Sadece Litres'te okuyun

Kitap dosya olarak indirilemez ancak uygulamamız üzerinden veya online olarak web sitemizden okunabilir.

Kitabı oku: «Die Inseln der Weisheit», sayfa 19

Yazı tipi:

»Dann muß sich in Ihrer Erzählung ein Fehler oder eine Lücke befinden. Die Antipramiten waren doch auf den früheren Wirtsinseln zurückgeblieben und konnten schwerlich das Gelüste verspüren, die ihnen so unsympathischen Fernsiedler zu besuchen.«

– Gewiß nicht. Das Phänomen hat einen ganz anderen Ursprung. Nämlich: ein Teil der Ausgewanderten gefiel sich in Äußerungen und Gesten, die von den Antipramitischen kaum zu unterscheiden waren. Sie trugen sogar die vierblättrige »Zackenblüte« zur Schau, als ein Abzeichen, das vordem auf den anderen Inseln symbolisch aufgekommen war.

»Und wie wollen Sie das erklären?«

– Wiederum rein physikalisch. Die Einzelkörper gehorchen dem Gesetz der Attraktion, sie ziehen einander an, das heißt, aus dem körperhaften ins Persönliche übersetzt: sie werden zur Geselligkeit gedrängt. Bei sehr großer Nähe indes treten genau wie bei den Molekülen und Atomen gewisse Abstoßungskräfte hervor. Die Individuen wollen wieder auseinander, und wenn ihnen die Enge des Raumes dies verbietet, so äußern sie Unwillen. Jeder schiebt seine Unbehaglichkeit auf den andern, mitten in der Geselligkeit erhebt sich ein Antiprinzip, und wir erhalten das Bild einer Herde von intimen Freunden, die einander nicht ausstehen können. So geschah es in dem Neustaate Zyunal. Nachdem die Repulsionen einige Monate gewährt hatten, bestand er aus lauter Pramiten mit antipramitischer Färbung. Und da jeder einzelne hier zugleich als Subjekt wie als Objekt der Gegnerschaft auftrat, so ergab sich die Unmöglichkeit, die Siedelung fortzuführen. Die nächste Generation hätte es einfach gar nicht mehr ausgehalten.

»Mit anderen Worten, die Ausgewanderten wollen wieder zurück auf die alten Inseln?«

– Ja, so stehen die Dinge augenblicklich. Die Verhandlungen sind bereits eingeleitet und werden sicherlich zu gutem Ende führen. Denn zu den Kennzeichen der Pramiten gehört die Konsequenz bis zur Hartnäckigkeit, und wenn sie erst die Losung ausgegeben haben: »Los von Zyunal!« so trotzen sie allen Widerständen. Und schließlich: es gibt auch ein Heimweh nach dem Schmerzlichen – ich selbst weiß davon ein Lied zu singen!

»Pordoio, Sie kommen schon wieder auf Ihre alte Melodie. Die müssen Sie ein für allemal unterdrücken. Sie fahren jetzt mit uns nach Europa …«

– Sagen Sie doch, Herr, werde ich dort die Möglichkeit finden, mich meiner Neigung entsprechend einer nachdenklichen Einsamkeit zu überlassen?

»Wir wollen dafür schon sorgen. Später, wenn der erste Ansturm überwunden ist.«

– Was für ein Ansturm?

»Der auf Sie, natürlich. Ihr Erscheinen wird berechtigtes Aufsehen erregen. Ein lebender Bürger aus fernen, unbekannten, soeben erst entdeckten Welten! Man wird Sie feiern wie nur einen indischen Heiligen, der aus seinen Dschungeln auftaucht, um Europa mit okkulter Philosophie zu beglücken. Das ist doch sehr ehrenvoll, und Sie werden sich den Huldigungen gewiß nicht widersetzen.«

– Eine schauderhafte Aussicht. Ich werde eine linkische Figur spielen …

»Ausgeschlossen. Sie brauchen dort nur zu reden wie hier zu uns, und der Erfolg kann Ihnen nicht entgehen; sei es nun, daß man Sie einlädt, in den Aulen unserer Universitäten Vorträge zu halten, oder daß man zu Ihren Ehren Kongresse veranstaltet. Es wird Ihnen gewiß auch eine Genugtuung gewähren, wenn sich die Interviewer der großen Zeitungen an Sie drängen, um jedes Ihrer Worte millionenfach vervielfältigt in die Welt hinauszudepeschieren. Höchstens die ersten Tage oder Wochen könnten eine leise Unbequemlichkeit bringen …«

– Der Himmel behüte mich! Noch mehr Unbequemlichkeit?

»Kaum der Rede wert. Aber sehen Sie, Pordoio, gänzlich um alle Formalitäten kommen wir nicht herum. Kurz nach der Landung in Europa werden wir Sie anmelden müssen …«

– Anmelden?!

»Lassen Sie uns dafür sorgen. Die Sache liegt zwar insofern etwas verwickelt, als Ihre Heimat bei uns keine diplomatische Vertretung besitzt. Da kommen andere Instanzen in Frage, die wir zu ermitteln haben werden. Vielleicht genügt es, wenn wir Sie bei der Polizei, beim Paßamt und beim Magistrat persönlich vorstellen und dort die anderen Behörden erfragen, die für die weiteren Anmeldungen in Betracht kommen, damit Sie nachher …«

Der Schluß des Satzes blieb mir im Halse stecken. Pordoio rannte geradeaus über Deck; ehe ich ihn einzuholen vermochte, warf er die Oberkleidung ab und sauste mit einem gewaltigen Salto mortale über die Reeling.

Ein Schrei gellte mir durch Mark und Bein. Den hatte er hinausgebrüllt während des Sprunges: »Erebos!«

Nach zehn Sekunden war er außerhalb des Blickbereichs. Aber in dieser kurzen Zeitspanne wurde es meinen starrenden Augen klar, daß der Verwegene mit gewaltigen Schwimmbewegungen hinüberstrebte nach seiner Insel, nach seiner Einsamkeit, von der er niemals hätte abgetrennt werden dürfen.

Allalina und O-Blaha

Die Inseln der Pazifisten

Über die Bedeutsamkeit dieser Inseln waren bereits einige Mitteilungen zu uns gedrungen. Wir hatten Ursache, uns auf gewisse moralische Erlebnisse vorzubereiten, denn man hatte uns gesagt, daß wir in einen Bezirk ethischer Prinzipien geraten würden. Hier, so hieß es, sollte vorwiegend die Sittlichkeit regieren mit all ihren schönen Schwestern, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Edelmut, Charaktergüte. Wenigstens wurde den Bewohnern das Streben zugeschrieben, sich in den Mannigfaltigkeiten des Lebens, wo es nur irgend anginge, recht tugendhaft zu benehmen.

Wir hatten bereits angefangen, uns in einem Gasthof auf Allalina wohnlich einzurichten, sahen uns indes schon am ersten Tage genötigt, unsere Dispositionen zu ändern. Ein peinlicher Zwischenfall verleidete uns den Aufenthalt. Unserm Herrn Mac Lintock war nämlich seine kostbare Taschenuhr abhanden gekommen. Er hatte sie nur auf wenige Minuten unbeaufsichtigt im Zimmer liegen gelassen, und es schien erwiesen, daß niemand anders den Raum betreten haben konnte, als irgendein Individuum des Hauspersonals. Der Verdacht konzentrierte sich auf den Gasthofsdiener, und der Beraubte zögerte nicht, mit hellen Worten der Entrüstung den Wirt in Anspruch zu nehmen. Der sollte das entwendete Gut sofort herbeischaffen, den Frevler dingfest machen und der verdienten Bestrafung zuführen.

Allein der Wirt teilte durchaus nicht die zornige Erregung des Gastes. Vor allem sei es seine hausväterliche Pflicht, die schützende Hand über einen Menschen zu halten, der ihm bereits durch Jahre hindurch gegen bescheidenes Entgelt seine Arbeit widme. Sollte er unter dem verführenden Zwange einer Sekunde gehandelt haben, so wäre es verwerflich, diese eine Sekunde mit einem Makel auf Lebenszeit zu kompensieren. Niemand könne mit Sicherheit behaupten, daß der Mann just in diesem Moment Herr seiner freien Willensbestimmung gewesen sei. Zudem verordne das heilige Buch des Landes, der »Trismagest«, dem Schuldigen zu vergeben, durchweg Verzeihung zu üben und den Nebenmenschen nicht als Objekt der Rache zu behandeln. Er, der Wirt, müsse sich sonach höchlich verwundern, wenn er auf Anschauungen stoße, die der Gerechtigkeit so scharf widersprächen.

»Verschonen sie mich mit Ihren Redensarten!« ereiferte sich unser Gefährte; »ich will mit Ihnen nicht Moral disputieren, sondern meine Uhr wiederhaben! Sie hat zweitausend Dollar gekostet und ist außerdem ein Erbstück schon von meinem Großvater her, das ich als teures Familienandenken nicht missen möchte.«

– In diesem Falle, – entgegnete der Wirt ruhig – wäre erst zu prüfen, ob die Uhr überhaupt noch Ihnen gehört. Nach der Einrichtung des Jubel- oder Halljahres verjährt bei uns das Eigentum in einem Zeitraum von dreißig Jahren. Darin liegt ein Ausfluß göttlicher Gerechtigkeit, die dem starren Erbbesitz eine Grenze setzt zugunsten der Allgemeinheit …

»Das wäre ja noch schöner!« rief Donath dazwischen; »Sie verwandeln die Kostbarkeit des Herrn einfach in herrenloses Gut, und Ihre Gerechtigkeit will dem Räuber womöglich noch ein Recht auf Raub zuschanzen!«

– Tausend Beispiele der Weltgeschichte bestätigen dieses Recht. Hiervon abgesehen lehrt unser heiliges Buch …

In diesem Augenblick betrat der Hausdiener das Zimmer, um in die Verhandlung einzugreifen: Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Wirt. Eine Liebe ist der andern wert. Sie sind für mich eingetreten, das war Ihre Pflicht, und jetzt ist es meine, den ganzen Handel aus der Welt zu schaffen. Dieser Herr ist offenbar fabelhaft reich, und ich bin ein armer Schlucker. Wenn er als Fremder die Tugend nicht kennt, auf Überfluß zu verzichten, so soll er an meiner Bedürftigkeit lernen, daß man sogar das Notwendige hingeben muß, um dem Nebenmenschen einen Verdruß zu ersparen. Hier haben Sie Ihr Zeug wieder!

Damit schmiß er dem Amerikaner die Uhr vor die Füße und entfernte sich mit dem Ausdruck eines Menschen, dem die Pflicht höher steht als der augenblickliche Vorteil.

Wir wollten Weiterungen vermeiden und verließen das Gasthaus, um private Unterkunft zu suchen. Nach einer Stunde waren wir ganz gut untergebracht. Bei einem Bürger namens Branisso, der zufällig über einige freistehende Räume verfügte und sich ein Vergnügen daraus machte, uns zu beherbergen. Man rückte ein wenig zusammen, man schränkte sich ein, und es ging.

Von Beruf war Branisso nach der Landessprache ein »Watongoleh«; wörtlich läßt sich das nicht übersetzen; nach unseren Begriffen ist Watongoleh etwa ein Regierungsrat oder Dezernent in einem Landesamt. Hier handelte es sich um das ausschlaggebende Ressort des Ethischen Ministeriums, und Branisso hatte die Aufgabe, einen Teil der ethischen Angelegenheiten zu sichten und zu analysieren. Zahlreiche Hilfsarbeiter stehen ihm zur Seite. In allen Amtsstuben werden die dem Leben entnommenen Tatsachen bearbeitet, zergliedert, nach Gesichtspunkten der Tugend und des Lasters zerfasert und katalogisiert. Die kommentierten Auszüge aus bergehohen Moralakten werden dem Publikum bekannt gegeben und durch Vorträge erläutert. Die Zeitungen, Theater und Lichtbildnereien stehen im Dienste derselben Sache. Dadurch wird die ethische Kultur dauernd verbreitert, die Beziehungen von Mensch zu Mensch immer mehr verfeinert.

»Gerechtigkeit« ist das Schlagwort der Insel und besonders ihrer Regierung. Die Richter sind fast ausnahmslos unbestechlich und suchen das Recht nach bestem Wissen zu finden, nach dem Prinzip der goldenen Mitte zwischen Milde und Strenge. Der Grundquell der Justiz erfließt aus dem schon erwähnten heiligen Buche »Trismagest«, dem die Strafpraxis möglichst getreu folgt. Das ist freilich nicht so einfach; denn in dieser Heilsschrift stehen die Ermahnungen zur Milde und zum drakonischen Durchgreifen vielfach dicht nebeneinander. Man soll nicht bloß den Nebenmenschen im allgemeinen lieben, sondern auch seine Feinde, so steht es da geschrieben; und auf derselben Seite heißt es: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Jedermann soll nur für seine eigene Tat verantwortlich sein, so lautet ein Grundsatz, mit dem Beisatz, daß die Sünden der Väter heimgesucht werden an den Kindern und Enkeln. Hier steht, der Mensch soll gerecht richten, darunter: er soll überhaupt nicht richten; er soll nach einer geschlagenen Wange die andere hinhalten und dabei an den Spruch denken: Gießet aus die Schale des Zorns; er soll nicht falsch Eid-Zeugnis ablegen, aber richtiges auch nicht, da er überhaupt nicht schwören soll; er soll lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun, und allzeit »einen guten Kampf kämpfen«; er soll seine Selbstsucht über winden, also aufhören, sich zu lieben, und dabei den Andern lieben wie sich selbst, also bis zum Übermaß. Wie findet man zwischen diesen Komponenten, in denen Ja und Nein, Verzeihung und Anathema durcheinanderwirbeln, die mittlere Linie?

Die Regierung von Allalina, beraten vom Ethischen Ministerium, hat versucht eine brauchbare Resultante zu gewinnen. Auf der Insel bestehen verschiedene Gerichtskammern, von denen die einen so mild, die anderen so drakonisch wie irgend möglich aburteilen. Damit beide Heilsprinzipe gleichmäßig gewahrt werden. Soll nun über einen Angeklagten Recht gesprochen werden, so entscheidet das Los, ob er vor eine milde oder vor eine strenge Kammer gestellt wird. Das Los hängt vom Zufall ab, der Zufall ist unparteiisch und entspricht somit allen Anforderungen parteiloser Gerechtigkeit. Für alle Klagefälle – auch in Zivilsachen – sind zwölf Instanzen vorgesehen. Über die zwölfte hinaus steht dem Beklagten wie auch dem Kläger die Berufung an die Allgemeinheit offen; dann bildet das gesamte Volk ein Obertribunal, dessen Plebiszit die Angelegenheit wiederum an die erste Instanz zurückweisen darf. Sonach kann es sich zwar ereignen, daß ein Fall nie zu Ende gelangt, aber das ethische Gewissen findet seine Beruhigung darin, daß bei einem unendlichen Prozeß ein Fehlurteil ausgeschlossen erscheint.

Unser Herbergsvater, der Watongoleh, machte uns mit diesen Gerechtigkeiten bekannt und fügte hinzu, daß seine eigene Familie zurzeit schwer an einem Rechtsfall zu leiden habe. Trotz aller Vortrefflichkeit des Prinzipes habe sich hier ein Unglück zugetragen, aus dem er selbst mit seiner hochgradigen, amtlich gewährleisteten Ethik keinen Ausweg wüßte.

Branissos Tochter Gulpana, eine anmutige Frau in den zwanziger Jahren, erzählte uns den Hergang. Sie lebte mit ihrem Mann, dem Doktor Pordogg, in glücklichster Ehe. Vor drei Jahren wurde dieser wegen schwerer Delikte angeklagt und durch das Los vor eine strenge Strafkammer gestellt. Der Prozeß durchlief alle zwölf Instanzen und endigte beim Volkstribunal, das die erste Entscheidung – Verurteilung zu lebenslänglichem Gefängnis – bestätigte. Seit fünf Monaten schmachtet er im Kerker.

»Was hat er denn begangen?«

– Mein Gatte ist Chemiker und Physiologe. Als auf der Nachbarinsel eine Epidemie ausbrach, erfand er ein neues Serum, dessen Einspritzung nach seiner Überzeugung Wunder bewirkt. Er vollzog die Probe an sich selbst, indem er sich zuerst durch absichtliche Infektion mit Seuchenbazillen schwer krank machte. Als er dann durch seinen Impfstoff »Pordoggan« rasch gesundete, faßte er den Plan, die Bewohner von Allalina vorbeugend mit diesem Serum zu behandeln, um sie ein für allemal zu immunisieren.

Damit stieß er auf den Widerstand des Ministers Palinur, der eben dabei war, ein ganz allgemeines Gesetz gegen jede Impfung überhaupt auszuarbeiten und durchzusetzen. Bei dem großen Einfluß Palinurs war vorauszusehen, daß dieses Verbot demnächst in Kraft treten würde. Pordogg gab sich alle erdenkliche Mühe, durch Bitten und Sachgründe den Impfgegner umzustimmen. Der aber beharrte schroff auf seinem Vorsatz, dessen Verwirklichung den sanitären Plan meines Mannes vollkommen vereitelt hätte.

Bald darauf fand man Palinur im Ministerium als Leiche. Er saß vornübergefallen an seinem Arbeitstisch mit verkohltem Kopf und verbrannten Händen. Alle Aufklärungsversuche mißlangen …

»Erhob sich da etwa ein Verdacht gegen Ihren Gemahl?«

– Allerdings; denn man wußte ja, daß ihm der Minister im Wege war. Allein der Verdacht fiel zu Boden, denn ich konnte beeiden, daß Pordogg an dem fraglichen Tage unsere Wohnung nicht verlassen hatte. So blieb nichts übrig als die Annahme eines gänzlich rätselhaften Unglücksfalls. Aber das Impfverbot kam nun nicht heraus, und mein Gatte konnte sein Verfahren beginnen. Man wußte, wie wunderbar sein Serum bei ihm selbst angeschlagen hatte, und zweifelte nicht daran, daß es auch prophylaktisch seuchenfest machen würde. In den folgenden Tagen vollzog Pordogg die Einspritzungen an mehreren hundert Personen.

»Ist denn die Epidemie von der Nachbarinsel überhaupt herübergekommen?«

– Nein, keineswegs. Sie erlosch auch dort nach nicht allzu langer Zeit. Aber bei uns ereignete sich Entsetzliches. Nach zwei Wochen erkrankten sämtliche von Pordogg geimpften Menschen an grünen Geschwüren, die den ganzen Körper bedeckten und auffraßen. Nie zuvor war ein solches Krankheitsbild beobachtet worden. Und ohne Ausnahme gingen die Ärmsten unter fürchterlichen Schmerzen zugrunde, nachdem sie die Luft straßenweit mit ihrem Jammergeschrei erfüllt hatten.

»Ließ sich ermitteln, wie das zusammenhing?«

– Die Autoritäten haben lange untersucht und folgenden Entscheid gefällt: Das Serum an sich ist eine großartige Erfindung und kann dereinst vorzügliche Dienste tun. Nur fehlen genügende Erfahrungen über die Dosierung; wird die richtige Injektion auch nur um ein Milligramm überschritten, so verwandelt sie sich aus einer Wohltat in eine Todbringerin. Außerdem darf man sie nur bei akuter Erkrankung anwenden, nicht aber prophylaktisch bei Gesunden. Mithin liegen Unbedachtsamkeiten vor und Kunstfehler, welche die Anklage auf fahrlässige Tötung rechtfertigen.

»Und darauf steht in diesem Lande Lebenslänglich?«

– Doch nicht. Allein Pordogg erklärte mitten in der ersten Verhandlung, man solle ihm gleich noch eine Leiche mehr aufrechnen. Er habe den Minister Palinur mit Vorsatz und Überlegung ermordet.

»Unmöglich! Er war doch nicht aus seiner Behausung fortgekommen!«

– Das braucht ein solcher Chemiker auch nicht, wenn er jemand beseitigen will. Er hatte ihn brieflich getötet: durch ein dringliches Schreiben, dessen Umschlag bei der Öffnung explodierte, und zwar mit solcher Gewalt, daß der Empfänger im nämlichen Augenblick das Leben verlieren mußte.

»Das alles ist ja sehr tragisch, und wir haben Ursache, Sie und Ihr Haus tief zu beklagen. Allein, um gerecht zu sein muß man doch sagen: Unrecht ist Ihrem Manne nicht geschehen. Er hat doch gemordet und getötet, und auch die mildeste Strafkammer hätte ihn nicht freisprechen dürfen!«

Wir wollten uns eben darüber auseinandersetzen, als ein anderes Mitglied der Familie aus dem oberen Stockwerk mit dröhnendem Gestampf heruntergetapst kam. Das war Branissos Stiefbruder Firnaz, seines Zeichens Physikus außer Dienst, der erst kürzlich von einer Inkognitoreise durch die Welt zurückgekommen war und jetzt auf der Insel eine ähnliche Rolle spielte wie Demokrit unter den Thraziern. Nur daß er nicht eigentlich als lachender Philosoph auftrat, vielmehr als polternder. Zwischen seiner Ausdrucksweise und seinem Äußern bestand eine gewisse Kongruenz. Eine Aesopische Figur, schiefäugig, rotbrandig, blatterbenarbt und verwachsen; und doch nicht reizlos mit der Faunennase, die über der Robbenschnauze energisch in die Luft stieß.

– Also man hat Ihnen schon vorgejammert, sagte Firnaz, und da wären wir ja mitten im Kapitel von der Gerechtigkeit; wer spricht denn überhaupt auf dieser Insel von etwas anderem? Wir sind allesamt ethisch verlaust, und das Herumkratzen auf der Lausehaut ist unsere Hauptbeschäftigung.

»So sollten Sie sich nicht ausdrücken, Herr Firnaz, aus Anlaß eines so tief traurigen Falles, der ja auch Sie als Familienmitglied betrifft. Nur von den ethischen Motiven darf man sprechen, die uns angesichts dieser Tragödie bedrängen. Denn einerseits müssen wir uns vergegenwärtigen: hier hat Gerechtigkeit gewaltet, andererseits aber können wir Ihrem Verwandten Pordogg eine gewisse Sympathie nicht versagen.«

– Einerseits – Andererseits! Da haben wir schon die Formel, mit der wir Moralkrüppel uns das Phantom der Gerechtigkeit vorschwindeln. Also Pordogg mußte verurteilt werden. Warum? wegen Mordes. Wo steht das? im Strafkodex und im Trismagest. Da steht aber auch, daß nicht die Tat an sich beurteilt werden soll, sondern die Absicht. Hier war die Absicht eine edle: der Mann hatte sein ganzes Genie darangesetzt, um ein Heilmittel für die Menschheit zu bereiten. Nach seiner Überzeugung konnten Tausende gerettet werden, wenn nur ein einziger verschwand, der Palinur. Darum hat er ihn verschwinden lassen.

»Das durfte er eben nicht.«

– Durfte! so sagen wir, weil uns das Strafgesetz in den Knochen sitzt als ein Wurm, der uns jede höhere Regung aus dem Mark herausfrißt. Durfte Brutus den Cäsar ermorden, Tell den Landvogt, Charlotte Corday den Marat? Würden Sie den Tell verhaftet und eingesperrt haben? Schon biegt sich die Gerechtigkeit hin und her, und Sie wissen nicht wohin damit. Vereinfachen wir uns die Sache durch ein anderes Beispiel. Der Hochverrat ist strafbar; aber nur der Versuch, wenn er mißglückt. Glückt er, dann ist er straffrei, weil mit der alten Verfassung zugleich der alte Kodex in die Versenkung fällt. Dann existiert die Gerechtigkeit A nicht mehr, bloß noch die entgegengesetzte Gerechtigkeit B. Und zu hunderten von Malen hat die Menschheit das ganz in der Ordnung gefunden. Sie weiß es nicht, aber ihrem Unterbewußtsein ist es bekannt, daß die ganze Gerechtigkeit nur ein Konvolut von papiernen Paragraphen bedeutet, eine Papierwirtschaft, deren Scheine Zwangskurs besitzen, ohne daß eine Deckung dahinter steht.

»Immerhin, wir müssen uns doch an Normen halten.«

– Wir ersaufen in Normen. Und eine Norm widerspricht der anderen. Die Absicht soll das Entscheidende sein. Also erforschen wir die Absicht mit Virtuosität. Bei uns im Gefängnis von Allalina sitzt ein Mädchen wegen Abtreibung der Leibesfrucht. Sie hatte aber nie eine Leibesfrucht und ist noch heute Jungfer. Ganz egal. Sie redete sich Schwangerschaft ein, versuchte abzutreiben, die schlimme Absicht war erwiesen. Ins Gefängnis! In einer anderen Zelle hockt ein Mensch, der hatte mit einer Holzflinte auf eine Strohpuppe angelegt. Doppelter Sinnesirrtum: er glaubte einen geladenen Karabiner in der Hand zu haben und hielt die Puppe für einen lebendigen Menschen, für seinen Todfeind; den wollte er also erschießen. Man nennt das Versuch mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt. Aber wir sind ethisch so verfeinert, daß wir uns schon gegen die verbrecherische Absicht empören, deshalb: ins Loch mit dem Kerl! Das ist die Norm. Zum Donnerwetter, so wendet sie doch an, wo es einen Sinn hat, die Absicht statt der Tat zu beurteilen. Was geschieht? Die Gegennorm schlägt uns mit einem Knüttel auf den Kopf. Im Fall Pordogg gilt die Absicht gar nichts. Er hat durch die Selbstinfektion sein eigenes Leben drangesetzt, das wird vergessen. Er wollte uns vom Übel erlösen – das gilt nicht mehr. Wir starren ethisch hypnotisiert auf die unglückselige Tat, und der glückselige Wille kann uns sonst was. Wieder ruft uns eine geheiligte Norm zu: Ne bis in idem – nie zweimal gegen dasselbe! Aber der Mann war ja schon bestraft, bevor er an die Schranken geschleppt wurde! Wenn ihm seine Geimpften in Masse wegstarben, so hat er in seiner Seele schon hundertfachen Tod erlitten. Gegennorm: wir bestrafen ihn noch einmal und diktieren ihm zu seinem Tod noch ein bißchen lebenslänglichen Kerker. Zu Hause hat er eine unschuldige Frau und zwei unschuldige Kinder. Ethische Norm: die Unschuld darf nicht gekränkt werden. Gegennorm: Frau und Kinder werden aufs schwerste mitbestraft, für ein Unglück, von dessen Anrichtung sie nicht die leiseste Ahnung besaßen. Und dann setzen sich unsere Staatsweisen zusammen und spintisieren über weitere Verfeinerungen der ethischen Kultur!

»Ja, das sind eben Gewissenskonflikte, die uns vielleicht um so mehr bestürmen, je weiter wir auf der Bahn der Menschlichkeit vorschreiten.«

– Woraus ich schließe, daß wir uns dieses Vorschreiten nur einreden, und daß Menschlichkeit mit allen Annexen nur Phantome sind. Ihr Hauptsymbol ist die Frau Justitia, vor der wir besonders, wir Insulaner, platt auf dem Bauch liegen. Eine großartige Figur! mit einer Augenbinde, wodurch sie ausdrückt, daß sie niemals ein Einsehen haben will, niemals Vernunft annimmt, denn Einsicht, Vernunft und Erkenntnis des Rechts sind dasselbe; mit einem Schwert, womit sie die verknoteten Fäden der Rechtsbeziehungen nicht löst, sondern entzweisäbelt; und mit einer Wage, auf der sie Imponderabilien wägen will wie Käse und Aufschnitt. Sie brauchte bloß noch wie Brennus das Schwert auf die Wage zu werfen, dann wäre das Sinnbild der Barbarei fertig. Auf dem Sockel müßte entsprechend stehen: Vae victis!

Und liebenswürdige Manieren hat die Dame Themis. Sie kommt uns mit Unparteilichkeit und Gleichheit aller vor dem Gesetz; etwa wie ein Palmbaum, der alle seine Früchte in gleicher Höhe aufgehängt hat; mit dem Effekt, daß die große Giraffe sie abfressen kann, während die kleine Antilope unten verhungert. Das sind ihre unparteilichen Rechtswohltaten. Als Strafgöttin schwingt sie ihr Schwert immer mit der gleichen Stärke in der gleichen Richtung. Daß ihr das eine Individuum nackt gegenübersteht, das andere gepanzert, das bemerkt sie nicht, denn sie ist ja blind. Ihr Streich geht an dem einen vorbei, der andere wird geritzt, der dritte mittendurch gespalten, – ganz egal, sie hat mit Gleichheit operiert – —

– Firnaz, hör auf! rief Branisso dazwischen. Diese Fremden sind hierher gekommen, um die Eigenheiten unseres Landes kennen zu lernen, aber nicht um die Heiligtümer der Menschheit verlästern zu hören. Und zu uns gewendet ergänzte er: Tatsächlich sind wir ein Justizvolk und wir streben danach, uns in diesem Betracht so zu vervollkommnen, daß wir dereinst als Muster für die ganze Erde hinausleuchten können. Unsere Abschließung von der Welt wird ja in absehbarer Zeit aufhören, und dann soll die Welt bei uns die wahre Blüte der Sittlichkeit studieren. Mit der Gerechtigkeit fangen wir an, und mit ihr hören wir auf, mit der höchsten Gerechtigkeit, die aus aller Gemeinschaft ein Volk von Brüdern machen soll. Unser Ideal ist der Pazifismus, das Wort im weitesten Sinne genommen; die Auslöschung der egoistischen Triebe durch das Prinzip des gerechten Denkens und Handelns. Die Gerechtigkeit ist gewissermaßen der Destillierkolben, aus dem wir die feinste Essenz gewinnen. Der mit dieser Essenz durchtränkte Mensch wird das wahre Völkerrecht in sich tragen, den ewigen Frieden jenseits aller Anfechtungen durch Gier und Neid.

»Dieses Programm verdient alle Hochachtung. Wenn wir Sie recht verstehen, so versuchen Sie aus allen Sittenlehren die gerechteste Substanz herauszuholen zum Zwecke eines allgemein anerkannten kategorischen Imperativs, der dann natürlich den Frieden von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk gewährleistet. Aber die Sittenlehren unter sich bieten doch Differenzpunkte!«

– Bis auf eine auffallende Übereinstimmung – polterte Firnaz; weil nämlich eine immer so blöde ist wie die andre. Hier auf den zwei Inseln schmarutzen sie alle Kurse durch, und keinem fällt es ein zu untersuchen, ob denn die Ethik überhaupt einen Sinn hat! ob nicht bei genauer Prüfung ihr Inhalt in Wortgewäsche sich auflöst. Das Meisterwerk Mensch wollen sie vollenden. Mit einer bevorstehenden Offenbarung durch innere Hochkultur des Seins besabbern sie ihr bißchen Intellekt. Aus der Physik wissen sie – oder sollten sie wissen – daß wir eine Verschrumpfung, Verbiegung, Deformation des gesamten materiellen Universums gar nicht bemerken könnten, weil all unsere Organe und Meßapparate im gleichen Grade mitdeformiert würden. Na dann zieht doch gefälligst die Folgerung auf moralisch verschrumpfte, verkrümmte Welten, deren Verbiegung wir als mitverbogene Kreaturen nicht wahrnehmen können. Die Wahrscheinlichkeit von Unendlich zu Eins spricht dafür, daß wir uns in einer solchen Welt befinden; daß wir sie als Moralkrüppel bevölkern; und daß es der blanke Blödsinn ist, in dieser Krummwelt von der Sitte und Gerechtigkeit etwas anderes zu erwarten als Krummheit und Mißgestalt. Menschentum! Menschlichkeit! so dröhnt es aus den zottigen Hochbrüsten der Männer, die sich für aufrecht halten, und es soll etwas Hohes, Erhabenes bedeuten, im Gegensatz zu Niedrigkeiten wie Eseltum, Ochsigkeit oder Bestialität. Du lieber Himmel, wo liegt der Koordinaten-Anfangspunkt, von dem aus gemessen wird, was hoch und was nieder? Es gibt keinen, und wir beschwindeln uns und die Welt, wenn wir so tun, als wüßten wir was von ihm. Die Frage: wer steht sittlich höher, der Mensch oder der Pavian ist genau so gescheit und genau so albern wie die Frage: was ist edler, verständiger, gerechter, sittlich vollkommener, der Kölner Dom oder der zweite Saturnring? Wir beziehen Dinge aufeinander, für die jeder Maßstab fehlt. Tatsache ist nur eins: Wir finden uns in diese Welt hineingesetzt und haben unser Pensum abzuwickeln. Das tun wir nach dem unverbrüchlichen Prinzip des Egoismus, der bald individual auftritt, bald gattungsmäßig, wie die Sekunde es verlangt. Dem einen sitzt Lug und Betrug im Blute, der lügt und betrügt, der andere hält mehr zur Wahrheit, weil er gemerkt hat, daß er damit durchschnittlich besser fährt. Im Kulturmenschen hat sich das Gefühl organisiert, daß der Vorteil der Menge auf den einzelnen abfärbt. Folglich erstrebt er aus tiefstem Egoismus den Vorteil aller, und er kommt sich dabei edel vor, weil er imstande ist, seine Privatselbstsucht so hübsch zu verkleiden, vor andern und sogar vor sich persönlich. Diese Selbstbeschwindlung ist dann seine Güte. Dafür hat er sich schockweise Ausdrücke erfunden, flatus vocis, oratorische Seifenblasen, an deren Buntheit er sich berauscht, die aber allesamt entzweiplatzen, sobald nur der Hauch des Intellekts sie berührt: Gerechtigkeit, Ehre, Pflicht, Friedenssehnsucht, Weg der Seele, Überwindung des Selbst, neuerdings indische Yoghi-Kultur: der siderische flammenreine Mensch soll entstehen; die Durchdringung des Wesens mit der sittlichen Harmonie des Alls; Ausbrennung der letzten Erdenreste im Bauchgeschlinge durch Innenkonzentration. Ihr bengalischen Phrasenmeister! konzentriert euch doch einmal wirklich nach ganz innen und seht zu, was ihr da findet: den kategorischen Imperativ des Egoisten in Reinkultur. Da sitzen die ewigen Wahrheiten und Erkenntnisse; der Krieg ist der Vater aller Dinge, homo homini lupus, Kampf aller gegen alle, denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht…

»Dies soll doch eben überwunden werden!«

–Von wem? vom Träger dieser Gemeinheit, der sich vortäuscht, er könne eine Gemeinheit durch eine andere neutralisieren. Denn andre Substanzen findet er ja nicht in sich. Es ist so, als faßte die Schwefelsäure den Entschluß, sich durch Innenkonzentration in Lawendelwasser zu verwandeln.

»Dein Gleichnis hinkt, Firnaz. Die Schwefelsäure kann nicht überlegen wie der Mensch, der sich selbst zu untersuchen und zu prüfen vermag.«

– Das heißt, der Geist nimmt den Geist unter die Lupe, die Seele seziert sich selbst. Das ist zwar unmöglich, aber nehmen wir an, es ginge. Da findet also die Seele bei der Selbstsektion eine üble Gewohnheit, die sie herausreißen und durch eine bessere ersetzen will. Wodurch und wie erkennt sie das Übel?

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
400 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок