Kitabı oku: «Yoga und soziale Verantwortung», sayfa 3

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Soziale Verantwortung in postdemokratischen Zeiten


Auf die alleinige Lösungskompetenz von Regierungen zu hoffen, selbst wenn sie demokratisch gewählt sind, scheint naiv. Dies zeigen die Ausführungen des Politikwissenschaftlers Colin Crouch eindrücklich, der bereits 2003 den Begriff »Postdemokratie« prägte. Das gleichnamige Buch liest sich leicht und erklärt mir heutige Schlagzeilen eingängig: von spingetriebenen politischen Marketingkampagnen, dem Rechtsruck von Parteien der Mitte über Bestechungsskandale, Absprachen mit Lobbyist:innen, elitäre Netzwerke und Wahlkampfsponsor:innen bis hin zum Phänomen der politischen Inszenierung. Politische Parteien sind mehr denn je abhängig von stark neoliberal gesonnenen Interessengruppen. Für die Demokratie ist das nicht förderlich, sie verkommt zu einer Postdemokratie, die zwar Wahlen abhält, aber eine zunehmend apathische und politikverdrossene Wählerschaft mit Marketing und Inszenierungen möglichst auf Abstand hält.12

Crouch erkennt dabei durchaus positiv an, dass unabhängig davon zahlreiche soziale Bewegungen existieren und auch neue entstehen, folgert daraus aber nicht per se, dass diese »Indizien für die Gesundheit der Demokratie«13 sind.

Für mich sind folgende Schlussfolgerungen für die Übernahme von sozialer Verantwortung zentral:

1 Soziale Bewegungen und Initiativen dürfen nicht nur Lückenbüßer für fehlende staatliche oder kommunale Maßnahmen bzw. Einrichtungen sein. Als solche werden sie sicher gerne geduldet, sofern sie sich nicht politisch äußern. Das macht sie aber zu Mitspielern eines Systems, das sie eigentlich kritisieren.14

2 Es braucht mehr zivilgesellschaftlichen Mut, um Kampagnen zu starten, die die Unzufriedenheit und auch die Unzufriedenen als Zielgruppe genau benennen.15 Gerade die Mobilisierung gegen Corona-Maßnahmen macht uns deutlich, wie schwierig dieses Terrain ist und wie gefährlich es ist, wenn differenzierungswürdige, komplexe Themen von rechten Gruppierungen mit einfachen Lösungen erfolgreich kampagnisiert werden.

3 Soziale Bewegungen sollten ähnlich wie große Unternehmen auch als Lobby versuchen, Einfluss über die Politik zu gewinnen.16 Es scheint ihnen auf den ersten Blick das offensichtlich alternativlose Druckmittel »Arbeitsplätze« zu fehlen, zwingend ist das aber auch nicht. Denn auch Kampagnen für intelligente Integrationsmaßnahmen von Zugewanderten können mit Arbeitsplätzen argumentieren, ebenso wie ökologische Innovationen.

4 Über das Lobbying entsteht auch eine Annäherung an die eigentliche politische Arbeit, von deren Notwendigkeit Crouch trotz allem überzeugt ist, »da keine ihrer postdemokratischen Alternativen ein vergleichbar großes Potenzial bietet, das Ziel der politischen und sozialen Gleichheit durchzusetzen.«17

5 Wer politisch Selbstwirksamkeit erfahren möchte, der ist auf der lokalen Ebene (erst mal) sicher besser aufgehoben. Crouch plädiert überhaupt für eine Stärkung der kommunalen und regionalen Politik und eine Ausweitung ihrer Agenden.18 Denn auf dieser Ebene ist die Umsetzung leichter, man ist weiter weg von den engsten politischen Zirkeln der Parteien und ihrer abgehobenen Logik. Auf lokaler Ebene sind vielleicht sogar Entscheidungen möglich, die auf nationaler Ebene unerwünscht sind. Ich denke da nur an die Diskussion darüber, die Vergabe des humanitären Bleiberechts für Asylsuchende auf die Kommunen zu übertragen, da diese besser über individuelle Integrationsfortschritte Bescheid geben könnten.

Verantwortung für strukturelle soziale Ungerechtigkeit im Kollektiv mittragen

Das »Social Connection Model« nach Iris Marion Young19


Wir sind heute mit vielen moralischen Dilemmata konfrontiert. Einerseits leiden wir unter den Folgen ökologischer und sozialer Krisen, erkennen auch irgendwie unsere Mitverantwortung daran, andererseits sehen wir uns außerstande, diese Probleme zu lösen. Daher verdrängen wir diese uns überfordernden Belange oder überlassen es bewusst der Politik, der Wissenschaft oder NGOs, für uns Lösungen zu finden.

Die amerikanische Philosophin Iris Marion Young beschreibt einen Denkansatz, der uns nicht aus unserer Mitverantwortung entlässt, gleichzeitig aber nach individuellen Möglichkeiten differenziert. Dabei setzt sie nicht auf Einzelkämpfertum, sondern auf die Effektivität eines Kollektivs. Ich möchte dieses Modell nun zum weiteren Durchdenken einführen, denn es appelliert an unsere Eigenverantwortung, an unsere Ratio und an unseren Gemeinwohlsinn. Gleichzeitig räumt es uns die Freiheit ein, nach eigenem Ermessen zu handeln. Und hier sind wir auch wieder beim Spüren: Was kann ich mir zumuten, und wo verläuft die Grenze zwischen moralischer Über- und Unterforderung?

Young sieht ihr Modell als Ergänzung, aber auch als mögliche Alternative zum »Liability Model«, das nach individueller Schuld und Haftung forscht und vergangenheitsorientiert funktioniert. Ihr neuer Ansatz erkennt nicht einen oder mehrere, sondern eine Vielzahl (vielleicht sogar Millionen) von Verursacher:innen. Sie alle tragen persönliche Verantwortung, da sie mit ihren Aktivitäten Teil eines Systems sind, das (globale) strukturelle Ungerechtigkeit produziert. Auch wenn sie dabei durchaus im Rahmen der Gesetze ihres Landes handeln, tragen sie trotzdem zur globalen Ungerechtigkeit bei. Dieser Verursachergruppe kann man je nach ihren Aktivitäten unterschiedliche Rollen zuordnen, zum Beispiel als Produzent:in, Händler:in, Arbeiter:in oder Konsument:in. Young bringt das Beispiel des Anti-Sweatshop Movements, wo Aktivist:innen Verursacher:innen auf unterschiedlichsten Ebenen zu mehr Verantwortungsübernahme für bessere Arbeitsbedingungen motivieren konnten.

Um sich über die eigene Rolle und die eigenen Handlungsmöglichkeiten klar zu werden, schlägt Young vier Parameter vor:

 Wie viel Macht habe ich in dieser Gruppe (z. B. als renommierte:r Markenerzeuger:in)?

 Welche Privilegien genieße ich (z. B. als Mittelklasse-Konsumentin, die spottbillig einkaufen kann)?

 Wie sehr interessiert mich eine Verbesserung der Situation? (z. B. als Arbeiter:in in einem Sweatshop). Auch die Opfer können in diesem Modell also Verantwortung übernehmen!

 Welche kollektiven Fähigkeiten können wir nutzen? (z. B. über Universitäten, Gewerkschaften oder Buchhandlungen)

Ergänzend sei gesagt, dass auch Drittparteien, die nicht zu den oben genannten Gruppen gehören, als positive Verstärker einwirken können. Man denke hier vor allem an Presse- und Medienarbeiter:innen. Auch Politiker:innen können als Außenstehende in Kampagnen eingebunden werden, um verbesserte Rahmenbedingungen zu ermöglichen.

Der ganze Prozess dieses Verantwortungsmodells ist als politisch anzusehen, da es viel Überzeugungsarbeit, eventuell auch Proteste und Aktionen bedarf, um die Akteur:innen zu mobilisieren bzw. sie auf ihre Verantwortung aufmerksam zu machen. Die Lösung des Problems liegt jedenfalls im kollektiven Zusammenwirken. Young hält nichts davon, einzelne Schuldige festzumachen, da das oft nur eine Kultur der wechselseitigen Schuldzuweisungen fördert. Wichtig ist zu erkennen, dass überall Menschen und keine unveränderlichen Fakten, Zahlen oder Dinge dahinterstehen. Wir können Veränderungen gemeinsam bewirken, wenn wir erkennen, dass wir (global) miteinander verbunden sind – auch wenn wir uns noch nie persönlich begegnet sind.

Resümee


Was können wir aus diesem historischen Rückblick über die Entwicklung des Begriffs »soziale Verantwortung« für uns heute mitnehmen? Was ist für einen Prozess der Verantwortungsübernahme im 21. Jahrhundert relevant?

1 Eigenverantwortung ist wichtig, muss sich allerdings in einem sozialen Kontext reflektieren.

2 Will man sich gegen Ungerechtigkeit bzw. für mehr Schutz von Mensch, Tier und Natur einsetzen, ist es sinnvoll, sich als zivilgesellschaftlicher Verband oder Verein, vielleicht sogar als politische Gruppe zu organisieren.

3 Verantwortung sollte ganzheitlich wahrgenommen werden – in ihren langfristigen, zukünftigen Auswirkungen auf Mensch, Tier und Natur gleichermaßen.

4 Politische Parteien laufen heute Gefahr, Eigen- bzw. Parteiinteressen (und nicht Gemeinwohlinteressen) zu verfolgen. Auch deshalb steigen diffuse Ängste und Politikverdrossenheit. Es ist wichtig, trotz allem weiterhin politisch zu denken und demokratische Beteiligungsmöglichkeiten zu nutzen.

5 Wir tragen durch unsere Handlungen und je nach unseren individuellen Wirkmöglichkeiten soziale Verantwortung für strukturelle Ungerechtigkeit und daraus resultierendes Leid. Eine Vielzahl neuer sozialer Bewegungen und NGOs versucht aktiv, durch Vernetzung und im Kollektiv Lösungsmodelle für verschiedenste Problemfelder zu erarbeiten. Es ist an jeder und jedem einzelnen von uns, zu erkennen, wo wir stehen und welche Aufgaben wir in diesem Kollektiv wahrnehmen können. Das Tieferdenken – lesen, schreiben und über die eigenen Werte und Ziele reflektieren – ist ein erster Schritt, um sich auf eine aktive Verantwortungsübernahme vorzubereiten.

Wir brauchen also insgesamt mehr Mut und Kreativität, und auch den Willen, die Begegnungen mit politischen Vertreter:innen nicht zu scheuen. Sehen wir es positiv und vertrauen wir darauf: Je mehr Menschen soziale Verantwortung übernehmen und sich für ihr Anliegen entsprechend vernetzen, desto vielfältiger, kreativer und nachhaltiger werden auch die Lösungen sein. Es braucht den Willen zur Eigenverantwortung, die Bereitschaft zur Kooperation und den Blick auf das (globale) Gemeinwohl. Dann können wir auch die bisherigen Errungenschaften und Statussymbole neu hinterfragen. Wohlstand misst sich nicht nur in Geldeinheiten, sondern auch in Selbstwirksamkeit und guten sozialen Kontakten. Ein funktionierender Zusammenhalt und die Möglichkeit zur Partizipation steigern insgesamt die Lebensqualität. So wird die Gesellschaft mündiger, kann politische PR-Spektakel als solche entlarven und wirklich wesentliche Lösungsansätze einfordern.

3. Kapitel


Die Moral und die Psychologie des Yoga-Sutra


Auf der Suche nach den Quellen


Die Yoga-Sutren des Patanjali gelten heute in den meisten westlichen Yogalehrausbildungen als der wichtigste philosophische Basistext. Eine Arbeit über den Achtfachen Pfad zu schreiben oder am Beispiel zentraler Begriffe die Psychologie des Yoga zu erklären gehört zu den Pflichtübungen in gegenwärtigen Yogalehrausbildungen. (In meiner Hatha-Yogalehrausbildung nach den Kriterien der Europäischen Yogaunion waren die Sutren jedenfalls von zentraler Bedeutung.)

Der Text dürfte in der Zeit zwischen 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. geschrieben worden sein und wird einem Mann namens Patanjali zugeschrieben. Da mehrere Gelehrte damals diesen Namen trugen, unter anderem auch ein großer Grammatiker, wird heute angenommen, dass mehrere Personen für den Text verantwortlich zeichnen.20

Alle 195 Sutren sind in einem auf das Essenzielle verknappten Stil verfasst. Verstehen kann man ein Sutra also nur, indem man sich durch die Kommentare liest. Als einer der ersten und berühmtesten Kommentator:innen des Yoga-Sutra gilt Vyasa, dessen Leben, ebenso wie bei Patanjali, mit vielen Mythen angereichert ist. Auch heute zählt es zu den noblen Aufgaben von Yogalehrer:innen, die des Sanskrit mächtig sind, eine eigene Übersetzung vorzulegen, sie zu kommentieren und dadurch den Yoga auch an den Zeitgeist anzupassen. Insbesondere die Recherchen und Forschungsergebnisse von David Gordon Whites »The Yoga Sutra of Patanjali. A Biography«21 machten mir klar, wie gerade dieser Text immer schon als ein Medium benutzt wurde, um aktuelle Einflüsse und Meinungen von Interessengruppen durch Yoga zu verbreiten. Das scheinbar Immerwährende und Immergleiche treibt also viele Blüten, wird in vielerlei Manifestationen interpretiert.

Besonders die Rolle von Swami Vivekananda ist in diesem Zusammenhang zentral zu erwähnen! 1896 erschien sein Buch »Raja Yoga«, worin die Yoga-Sutren für westliche Leser:innen gut verständlich aufbereitet werden. Im ersten Teil, der ebenfalls mit »Raja Yoga« betitelt ist, erklärt er den Achtfachen Pfad, wobei er den größten Teil seiner Ausführungen auf das psychische Prana und seine energetischen Wirkungen lenkt. So fällt mehrmals das Wort Elektrizität, eine Reverenz wohl vor dem damaligen Zeitgeist und das an Elektromagnetismus interessierte Publikum. Der Schwerpunkt, den ich in meinem Text setze, die Yamas und Niyamas, waren ihm im ersten Teil nur gezählte 93 Wörter wert. Trotzdem schmälerte er nicht ihre Bedeutung: »Sowie diese beiden fest begründet sind, wird der yogin die Wirkung seines Übens spüren. Ohne sie wird es immer fruchtlos bleiben.«22

Im zweiten Buchteil bringt Swami Vivekananda dann eine komplette Übersetzung inklusive Kommentar der Sutren. David Gordon White weist uns nun darauf hin, dass der Begriff des Raja-Yoga nicht von Patanjali stammt, sondern aus der Hatha-Yoga-Pradipika, verfasst im 15. Jahrhundert n. Chr., und dort dem körperorientierten Hatha-Yoga als höchstem Weg der Vergeistigung übergeordnet ist. Swami Vivekandanda nahm diesen Begriff Raja-Yoga und setzte ihn mit dem Achtfachen Pfad gleich: »Raja-yoga besteht aus 8 Stufen.«23 Für das Wiedererstarken des Yoga in Indien, aber vor allem für das erwachende Interesse am Yoga im Westen spielte diese Ungenauigkeit offenbar keine Rolle. Im Gegenteil: Für Swami Vivekananda war nach White diese Überhöhung und Gleichsetzung von Raja-Yoga und dem Achtfachen Pfad aus dem Yoga-Sutra eine Möglichkeit, sich von fakirischen und schlecht beleumdeten Straßenyogis zu distanzieren und einen neuen, sauberen Yoga im Sinne des Neo-Vedanta in die Welt zu setzen.

Somit trug Swami Vivekananda viel zum Bekanntwerden der Yoga-Sutren im Westen bei, vernebelte aber gleichzeitig etwas die Quellen. Ebenfalls interessant ist, dass er, als erster indischer Yoga-Superstar im Westen, den Schwerpunkt seiner Erläuterungen auf den Achtfachen Pfad lenkte, obwohl dieser von traditionellen indischen Gelehrten nicht als das Herzstück des Yoga-Sutra angesehen wird. Der Erfolg gab ihm recht. Er erkannte wohl das große didaktische Potenzial dieses Teilstücks aus dem Yoga-Sutra.

Diese »Ungereimtheiten« sollen die großen Leistungen des Swami Vivekananda nicht schmälern. Vor allem schaffte er es, die Yoga-Sutren den Menschen im Westen verständlich zu erklären – er war ein großer sprachlicher und interkonfessioneller Brückenbauer.

Ich finde es einsichtig, dass ein Text, der vor rund 2.000 Jahren verfasst worden ist, in seiner konkreten lebenspraktischen Auslegung einem Wandel ausgesetzt ist. Es ist sinnvoll, moralische Kriterien an die jeweiligen vorherrschenden Lebensentwürfe anzupassen. Ich möchte auch noch ein Stück weitergehen und postulieren: Auch eine Integration von Werten und Begriffen, die vor 2.000 Jahren noch nicht vorstellbar gewesen sind und auf die wir heute Wert legen, darf angedacht werden, zum Beispiel die Idee des Humanismus, der Menschenrechte oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Anpassen darf allerdings nicht das Streichen von unaufgebbaren Kernaussagen bedeuten. Pastor Bartholomäus Kalscheur bringt diesen Anspruch wunderbar auf den Punkt:

»Es geht – wie bei ethischen Erwägungen – darum, das Grundlegende und Unaufgebbare zu benennen und es ins Bewusstsein der Betroffenen zu heben, damit das Hinzukommende als solches erkannt und auch relativiert werden kann: Kontinuität zwischen Bewahrung und Veränderung. Anpassungen setzen grundlegende Werte nicht außer Kraft. Ethische Prinzipien bleiben aber nur in dem Maße prägend, wie es gelingt, ihre Relevanz für die Fragen der Menschen heute aufzuzeigen.«24

Ich beziehe mich in meinen weiteren Ausführungen nur auf einen kleinen Ausschnitt des Yoga-Sutra, nämlich auf jene Sutren, die als Yamas und Niyamas die ersten beiden Stufen des Achtfachen Pfades beschreiben und auf die vier heilsamen Qualitäten aus dem ersten Kapitel (YS 1.33.), die ich im Folgenden als Konzept der Bhavanas bezeichnen werde. Ich könnte mir inzwischen vorstellen, dass gerade diese Passagen von zwei sozial motivierten religiösen Bewegungen inspiriert wurden, die zeitgleich zur Entstehung des Textes bedeutsam wurden: dem Buddhismus und dem Jainismus.

David Gordon White schreibt, dass verschiedene Begriffe von Patanjali ungewöhnlich für den Yogakontext verwendet wurden und dass die Sprache der Sutren oft näher an einem »Buddhist-Hybrid-Sanskrit«, also einem Sanskrit des frühen Mahayana-Buddhismus, ist, als dass sie dem klassischen Hindi-Sanskrit entspräche.25 Das ist für mich auch ein Indiz dafür, dass ein Näheverhältnis des Autors zum Buddhismus existiert haben musste. Im Konzept der Bhavanas wird das dann überdeutlich. Diese vier Haltungen gibt es im Yoga und im Buddhismus, wo sie als Grundlage von Meditationsübungen sowohl im Theravada- wie auch im Mahayana-Buddhismus zu finden sind. Bhavanas werden im Buddhismus als Brahma-Viharas bezeichnet, als erhabene Wohnstätten für Metta (die liebende Güte), Karuna (das Mitgefühl), Mudita (die Mitfreude) und Upekkha (den Gleichmut). Diese Begriffe kommen aus dem Pali, der Sprache, in der die Lehrreden des Buddha verschriftlich wurden. Die westliche Umschrift in Sanskrit für Yogaübende sieht nahezu identisch aus: Maitri, Karuna, Mudita und Upeksha. Viele Yogi:nis von heute integrieren in ihren Unterricht folglich auch Elemente der buddhistischen Metta-Meditation.

Auch der Jainismus ist etwa zur gleichen Zeit wie der Buddhismus im 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden und zählt noch heute zu den sieben Hauptreligionen Indiens. Er gilt als eine reformorientierte Abspaltung aus der vedischen Kultur des Brahmanismus – ebenso wie der Buddhismus und der Sikhismus. Im Jainismus wird kein höchster Schöpfergott verehrt, sondern besonderer Wert auf die Taten der Gläubigen gelegt.26 Das Gelübde spielt in der Abwehr von schädlichem Karma bei den Jains eine große Rolle. Als die fünf »Großen Gelübde« gelten: »der Gewalt zu entsagen, die Wahrheit zu sprechen, nicht zu stehlen, sexuelle Enthaltsamkeit zu üben und nicht materiellen Dingen anzuhaften.«27 Diese Auflistung entspricht, auch in der Reihenfolge, den Yamas auf der ersten Stufe des Achtfachen Pfades von Patanjali. Bei den Jains spielen sie allerdings eine wesentlich zentralere Rolle und müssen durch Taten bezeugt werden.

Wie man so ein Gelübde politisch einsetzen kann, hat Mahatma Gandhi vorgelebt. Seine Familie war vertraut mit dem Jain-Kult und generell offen für verschiedenste religiöse Strömungen. Margaret Chatterjee schreibt dazu: »Die Jain-Einflüsse im Gujarat zur Zeit Gandhis waren in der Tat außerordentlich stark. Raychandbhai, der Heilige Jain-Juwelier, war für Gandhi am ehesten das, was man einen Guru nennen könnte. Er ging geduldig auf eine lange Reihe von Fragen ein, die Gandhi ihm aus Südafrika gestellt hatte.«28 Gandhi legte sein Keuschheitsgelübde 1906 als Teil seines Satyagrahi-Kampfes ab, um damit aller Welt zu demonstrieren, wie ernst es ihm war, seine Energie ganz für ein von der Kolonialmacht England befreites Indien einzusetzen. Er hat dieses Jain-Gelübde politisch und medienwirksam eingesetzt.

Zurück zu Patanjali, der die Wirkkraft dieser Moral offenbar erkannte und es förderlich fand, sie in den Yoga zu integrieren. Es sind Regeln, die auf Gemeinschaft und ein achtsames Miteinander abzielen und höchstwahrscheinlich, so meine Hypothese, nicht von asketischen Waldmännern, sondern von radikalen Sozialreformer:innen entwickelt worden sind. Ich finde es jedenfalls denkbar, dass bereits an den »Quellen des Yoga« nicht alles Yoga war, sondern schon damals der Yoga von anderen Strömungen inspiriert wurde. Eine Vorgehensweise, die für uns westliche Yogalehrende des 21. Jahrhunderts übrigens ganz selbstverständlich ist. Denn es muss uns ja, damals wie heute, um die Sache selbst gehen, also um die Frage, wie wir in heilsamer Weise unser Miteinander regeln können, und nicht darum, welches Logo auf welcher Idee klebt.

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