entlassung aus der Jugendstrafanstalt einschlägig rückfällig geworden ist. Negativen Wirkungen der Jugendstrafe als „ungeeigneter Reaktion“ kann mit den Möglichkeiten der Bewährung begegnet werden).
c) Negative Prognose
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Als dritte Voraussetzung verlangt die Rechtsprechung die Befürchtung, dass weitere Straftaten begangen werden (BGH NStZ 1988, 498; BGHSt 16, 261). Erforderlich ist also eine negative Kriminalprognose i.S. einer persönlichkeitsspezifischen Rückfallgefahr. Angesichts der Probleme der Prognoseforschung (vgl. Meier Kriminologie, § 7; Boetticher u.a. 2006, S. 537 ff.: Mindestanforderungen für Prognosegutachten, mit krit. Anm. und Ergänzungen Bock StV 2007, 269 ff.) ist diese Gefahr nur schwer einzuschätzen, wobei Vorurteile zu vermeiden sind. Da diese persönlichkeitsspezifische Rückfallgefahr gleichzeitig in Beziehung gesetzt werden muss zu den Möglichkeiten des Jugendvollzugs, hat hier „ein weiteres Stück Entideologisierung des Begriffs der schädlichen Neigungen“ zu erfolgen (Kaiser 1982, S. 106). Ein längerer Zeitraum ohne erneute Straftaten ist sowohl für die Frage der schädlichen Neigungen als auch für die Prognose von Bedeutung, BGH NStZ-RR 2015, 155 u. 323. Außerdem muss eine Rückfallgefahr für erhebliche Straftaten bestehen (OLG Hamm StV 2001, 177 und NStZ-RR 1999, 377; LG Gera DVJJ-J 1998, 282), weil sich durch das 1. JGGÄndG das gesamte Sanktionsspektrum zu den alternativen ambulanten Möglichkeiten hin verschoben hat. Die häufig anzutreffende Formulierung „nicht unerhebliche Straftaten“ entspricht nicht mehr dem neuesten Gesetzesstand. Eine Begründung, der Angeklagte sei in der Vergangenheit immer wieder und „auch erheblich“ in Erscheinung getreten, genügt ohne Darstellung der Vorverurteilungen nicht für die Annahme schädlicher Neigungen, BGH NStZ 2010, 281. Leerformeln wie „hohe kriminelle Energie“ oder „Intensivtäter“ können eine exakte Subsumtion nicht ersetzen. Die Argumentation, dass der Angeklagte in wenigen Monaten über 50 Straftaten begangen habe und deswegen eine Jugendstrafe sowohl wegen schädlicher Neigungen als auch aufgrund der Schwere der Schuld zu verhängen und auch unter dem Aspekt des „gerechten Schuldausgleichs“ lang zu bemessen sei (so LG Berlin Urt. v. 27.9.2007 – 524–27/07), wird dem Erziehungsgedanken nicht gerecht.