Kitabı oku: «Krimi Doppelband 2232», sayfa 3
Ernst hatte keinen Ersatz zu bieten. Der Schießleiter hätte ihm am liebsten aus der eigenen Tasche den Ersatz spendiert, um die endlosen Scherereien, Meldungen und Rapporte zu vermeiden, die mit dem Verlust scharfer Munition einhergingen. Doch das war unmöglich. Ernst stand da, die Handflächen beider Hände nach oben gekehrt, und machte einen hilflosen Eindruck.
»Hat jemand gesehen, ob der Ernst was verloren hat?«, rief der Oberkommissar laut, dann sah er Poehlke an: »Sie vielleicht, Sie sind hinter ihm gegangen?!«
Poehlke zögerte einen kleinen Augenblick, dann sagte er, ohne die Zähne auseinanderzunehmen, dass die Patrone hinten, am Zugang im Sand neben einem Busch liege. Der Oberkommissar lief selbst zu der bezeichneten Stelle, fand nichts, holte Poehlke zu Hilfe, der seinen beiden Hunden das Sitzen befahl, langsam mit seitlich herabhängenden Händen losging und sich ohne Veränderung des Gesichtsausdrucks der Fundstelle näherte, dort mit der Fußspitze die Patrone ein wenig anschnickte, dass sie im Sand kurz weiterkullerte und eine verschlungene Spur zog.
»Hier«, sagte Poehlke, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dass die Munition auf dem Boden zu finden sei. Er bückte sich noch nicht einmal, beobachtete, wie der Oberkommissar das Projektil aufhob und in der Hand drehte.
Halblaut, so dass man ihn nicht überall verstehen konnte, und in keineswegs unfreundlichem Ton fragte der Schießleiter: »Warum melden Sie das erst jetzt, Poehlke? Hat Ihnen der Ernst was getan?«
»Nein«, antwortete Poehlke. »Ich red' nur, wenn man mich fragt. Das ist alles.«
»Kameradschaft gilt nicht für Sie, ist es das?«
»Nein.«
»Dann hätte es sich von selbst verstanden ...«
Der Kommissar sah Poehlke ins Gesicht; dessen Augen blieben starr und ohne Ausdruck, sahen über den Vorgesetzten hin. Eine Pause entstand, man konnte die Kollegen murmeln hören. Die Sonne drang gerade durch die Wolken und beleuchtete den Schießstand mit grellem Licht.
»Es war klar, dass man mich fragt«, sagte Poehlke schließlich mit ruhiger, unbewegter Stimme, »bin nicht vorlaut, red' nur, wenn man mich fragt.«
Ernst zuckte mit den Schultern und machte zu der Schießaufsicht eine Geste, die andeuten sollte, dass er Poehlke nicht ernst nahm. »Langsam versteht den Poehlke keiner mehr. Der ist wie ausgewechselt.«
*
Erste Hinweise aus der Bevölkerung trafen ein. Die Kriminalbeamten saßen an den Telefonen und nahmen die Anrufe entgegen. Die weitaus meisten dieser »sachdienlichen Hinweise« kommen von Denunzianten und Spinnern, Hysterikern und Wichtigtuern. Wer der Polizei Fehler bei der Bewertung dieser Spuren vorwirft, möge sich vergegenwärtigen, dass in spektakulären Mordfällen wie diesem sich schon innerhalb von wenigen Tagen Hunderte solcher »Spuren« ergeben, auf die natürlich auch schriftlich, oft genug anonym hingewiesen wird. Telefongespräch oder Lektüre nehmen mit den dafür notwendigen Notizen pro Fall mindestens fünf Minuten in Anspruch. Man muss alles ernst nehmen, auch wenn es noch so absurd zu sein scheint, was vorgebracht wird. Und wenn am Ende eines zehn Stunden-Arbeitstages ein Beamter den entscheidenden Tipp falsch einschätzt, dann bleibt der Täter vorläufig unerkannt und kann weiter morden.
Zur Systematisierung der Flut von Informationen bedient sich die Polizei heute der elektronischen Datenverarbeitung. Auch die später so genannte »Soko Hammer« arbeitete von Anfang an computergestützt. Sie benutzt die bei der baden-württembergischen Polizei gängigen Dateien.
Seit 1973 werden alle bekannt gewordenen Straftaten und alle gefassten Straftäter datentechnisch erfasst und in der Personenauskunftsdatei (PAD) gespeichert. Daneben existieren noch weitere Systeme, darunter die für Erstermittlungen besonders wichtige Spurendokumentation (SPUDOK) und die Modus operandi-Datei (MOD). Inzwischen stehen die Dateien zum nationalen und internationalen Datenaustausch zur Verfügung; ein grenzübergreifendes unsichtbares Fangnetz ist geknüpft.
Kriminalgeschichten, in denen raunzige und gerissene Kommissare mit Intuition und Spürsinn die schwierigsten Fälle lösen, sind moderne Märchen. »Kommissar Computer« hat schon lange deren Stelle eingenommen. Er hat inzwischen sogar schon die selbständige Bewertung von Fakten und Zusammenhängen übernommen. Ein höchst verlässliches Instrument, das freilich nur so weit denken kann, wie seine Programme und die gespeicherten Informationen reichen. Es ist folglich auf die Dateneingabe ohne jeden Kompromiss angewiesen. Deshalb können die grünlich schimmernden Buchstaben und Zahlenbilder auf dem Bildschirm sehr trügerisch sein, in der Logik und der Vollständigkeit der Datenverarbeitung bestechend, aber höchst gefährlich, wenn man sich nur auf den Schirm verlässt.
Trotzdem sagen alle Kriminalisten, dass ihnen äußerst unwohl wäre, müssten sie heute ohne den Computer auskommen; erfahrene Polizisten beklagen freilich, dass die Datenfülle und die Perfektion ihrer Speicherung sowie die unbeschränkte Verfügbarkeit dem Fahnder zu oft ein Gefühl falscher Sicherheit gäbe, dass die kritische Distanz den mundgerecht gelieferten Daten zu oft fehle. Die Flut der in den Polizeidateien und insbesondere der SPUDOK verarbeiteten Daten auch nur eines komplexen Falles kann keiner im Kopf behalten. (Am Ende ihrer Ermittlungen hatte die Soko Hammer über viertausendsechshundert Spuren und Hinweise computertechnisch aufgearbeitet!) Ganze Datenfelder werden pro Hinweis aufgestellt. Die Aussagen werden auf ihren objektiven Kern untersucht. Zeit und Ortsangaben, Personen und Sachbeschreibungen, Autokennzeichen und vieles mehr werden aufgenommen und gespeichert und auf diese Weise abrufbar gemacht.
Dies ist einerseits eine wichtige Hilfe für die Ermittler, andererseits aber auch ein Informationsnetz, das sich unsichtbar für die Betroffenen gleichermaßen über den Straftäter wie über Tausende von tatsächlich Unbeteiligten und Unbeschuldigten legt. Werden die Ergebnisse von verdeckten Observationen, Anfragen bei Behörden und Meldeämtern, ja sogar Telefonabhöraktionen und Brieföffnungen in das Informationspuzzle eingefügt, so entsteht ein gefährliches engmaschiges Raster, das zwar frappierende Ermittlungsergebnisse zeitigen kann, aber auch bizarre Fehlentwürfe produziert und die Ursache für verhängnisvolle Falscheinschätzungen sein kann, wie gerade der vorliegende Fall zeigen wird.
*
Auch Norbert Poehlke hatte gebaut; es war zwar nur ein Aus- und Umbau, doch dabei entstand ein recht stattliches Haus im Backnanger Ortsteil Strümpfelbach. Das Anwesen liegt an der leicht abschüssigen Ludwigsburger Straße. Es steht parallel zu einer Stützmauer, hat nach hinten einen Anbau, den es um einen Stock überragt. An der Seite schließt sich eine mächtige Scheune mit spitzem Giebel an, die ein schweres Rolltor besitzt. Ein Quer- und ein Längshaus schneiden sich. Das Dachgeschoss ist ausgebaut, besitzt links einen überdachten Balkon; darunter wurde eine Veranda auf Metallstützen angebaut, die zur Straßenseite eine Sichtblende aus hellem Kathedralglas hat. Die Giebelfront ist mit rötlichem Holz verkleidet und im Parterre weiß verputzt; geschwungene Schmiedeeisengitter schützen die Fenster vor ungebetenem Besuch.
Die Fassade des linken Teils des Hauses dagegen ist noch roh. Man sieht die Betonstürze, die gegossenen Decken und die Klinkersteine. Hinter dem Haus liegt in Bergen Schutt und Unrat; im Vorgarten wächst Ziergesträuch, ein Bäumlein. Über 300.000 DM hat der Bau gekostet. Viel Geld für jemand, der 2.500 DM im Monat netto nach Hause bringt, dreizehn mal im Jahr.
Das Gebäude vermittelt einen seltsam gespaltenen Eindruck mit dem fertiggestellten rechten Teil und dem linken, noch unvollendeten, dennoch bewohnten. Sicher, wäre Geld vorhanden gewesen, die Fertigstellung wäre innerhalb weniger Wochen gelungen. Doch selbst wenn man sich das Haus verputzt vorstellt, hat es zwei Gesichter: das rechte konventionell und gerade, der Anbau auf der linken Seite zergliedert und durch zusätzliche neue Elemente uneinheitlich geworden. Der Seitenteil besitzt keine Fenster; nur Glasbauteile, die überdies erst im Obergeschoss beginnen, sorgen für Licht; dort wirkt das Haus wie eine große abweisende Mauer. Obwohl noch nicht umzäunt, wirkt das Grundstück nicht einladend.
Am Freitagabend war Besuch bei Poehlkes angesagt. Selten, dass jemand kam. Eine Jugendfreundin von Inge mit ihrem Mann. Sie stammten wie Inge aus der Nähe von Münster in Westfalen. Für das kommende Wochenende waren sie in Stuttgart für eine Mitarbeiterschulung der IG Druck und Papier angemeldet, hatten schon Quartier bezogen und waren gegen 20 Uhr zu den Poehlkes nach Backnang gefahren.
Es war ein einladender, milder Abend, der in blauer Dämmerung heraufzog. Schlepper kamen von den Feldern und zockelten über die Landstraßen nach Hause, überall bereitete man sich auf das Wochenende vor. Auffällig viele Menschen arbeiteten vor ihren Häusern, weil das Wetter so angenehm war. Auf den Antennen und Dächern saßen Amseln und sangen pathetische Lieder. Kreissägen pfiffen dazwischen, Hausfrauen fegten das Pflaster und schwätzten miteinander.
Poehlkes Mutter hatte den Weg vor dem Haus gereinigt; sie hatte sich dabei nicht aufgehalten, die Dreckhäufchen aber noch säuberlich auf eine Schaufel genommen und auf den Müll geschafft, statt sie zu dem anderen Unrat und Bauschutt zu kehren, der hinter dem Haus ihres Sohnes lag. Sie ging schweigend vorbei, als Poehlke vor die Tür trat. Er sah ihr nach, blickte an der rohen Fassade des linken Flügels hinauf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er rührte sich auch nicht, als er seine Frau nach ihm rufen hörte.
»Norbert, sag, liegen die Kinder im Bett?«
Statt einer Antwort des Vaters hörte man die beiden Söhne herumkrakeelen.
»Norbert, die Kinder müssen still sein, sonst komm' ich nicht rum«, rief Inge wieder. Als sie keine Antwort vernahm, trat sie ans Fenster, sah ihn: »Norbert, die Kinder.«
Da fuhr er herum und sagte halblaut: »Schrei nicht so, die Leute!« Im Ton seiner Stimme lag etwas Ruhiges, keine Aggression, aber auch keine devote Haltung.
Die Nachbarn hatten den kurzen Dialog nicht beachtet. Er wollte seine Frau nur auf etwas für ihn völlig Selbstverständliches hinweisen, so klang es. Er verließ seine Beobachtungsposition und stieg die Treppe hinauf ins Kinderschlafzimmer, wo er sich den grössten Teil seiner Freizeit aufhielt, um seine Söhne zu beruhigen und sie zu ermahnen, nun endlich im Bett zu bleiben und zu schlafen. Als Gegenleistung drängten sie den Vater, das Gutenachtlied zum dritten Mal vorzutragen.
Brummend sang Poehlke »Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsre weit und breit...«, das ihm als Kind selber so gut gefallen hatte. Ihm war es nur höchst selten vorgesungen worden, deshalb folgte er den Bitten seiner Söhne mit Geduld. Die Kinder, eines sechs und eines vier Jahre alt, hübsch und blond, saßen in den Betten und lauschten dem Sprechgesang des Vaters, der am Fenster lehnte.
»Norbert!«, schallte es vom Erdgeschoss hoch, dann leiser, resigniert, weil keine Antwort kam und nur das Brummen der Männerstimme zu hören war: »Mein Gott, jetzt singt er wieder.«
Poehlke strich den Kindern über den Kopf, küsste sie, betrachtete die Gesichter, wie sie in die Kissen gekuschelt waren und so taten, als schliefen sie schon. Er ging hinaus und lehnte die Tür an. Inge stand im Flur, hatte sich schon ein gutes Kleid übergezogen, war gekämmt und ein wenig geschminkt, was selten vorkam. Sie starrte ihren Mann an, der in Hausschlappen und Trainingshose langsam Stufe um Stufe herunterstieg. Sie sagte, dass es schon zwanzig vor sei. Poehlke quittierte die Feststellung mit einem Achselzucken.
»Wie man sich nur so rumhängen lassen kann«, sagte Inge und ging in die Küche. »Hier, komm, trag das Hundefutter noch aus. Das wär’ für Frau Kussmaul, die zahlt auch immer bar, ohne dass es Sachen gibt.« Sie stellte einen Papiersack mit zehn Kilo Haferflocken für Hunde in den Flur. »Sie hat angerufen, braucht’s noch heute, das Tier hat sonst nichts zu fressen.«
»Hab’ schon tausend mal gesagt, dass ich nichts austrage«, sagte Poehlke und blieb vor dem Futtersack stehen, ihn betrachtend, ohne Anstalten zu machen, ihn aufzuheben. »Bin kein Händler. Du weißt doch, dass ich gegen den Futterhandel bin. Nur weil viele Kollegen das machen, muss ich mich noch lange nicht beteiligen.«
»Aber das Geld nimmste gern«, sagte seine Frau wütend und trat unter die Tür. »Zu faul biste, wie üblich.«
Poehlke sah sie gleichgültig an. »Du weißt, dass du lügst, Inge. Wer arbeitet bei Wagner? Wer schafft wie ein Verrückter halbe Tage lang? Muss nicht nur bewachen, auch zupacken wie alle. Selbst Wagner hilft. Pelze sind schwer. Neunhundert sind mehr, als du im Vierteljahr mit dem Futterzeug verdienst, denk immer dran, wenn du so was zu mir sagst. Und deinen Handel muss man bei der Steuer anmelden, was ich bei Wagner mache, nicht. Bin Polizist und trag’ kein Futter aus.«
Eine lange Rede für Poehlkes Verhältnisse. Er trat zur Seite und beobachtete seine Frau, die, ihm einen Seitenblick zuwerfend, die Futtertüte aufnahm und das Haus verließ. Poehlke ging sich umziehen.
Als seine Frau zurückkam, warf sie das eingenommene Geld auf den Küchentisch. Er kam wieder herunter, streifte durch das Wohnzimmer und schob die bunten Clubsessel zurecht.
»Flanellhosen bei so einem Wetter wie heut«, tadelte Inge.
»Hab’ nichts Besseres für den Sommer, aber wenn Wagner zahlt, dann kauf ich mir was, mit Bundfalten, kariert«, sagte Poehlke.
»Wenn Wagner zahlt, wenn Wagner zahlt«, äffte Inge. Er beachtete das nicht, setzte sich auf einen der Sessel und starrte die halbfertige Einrichtung an. Nur wenige Möbelstücke waren neu, der Rest alt und verschlissen. In der Küche klapperte Geschirr. Inge trug kalte Platten herein, Aufschnitt und Braten, garniert mit Petersilie und gekochten Eiern, Käse und geräuchertem Fisch.
»Is ’n das nicht zu üppig?«, fragte Poehlke, ohne die Stimme zu heben. »Wenn der Besuch nichts isst, dann sitzen wir drauf. Einfrieren kann man das nicht.«
»Deine Söhne werden nichts davon übriglassen, und außerdem, wenn schon mal jemand kommt... Sonst schmeißt du doch das Geld raus, heute bin ich dran, diesmal sind's nicht die Leute, für die alles draufgeht, sondern meine Freundin.«
Sie sprach in entschiedenem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Trotzdem begann Poehlke gelassen zu argumentieren, dass es auch die Hälfte getan hätte. Da klingelte es an der Tür. Das Gespräch wurde unterbrochen.
Es folgte eine herzliche Begrüßung zwischen den Frauen, die Männer gaben sich die Hand, und Poehlke lächelte. Er bemühte sich um einen hochdeutschen Tonfall, als er sagte: »Rein in die gute Stube«, hielt zugleich die schlanke Weinflasche hoch, die man ihm als Familienvorstand überreicht hatte, tat, als prüfe er das Etikett, dabei verstand er nichts vom Wein, weil er nur selten Alkohol trank. Höflicherweise erwähnte er diesen Umstand nicht.
Man trat ein. Nach wenigen Worten folgte die Führung durch das Haus. Dabei trat eine Veränderung in Poehlkes Verhalten auf. Er schüttelte seine brummige, gleichgültige Haltung ab, begann zu reden und zu erklären. Er ging vor, übernahm die Einweisung bei der Besichtigung. Wenn er sprach, gestikulierte er sogar ein wenig, sein Gesicht war offen und freundlich. Die Augen leuchteten. Stets sprach er von »meinem« Haus. Nun war Norbert Poehlke der Hausherr, unanfechtbar, umsichtig und tadelsfrei. Bei der Erläuterung der Lage von Fluren und Zimmern betonte er mehrfach, dass alles seine Planungsidee gewesen sei, er fast jedes Detail entworfen und der Architekt nur auszuführen gehabt habe. Inge machte ihm die Rolle nicht streitig, hielt sich im Hintergrund, und wenn sie mit ihrer Freundin Monika flüsterte, dann nicht, um ironische Bemerkungen anzubringen, sondern wegen Kleinigkeiten, von denen sie annahm, dass dies nur Frauen interessieren dürfte.
Nach einem scheuen Blick in das Kinderzimmer kehrte man zurück ins Wohnzimmer, wo sich die beiden Ehepaare sofort zu Tisch setzten und mit dem Abendessen begannen. Poehlke legte eine Schallplatte auf. Volkstümliche Musik drängte sich zwischen die Gespräche, die sich um Belanglosigkeiten drehten.
Poehlke beteiligte sich nicht mehr daran. Er aß schweigend eine beträchtliche Menge Aufschnitt, trank Sprudel dazu, während er durchaus großzügig den Gästen Bier nachschenkte und sie dazu animierte, tüchtig zuzugreifen. Er hatte zu seiner ruhigen, ein wenig abwesend wirkenden Haltung zurückgefunden, was freilich seine Frau nicht davon abhielt, sich mit ihrer Freundin Monika lebhaft über Kinder und Haus zu unterhalten.
Monika, eine stämmige Frau von Mitte Dreißig, hatte ein ovales Gesicht mit rosiger Haut und freundlichen blauen Augen, die natürlich sofort registriert hatten, dass vieles in diesem Haus noch unfertig und improvisiert war. Die Spannteppiche zogen Falten, waren auch nicht von erster Qualität; die Fußleisten fehlten im Flur, und im Wohnzimmer waren die Heizkörper erst grundiert; ein nicht ganz zurückgezogener Vorhang kaschierte ein unlackiertes Steigrohr, das nicht unter Putz lag.
Inge folgte dem Blick ihrer Freundin und sagte, dass halt noch viel zu machen sei.
»Natürlich, wenn man ein so großes Haus hat«, antwortete diese nicht ohne Ironie in der Stimme. Monika wohnte mit ihrem Mann und den drei Kindern zur Miete; zwar hatten sie eine große Wohnung, aber die Schwiegereltern lebten mit ihnen zusammen. Nur so ging es, dass beide Ehepartner arbeiten konnten. Beide waren Drucker, verdienten gut, sicherer Arbeitsplatz, Überstunden massenhaft, aber für ein Haus hatte es noch nicht gereicht.
Als man sich auf die Sitzgruppe um den niedrigen Glastisch zurückzog, nachdem die Frauen den Tisch abgeräumt hatten, fragte Poehlke beiläufig nach dem Kraftfahrzeug, das man fahre.
»Ein Auto ist nicht so wichtig«, sagte Monika.
»Was isses für ein Typ?«, fragte Poehlke beharrlich.
»Polo.«
»Wird eng mit den Schwiegerleuten.«
»Die haben ihr eigenes«, sagte Monika. «Mercedes.«
Das war ein Stichwort. Da kam wieder Leben in die Augen von Norbert Poehlke, ja, einen Daimler, wie man hier vertraulich sagt, einen Daimler habe man auch, Kombi. »Geht nichts über Qualität«, sagte er.
»Dauernd kaputt ist er«, sagte Inge.
»Trotzdem, die anderen sind auch ständig hin. Und ein Daimler ist ein Daimler, da weiß man, was man hat«, brummte Poehlke. Er schilderte die Vorzüge des Wagens, bagatellisierte die Nachteile. »Ein Daimler ist halt was«, sagte er befriedigt. Er lehnte sich zurück, das Lächeln in seinem Gesicht verschwand. »Und der Wiederverkaufspreis«, setzte er hinzu.
Monika fragte ihre Freundin, wie man das alles schaffen könne, finanziell. Bevor Inge antwortete, warf sie einen kurzen Blick zu ihrem Mann hinüber, der unbeteiligt wirkte. Sie entschloss sich zu reden.
»Norbert hat einen Nebenjob«, noch ein kontrollierender Blick, bei Poehlke keine Regung. Sie fuhr fort: »Er bewacht Pelztransporte, das ist gefährlich, bringt aber was ein.«
»Red nicht davon«, sagte Poehlke gelassen, »es geht niemanden was an.«
Er hatte seiner Frau schon mehrfach verboten, über den Nebenverdienst zu sprechen oder gar den Namen Wagner zu erwähnen. Sie spürte allerdings bei guten Bekannten und Freunden die Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen, wollte die hohen Schulden nicht eingestehen; deshalb fielen trotz seiner Ermahnung jedesmal die Andeutungen, die dann, wenn er ihr das Wort verbot, um so interessierter registriert wurden. Poehlke, ein privater Wachmann!
Monika lachte und sagte, das erkläre vieles. Ihr Mann, der sich zurückhielt, nickte nur und trank sein Glas leer. »Mein Mann ist Gewerkschaftler im Nebenjob, da verdient man nichts«, sagte Monika.
»Alles Politik, Politik interessiert mich nicht«, brummte Poehlke und schenkte nach. »Politik ist Dreck.«
Auf diese Bemerkung hätten die Gäste vieles antworten können, beispielsweise, dass ein einfacher Mann wie Poehlke seinen Wohlstand nicht nur der Arbeit, sondern auch den gegebenen politischen Verhältnissen verdanke, an deren Gestaltung die Gewerkschaften schon seit über hundert Jahren in harten Kämpfen maßgeblich mitgewirkt hatten, dass nichts Verächtliches an der Politik sei, dass politische Diskussionen nur der Ausdruck der Meinungsfreiheit seien, und so weiter.
Doch Monikas Mann sparte sich seine Argumente. Er kannte Poehlke nicht sonderlich gut, wusste, dass ihn das alles nicht beeindrucken würde, dass die Worte an einem Panzer von Schweigen abglitten. Demütigend war die Schaustellung wirtschaftlicher Prosperität durch das Ehepaar Poehlke schon ein wenig für die Besucher, die auch arbeiteten, sich zu zweit abrackerten und dazu noch verantwortungsbewusst und ehrenamtlich politisch tätig waren.
»Da muss man sich nicht sagen lassen, Politik sei Dreck, bloß weil einer das Glück hat und einen lohnenden Nebenjob gefunden hat«, dachte Monikas Mann. Nur um seiner Frau den Abend nicht zu verderben, blieb er sitzen, schwieg weiter und sah von Zeit zu Zeit auf die Uhr. Inge fiel auf, dass er nichts mehr trank, auch sonst nichts mehr von dem Knabbergebäck, das in mehreren Schälchen auf dem Tisch stand, zu sich nahm.
Als es gegen 10 Uhr ging, das Gespräch war schon längst verschleppt und versandet, erhoben sich die Gäste, verabschiedeten sich ohne Herzlichkeit und verließen das Haus.
Kaum war die Tür geschlossen, stieg Poehlke wieder hinauf ins Kinderzimmer, um nach den Söhnen zu sehen, die ruhig schliefen. Vom Fenster aus beobachtete er die Abfahrt des Polo, ohne dass eine Gemütsregung in seinem Gesicht erkennbar gewesen wäre, weder Triumph noch Hass. Die Hunde schlugen an, schwiegen dann wieder.
Eine halbe Stunde später kam Poehlke herunter. Das Geschirr stand unabgeräumt im Wohnzimmer. Gläser und Gefäße bei der Couch. Durch die Tür sah Poehlke seine Frau am Küchentisch sitzen. Das Licht war nicht angeschaltet. Sie hatte den Kopf auf dem abgewinkelten Arm liegen und weinte. Poehlke blieb stehen, schob die Hände in die Taschen und spitzte die Lippen, er pfiff leise ein Kinderlied.
*
Die Sonderkommission arbeitete auf Hochtouren. Hinweise und Spuren wurden systematisch gesammelt, EDV-technisch aufgearbeitet und gespeichert. Erste Hypothesen wurden formuliert und die Daten daraufhin abgefragt und geprüft. Es ergab sich jedoch kein einheitliches Bild. Die Verdachtsmomente waren zahlreich, doch nichts so konkret, dass man einen Ansatzpunkt für eine gezielte Personenüberwachung oder Personenfahndung gefunden hätte.
Der Obduktionsbericht der gerichtsmedizinischen Sachverständigen war eingetroffen. Er enthielt, wie vorgeschrieben, ein genaues Protokoll der Leichenöffnung, bei der ein Richter und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft zugegen gewesen waren. Das Protokoll schildert die Schritte der Obduktion, die mit der Öffnung der großen Leibeshöhle beginnt und bei der Untersuchung des Schädels endet. Die Befunde werden festgestellt und analysiert. Es folgt eine Bildmappe, in der die Obduktionsabschnitte fotografisch festgehalten sind, mit besonderer Schwerpunktbildung bei der Untersuchung des Schusskanals durch den Schädel des Opfers.
Messungen ergaben, dass der Schusskanal von einem 9 mm-Projektil herrühren könnte, eine Feststellung, die zu dem Patronenhülsenfund am Tatort passte. Der Tod war durch den Schuss eingetreten, Alternativursachen waren auszuschließen. Dieser Befund ist wichtig, denn die juristische Beurteilung durch den Strafrichter ist anders, wenn etwa feststeht, dass das Opfer an den Folgen der Aufregung schon vor dem Schuss verstorben ist.
Ein zweites, kürzeres gerichtsmedizinisches Gutachten betraf die Blutanalyse der Spuren, die man am Vorschlaghammer sowie auf dem Kuvert in der Bank in Erbstetten gesichert hatte.
Anders als später in der Presse oft berichtet, war nicht eine besonders seltene Blutgruppe festgestellt worden. Die Blutgruppe A, die das gerichtsmedizinische Institut ermittelte, kommt bei vierzig Prozent der Europäer vor und ist damit am zweithäufigsten bei uns verbreitet. Die gute Qualität der gesicherten Spur ließ allerdings einen hohen Differenzierungsgrad bei den Blutgruppensystemen, deren Untergruppen und dem Rhesusfaktor zu. Ein Verdächtiger hätte mit Hilfe dieses Analysebildes mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit als Verursacher der gesicherten Blutspuren überführt werden können.
Die Fingerspur dagegen, die auf der Glasscheibe gesichert worden war, passte zu keinem der vielen tausend Abdrücke, die beim Bundes- bzw. Landeskriminalamt gespeichert waren und ebenfalls über EDV abgefragt und verglichen werden konnten. Folgerung: der Verursacher dieser Fingerspur war noch nicht erkennungsdienstlich behandelt worden und somit noch nie bei der Polizei aufgefallen.
Schließlich meldete sich auch ein Zeuge mit einer wichtigen Beobachtung: Er behauptete, er habe in der Nähe des Gruppenklärwerks Häldenmühle einen Schuss gehört. Den Zeitpunkt gab er mit 10.30 Uhr an. Andere Ursachen für das wahrgenommene Geräusch, beispielsweise die Fehlzündung eines Autos auf einer der drei Straßen, die in der Nähe des Tatorts vorbeiführen, schloss er aus.
Pfitzer hatte etwa um 10.15 Uhr morgens die Firma Balduf verlassen, das stand fest. Bei normalen Verkehrsverhältnissen, die offensichtlich vorgeherrscht haben, kann man den Parkplatz in der Nähe des Klärwerks innerhalb einer Viertelstunde erreichen und ein Diktat über die Besprechung auf Band nehmen. Danach müsste aber der Täter schon sehr schnell auf sein Opfer zugetreten sein und den tödlichen Schuss abgegeben haben.
Die Polizei hat später hieraus geschlossen, dass der Täter seinem Opfer im Gebüsch, jedenfalls aber in der Nähe des Tatorts, aufgelauert haben müsse.
Dafür spricht, dass dieser Platz in der Gegend als »Vertreterparkplatz« bekannt ist. wo man schon immer Handlungsreisende auf kleinen Pausen beobachtet haben will. Denkbar wäre, dass der Täter einige Zeit und Geduld mitgebracht hat, um auf dem Parkplatz zu lauern und eine Gelegenheit abzuwarten, die für ihn günstig war. Dass er den Überfall dann erst gegen halb eins am selben Tag verübte, hatte, nach heutiger Auffassung, seine Gründe.
Denn der Zeitpunkt des Banküberfalls, praktisch unmittelbar vor Ende der Schalterstunden, fiel mit dem Ende der Frühschicht bei der Polizei fast zusammen. Um 13.00 Uhr wechseln die Besatzungen der Streifenwagen und der Polizeiposten. Eine geringere Einsatzbereitschaft der Ordnungskräfte ist die Folge: günstig für Straftäter, ein Umstand, der durchaus bekannt ist. Aber je länger die Zeit zwischen der Tötung des Opfers und dem Überfall war, desto mehr setzte sich der Täter der Gefahr aus. zufällig erkannt zu werden. Dies nahm er, so schließt die Polizei, nur in Kauf, weil er wie ein Angler auf den Fisch auf sein Opfer wartete und den Zeitpunkt, zu dem das Opfer in die Falle gehen würde, nicht bestimmen konnte.
Andererseits sprechen gewichtige Argumente gegen diese Theorie: Der Parkplatz liegt nicht gerade idyllisch in der Nähe des Klärwerks, von dort dringen an warmen Tagen Fäkaliengerüche herüber, insbesondere, wenn das Rührwerk läuft. Es gibt hübschere Flecken im anmutigen Neckartal. Zudem ist die Einfahrt in das Seitensträßchen, das zum Parkplatz führt, unübersichtlich. Kein Verkehrsschild und keine Markierung weisen auf einen Parkplatz hin, wie man es beispielsweise von Wanderparkplätzen oder Rastplätzen an Fernstraßen kennt. Möglich, aber doch relativ unwahrscheinlich ist es, so sagen die Gegner der Polizeitheorie, dass ein Fremder überhaupt an diesen verhältnismäßig versteckten Ort gerät. Sie bezweifeln auch die Behauptung, die Stelle an der Murr sei ein typischer »Vertreterparkplatz«. Wie sollte dann der Täter damit rechnen können, dass sich dort überhaupt ein Opfer einfinden würde?
Die zweite Theorie spricht deshalb von einem Anhalter, auf den Pfitzer hereingefallen sein könnte und der ihn an den Tatort dirigiert habe, um ihn dort zu erschießen.
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»Wagner wartet«, sagte Poehlke und sah auf die Uhr. Es war Anfang Juni. Seine Frau folgte ihm bis zum Hundezwinger. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Die Schäferhunde sprangen am Gitter des Zwingers hinauf und winselten vor Freude. Poehlke öffnete das Vorhängeschloss und kommandierte die Tiere an den Fuß, so dass sich beide, eng aneinandergeschmiegt, die langen Ruten zwischen den Hinterläufen, an seine rechte Seite drängten.
»Warum kann der Mann nicht jedesmal zahlen, wenn ihr die Pelze abgeliefert habt?«, fragte Inge hinter ihrem Mann her, der mit den beiden Hunden zu dem weißen Mercedes ging. Er gab keine Antwort. »Du kannst nicht immer sagen, dass das halt so ist in dieser Branche«, fuhr sie fort. »Er kriegt doch sicher auch sein Geld pünktlich.«
Poehlke drehte sich um und sah sie an. Sie kam ihm nach, sagte, dass niemand zuhöre, er brauche keine Angst zu haben.
»Ich flieg’ raus aus dem Dienst«, brummte er und schloss hinter den Hunden die Heckklappe, »werd’ suspendiert, wenn’s rauskommt. Nichtanmeldung einer Nebentätigkeit ist ein Dienstvergehen. Rat mal, warum jeder von den Kollegen den Futterhandel über die Frau oder die Eltern laufen lässt?« Er ging zur Fahrertür und winkte ihr lächelnd zu. »Bargeld lacht«, sagte er leise. Dann fuhr er davon.
Westlich des Dorfes Affalterbach erhebt sich ein stumpfer Bergkegel, dahinter liegt ein bewaldeter Rücken, der einen ehemaligen Steinbruch verbirgt, den Lemberg, jenes Gebiet, das die Polizei mit Suchhunden am Tattag durchgekämmt hatte. Poehlke war, den Wirtschaftswegen folgend, in den Wald vorgedrungen und hatte sein Fahrzeug nun am Rande einer Lichtung rückwärts ins Gras rangiert. Es hatte zu regnen begonnen. Blätter und Gehölze färbten das Licht grün. Die Tropfen tanzten auf der Windschutzscheibe, entwarfen bizarre, ständig sich verändernde Muster. Im Auto roch es nach den Hunden, die sich auf der Ladefläche zusammengerollt hatten und mit den Köpfen auf den Pfoten ruhten.