Kitabı oku: «Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis», sayfa 11
5.
Irgendwann bestand Thomas Faust darauf, dass sie ihn in seine Wohnung fuhr. Er konnte den Geruch nicht länger ertragen, der an seinen Kleidern haftete, und selbstverständlich kam es nicht infrage, dass er ihr Angebot annahm und ihr Badezimmer benutzte, um sich dann den Rest der Nacht in einem Bademantel in ihr riesiges Wohnzimmer zu setzen.
Niemals!
Mannhaft ertrug er also alles, wusch sich lediglich die Hände und das Gesicht gründlich, und ging mit dem Fräulein die Unterlagen aus dem alten Koffer durch, bis ihnen beiden vor Müdigkeit die Augen zufielen. Kaum war er aus dem Loreley gesprungen und hatte seine Wohnung betreten, als er auch schon auf dem Weg ins Badezimmer damit begann, seine Sachen von sich zu streifen und gleich darauf das Badewasser einlaufen zu lassen. Glücklicherweise hatte Frau Zimmermann, seine alte Haushälterin, den mächtigen Boiler vom Hausknecht anfeuern lassen, doch die Glut war längst erloschen und das Wasser bestenfalls noch handwarm. Aber Faust genoss es, sich gründlich zu säubern und dann zumindest noch für eine kurze Zeit unter die Bettdecke zu schlüpfen.
Jetzt war es neun Uhr, und ein übernächtigter Polizeiagent in tadellos weißem Hemd, gestärktem Kragen und einem leichten, dunklen, einreihigen Blazer, der elf goldene Knöpfe aufwies, davon drei an der Frontseite, und sich damit deutlich von dem marineblauen Zweireiher mit zwölf goldfarbenen Knöpfen unterschied, fand sich im Präsidium ein. Seit in den englischen Ruderclubs diese Form der Jacketts getragen wurde, nahmen die sportlichen Herren diese Mode gern an und kleideten sich damit für den Tag perfekt. Faust besaß auch die klassische Navy-Ausführung in Marineblau, aber die behielt er sich für andere Anlässe vor.
Der Polizeiagent hatte mehrere kritische Blicke seiner Kollegen wohl bemerkt, aber niemand sprach ihn direkt an. Sein Gesicht wirkte beim Rasieren bleich und müde, die tiefen Ringe unter den Augen sprachen deutlich von der geringen Schlafmenge, die er noch für sich erwischt hatte, bevor ihn der Hausknecht mit lautem Klopfen an der Schlafzimmertür weckte, und auch der frisch gebrannte, gemahlene und anschließend aufgebrühte Kaffee der guten alten Ilse Zimmermann machte nicht wirklich munter.
Auf dem Weg zum Präsidium ging ihm noch einmal alles durch den Kopf. Der dicke Umschlag im Koffer des ehemaligen Kommissars hatte interessante Dinge enthüllt, über deren Tragweite sich Faust noch nicht im Klaren war. Das Interessanteste im Koffer war der schwere Gegenstand, leicht gewölbt, der unter einer weiteren Zeitungsschicht hervorkam. Doch so sehr ihn diese Geschichte auch aufgewühlt hatte und er viele, ihm gut vertraute Namen in den Unterlagen fand, so musste er doch den Kopf für den aktuellen Fall wieder freibekommen. Es ließ sich nicht leugnen – der Polizeipräsident war vor seinen Augen erschossen worden, und sein Amtsvorgänger, sein Vater, war ebenfalls bei diesem Attentat anwesend.
Als Faust jetzt das Veranstaltungshaus betrat, das allgemein nur ‚Brünings Saalbau‘ genannt wurde, obwohl der alte Besitzer längst einer Aktiengesellschaft gewichen war, spürte er doch ein nervöses Kribbeln im Nacken. Theo Bachenheimer und Wilhelm Voigt hatten hier ein Operettentheater eingerichtet, das für den Vortrag genutzt wurde.
„Entschuldigung, Herr Kommissar!“
Erstaunt über die ungewöhnliche Anrede drehte Faust sich herum.
Da stand ein breitschultriger, etwas untersetzter Mann mit einem ausgesprochenen Bulldoggengesicht. Er machte den Eindruck eines Mannes, der schon viel in den letzten Jahren durchgemacht hatte, wirkte vorzeitig gealtert und hatte scharfe Linien um seinen Mund, die sonst zu den eher fülligen Formen nicht so recht zu passen schienen.
Faust wusste sofort, dass er diesen Mann kannte, aber er konnte ihn nicht richtig einordnen. Ein verschmutzter, ehemals grauer Kittel hing ihm bis über die Knie der ausgebeulten Hose, die Schuhe waren von grober Art und ebenfalls stark mitgenommen.
„Erinnern Sie sich noch an mich, Herr Faust?“
Bilder schossen ihm durch den Kopf, und plötzlich sah er den Mann wieder vor sich, wie er gedemütigt und gebrochen den Gerichtssaal verließ. Den Kopf wollte er am liebsten tief im Kragen seiner Jacke verschwinden lassen, denn was man ihm vorwarf, bedeutete nach seiner Verurteilung das Ende seiner Dienstzeit.
„Aber ja, natürlich, Inspektor Hörstel! Ich hörte, Sie wären gar nicht mehr in Braunschweig!“
„Naja, Inspektor ...“, nickte der Mann, und etwas wie ein verschämtes Lächeln huschte über sein bulliges Gesicht. „Das ist lange her. Ich bin jetzt hier Hausmeister im Theater und habe einiges mitbekommen, als Ihre Kollegen unmittelbar nach dem Anschlag alles absperrten und die Personalien der Besucher aufnahmen.“
„Mensch, Hörstel! Schön, Sie mal wiederzusehen! Es scheint Ihnen nicht sonderlich gut zu gehen, hat Ihre Gesundheit gelitten, Hörstel? Kann ich etwas für Sie tun?“, erkundigte sich Faust, denn der Mann tat ihm leid.
„Lassen Sie nur, Herr ... Faust. Es ist, wie es ist. Die Zeiten sind hart und wir alle müssen irgendwie sehen, wie wir durchs Leben kommen. Aber bitte, Herr Faust, folgen Sie mir doch einmal. Ich habe da oben etwas entdeckt!“
Damit wies der ehemalige Polizeiinspektor auf die Galerie, die sich über die Bühne spannte.
Faust spürte, wie es in seinem Nacken kribbelte.
Genau dort wollte er sich jetzt ebenfalls umsehen, und er hatte das Gefühl, dass die Entdeckung des ehemaligen Polizisten seine Vermutung bestätigen würde. Hörstel war ein guter Mann, daran erinnerte er sich. Als Faust seinen Dienst in der Zentrale antrat, gab es gerade die skandalöse Geschichte um Kommissar Gehrke und den Inspektor Hörstel. Beide standen schon bei der Affäre 1921 im Verdacht, Mitglieder der verbotenen Organisationen des Stahlhelms oder des Braven Hederich zu sein. Insgesamt wurden seinerzeit vierundfünfzig Beamte, die allesamt Mitglieder im Stahlhelm waren, aus der Polizei entlassen. Hörstel und Gehrke jedoch nicht, man konnte ihnen die Mitgliedschaft nicht nachweisen. Andererseits waren beide tüchtige Kriminalbeamte, die schon eine Reihe von Fahndungserfolgen aufweisen konnten. Dann gab es die Ermittlungen bei den Sprengstoffanschlägen im Juli 1921, bei denen Kommissar Gehrke die ehemalige Kultusministerin aus den Tagen der Revolution, Minna Fasshauser, verhaftete und erklärte, genügend belastendes Material gegen sie in der Hand zu haben. Noch während die Ermittlungen in diesem Fall gegen ihn liefen, sollte es Gehrke gewesen sein, der den Feuerbefehl auf den jungen Tresorknacker gab.
Was aber danach genau geschah, entzog sich der Kenntnis des Polizeiagenten, denn zu dieser Zeit war er unterwegs zu einer Schulung im Sinne der neuen Polizeiordnung, die seine Abteilung vollkommen umkrempeln und neu organisieren sollte.
Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er dem schleichenden Schritt des ehemaligen Inspektors folgte und wenig später vor einer Treppe stand, die hinauf auf die Ebene der Beleuchter führte. Hörstel war hier stehen geblieben, bis Faust aufgeschlossen hatte. Er nickte ihm kurz zu und bestieg dann die aus Metall gefertigte, gerade Treppe, die letztlich hinauf zum Schnürboden führte. Faust betrat die Rampe mit dem Metallgestänge, an dem die schweren Scheinwerfer montiert waren, unmittelbar hinter Hörstel. Der Hausmeister hatte eine Taschenlampe aufgenommen, die hier direkt am Treppenende auf der Beleuchterbrücke stand.
Als er sah, dass Faust unmittelbar hinter ihm stand, gab er ihm ein Handzeichen und ging ein paar Schritte weiter, ehe er den kräftigen Strahl der Taschenlampe auf das Schutzgitter richtete, das an der Bühnenseite zur Sicherheit der hier tätigen Beleuchter montiert war.
Erneut drehte sich der Hausmeister zu dem Polizeiagenten um und richtete das Licht seiner Taschenlampe auf einen Punkt. Mit der anderen Hand deutete er auf die Metallstreben.
„Hier können Sie es deutlich erkennen, Herr Kommissar!“
Faust trat näher heran und sah die frischen, tiefen Spuren, die von irgendeinem Gegenstand oder Werkzeug verursacht wurden. Er nahm dem Hausmeister die Taschenlampe aus der Hand, beugte sich dicht über das Geländer und untersuchte die Kratzer. Dann starrte er verblüfft auf den im Dunkel liegenden Zuschauerraum.
„Können Sie von hier oben das Licht im Zuschauerraum steuern?“
„Ja, der Lichtmeister muss ja im Falle eines Versagens des Schalters im Bühnenraum sichergehen, dass die Lichter wirklich verlöschen. Hier oben gibt es einen weiteren Schalter.“ Hörstel betätigte ihn, und mit einem leisen Klicken gingen im Hintergrund die Lichter an, die den Zuschauern das Auffinden der Plätze erleichtern sollten.
Faust ging etwas in die Knie und visierte über die Kratzerspuren den nunmehr gut erleuchteten Saal an. Dann war er sich seiner Sache sicher, auch Hörstel deutete über das Geländer in den Saal.
„Hier muss das Gewehr montiert gewesen sein, Herr Faust. Ich habe diese Spuren erst heute Vormittag entdeckt und sie noch niemand gezeigt.“
Faust sah in das verkniffene Bulldoggengesicht mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln.
„Was glauben Sie, Hörstel?“
Der Hausmeister zuckte hilflos die Schultern.
„Kommen Sie, Hörstel, Sie waren einmal ein guter Polizist!“
Bei diesen Worten wandte sich der Mann ab, um seine Mimik zu verbergen.
„So gut war ich wohl dann doch nicht!“, antwortete er leise und ging mit schweren Schritten zurück zur Treppe.
6.
Thomas Faust zuckte zusammen, als er gerade den Fuß der Treppe erreicht hatte und ihn eine fröhliche, helle Stimme begrüßte: „Oh, der Herr Polizeiagent ist auch hier! Dann trifft wohl meine Vermutung zu, denke ich!“
„Fräulein Keller – was machen Sie denn hier?“, rief er überrascht aus, als ihm die junge Frau mit lächelnder Miene die Hand zum Gruß entgegenstreckte.
„Nun, ich ermittle, so gut ich das kann. Gibt es etwas Neues?“
Sie trug heute wieder einen Hosenanzug, der jedoch auf ihre Körperformen zugeschnitten war und diese betonte. Ton in Ton in sommerlichen Farben, die an Flieder und Malven erinnerten, den dazu passenden Hut mit aufgeschlagener Krempe, ein atemberaubender Augenaufschlag und – der Polizeiagent schluckte erneut unwillkürlich. Rasch warf er einen Blick zu seinen Kollegen, die ein paar Schritte weiter entfernt von der Treppe standen und so taten, als würden sie das Gespräch nicht mitbekommen. Einer von ihnen war dabei, die Mechanik des Vorhangs auf seine Funktion zu überprüfen, während ein anderer mit einer starken Taschenlampe Schritt für Schritt den Bühnenboden absuchte.
„Hören Sie, Fräulein Keller!“, raunte Faust der jungen Kriminalistin zu. „Ich denke mal, wir beide kommen in ganz große Schwierigkeiten, wenn Sie hier an einem Tatort herumlaufen und so tun, als gehörten Sie zum Ermittlerkreis!“
Jetzt war es an der jungen Frau, den Kriminalbeamten erstaunt anzusehen.
„Aber, Herr Faust! Sie tun ja geradezu so, als wäre das nicht der Fall!“
Irritiert sah Faust sie an und bemerkte einen winzig kleinen, schwarzen Punkt am Rand ihrer Oberlippe, den er fasziniert anstarrte, bevor er antwortete:
„Aber genauso verhält es sich doch auch! Sie gehören nicht zur Polizei, und ihre Visitenkarten, die Sie als Ehrensheriff der Polizei von Chicago ausweisen und zudem die Bezeichnung ‚Detektiv‘ enthalten, berechtigen Sie doch in keinem Fall, uns hier ...“
Mit einer raschen Bewegung hatte Fräulein Dr. Dorothee Keller eine amtlich aussehende Bescheinigung aus ihrer Jackentasche gezogen und reichte sie dem Polizeiagenten.
Faust warf einen kurzen Blick darauf und entdeckte tatsächlich, dass man der jungen Dame aus Amerika eine Legitimation ausgestellt hatte, die sie dazu berechtigte, jederzeit einen Tatort zu besichtigen oder sich aktuelle Auskünfte von einem der Beamten geben zu lassen. Die Unterschrift konnte er allerdings nicht entziffern. Sie mochte noch vom Polizeipräsidenten stammen, oder aber von seinem Stellvertreter, Faust kannte die Handschrift nicht. Mit einem anerkennenden Lächeln faltete er das Papier wieder zusammen und überreichte es mit einer leichten Verbeugung.
„Gratulation, Fräulein Keller. Wer auch immer Ihnen das Dokument ausgestellt haben mag, er meinte es gut mit Ihnen! Ob das nun aber sinnvoll ist, wird sich erst noch zeigen müssen!“
„Pah!“, antwortete das Fräulein im schnippischen Ton und drehte sich auf dem Absatz um. Unmittelbar hinter ihr stand unbeholfen der ehemalige Inspektor und sprang jetzt mit einem plumpen Satz zur Seite, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Die Kriminalistin musterte ihn mit scharfem Blick von Kopf bis Fuß und erkundigte sich dann: „Herr Hörstel, der Hausmeister, nehme ich an? Schön, dass sich damit meine Suche nach Ihnen erübrigt hat.“
„Jawohl, gnädige ... gnädiges Fräulein!“, stammelte der so Angesprochene und verzog das plötzlich glutrot angelaufene Bulldoggengesicht zu einer komisch wirkenden Grimasse. Aufgrund dieser Anrede lachte Fräulein Keller in ihrer unvergleichlichen Art wieder auf und reichte dem Hausmeister ihre schlanke Hand.
„Dorothee Keller, Herr Hörstel, ich bin auf Wunsch allerhöchster Stelle bei der Untersuchung dabei und unterstütze die Braunschweiger Kriminalpolizei.“
„So, ja ...“, stammelte Hörstel verlegen und wechselte rasch einen Blick mit Faust, der ihm zunickte. „Dann wollen wir nochmal gemeinsam hinauf auf die Scheinwerferbrücke, nicht wahr?“
Der ehemalige Inspektor griff an das Geländer und stieg schwerfällig hinauf, wobei er auf jeder Stufe einen seltsamen Laut von sich gab, so, als wäre er bereits nach wenigen Schritten erschöpft und müsse nach Luft ringen. Faust registrierte das, aber die Kriminalistin verzog keine Miene. Sie trat sofort an das Geländer, an dem sich die Halterungen für die Scheinwerfer befanden, und Hörstel wies mit der rechten Hand auf die bestimmte Stelle. Als sie ihre Taschenlampe darauf richtete, erkannten alle die frischen Kratzspuren im Metall. Faust hatte seine zusammengefaltete Lupe herausgezogen und untersuchte den Boden unter dem Geländer.
„Feine Metallspäne. Für mich sieht es so aus, als hätte hier jemand vor Kurzem etwas angeschraubt und wieder entfernt.“
Auch Fräulein Keller hatte eine Lupe in der Hand und betrachtete die Kratzspuren, während Faust schon auf der anderen Seite der Brücke stand und dort den Boden untersuchte. Die Beleuchterbrücke war gerade so breit, dass ein Mann bequem neben den montierten Scheinwerfern bis zur anderen Seite gehen konnte, aber zu dritt wurde es schon etwas unbequem. Als Faust sich unmittelbar hinter dem Fräulein bückte, ließ es sich nicht vermeiden, dass ihre Körper sich berührten, und der Kriminalist wie von einem elektrischen Draht berührt zusammenzuckte. Erstaunt sah er zu ihr hoch, aber sie schien es nicht bemerkt zu haben. Als er sich aufrichtete und etwas auf der flachen Hand hielt, hatte er ihre Aufmerksamkeit wiedergewonnen.
„Eine Staubfluse?“
„Sieht mehr nach abgeriebener Faser eines Fadens aus!“, antwortete Faust.
Ohne zu zögern bückte sich nun auch Fräulein Keller und deutete mit dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe auf die Kante der Metallbrücke, an der noch ein winziger Rest von dem Faden hing.
„Also scheuerte hier ein Seil entlang. Denken Sie auch, was ich annehme?“
Faust antwortete mit einem Lächeln:
„Ich bin mir sicher, dass wir beide das Gleiche vermuten: Hier wurde eine Vorrichtung angeschraubt, die mittels eines Bindfadens in Funktion gesetzt wurde.“
„Danke, Herr Hörstel, das war ein guter Hinweis. Ich bin sicher, es wird eine Belohnung zur Ergreifung des Mörders geben. Ihr Hinweis ist für unsere Arbeit sehr wertvoll, wenn wir den Täter fassen, setze ich mich persönlich für Sie ein, damit Sie einen Teil der Belohnung erhalten! Aber wir sollten uns zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ausführlich über einen alten Fall unterhalten.“
Der ehemalige Inspektor verbeugte sich schwach.
„Danke, Herr Faust. Wir haben nicht viel miteinander zu tun gehabt, aber Sie scheinen mir ein ebenso feiner Kerl zu sein wie Ihr Vater, der alte Polizeipräsident. Ich glaube, mir wäre vieles erspart geblieben, wenn er noch im Dienst wäre!“
Damit ging der Mann zu der Treppe und schritt sie langsam, Stufe für Stufe, wieder hinunter. Faust fiel auf, dass er offenbar Probleme beim Gehen hatte.
„Guten Tag, Herr Präsident!“, vernahm er in diesem Augenblick den Gruß des Hausmeisters und beugte sich erstaunt über das Geländer.
„Herr Präsident!“, rief er dann ebenfalls verwundert aus und eilte die Treppe hinunter, um seinen Vater zu begrüßen.
„Thomas, ist Fräulein Keller bei dir?“
„Ja, aber wieso ...?“
Damit war der alte Herr schon an ihm vorbei und stieg die Treppe mit erstaunlicher Leichtigkeit hinauf. Fast kam es dem Polizeiagenten so vor, als würde sein Vater in Gegenwart der jungen Frau wesentlich jünger und munterer werden. Er blieb jedoch unterhalb der Treppe und sah sich dort noch einmal gründlich mithilfe der Taschenlampe und seiner Lupe um. Schließlich hockte er sich tief auf den Boden, legte die brennende Lampe vor sich und griff erneut in die Tasche seines eleganten Blazers. Mit einer kleinen Pinzette sammelte er etwas vom Boden unterhalb der Treppe auf und legte es in eine dünne Metalldose, einem Zigarettenetui nicht unähnlich. Sein Gesicht zeigte einen höchst zufriedenen Ausdruck, als er auf diese Weise noch ein ganzes Stück zurückgelegt und dabei weitere Kleinigkeiten eingesammelt hatte.
„Was sammelst du dort unten eigentlich ein, Thomas?“, erklang die Stimme seines Vaters von der Treppe herüber, und der Polizeiagent richtete sich auf.
„Beweismaterial, Herr Präsident. Ich bin mir sicher, dass ich auf einer guten Spur bin.“
„So, dann lass uns doch mal bitte hinüber in das Café gehen. Ich möchte etwas mit dem Fräulein und dir besprechen.“
Der Tonfall des ehemaligen Polizeipräsidenten war so bestimmt, dass sein Sohn keinerlei Einwände hatte und nur einen hilflosen Blick zu der jungen Frau schickte, die ihm erneut ein bezauberndes Lächeln schenkte und dann auch die Schultern zuckte.
Gut zu wissen – auch sie hat keine Ahnung, warum uns mein Vater so dringend sprechen möchte‘, dachte sich Thomas Faust, teilte dem uniformierten Beamten am Eingang des Festsaales mit, wo er zu finden sei und folgte den beiden bereits Vorausgegangenen rasch nach.
Auf der anderen Seite des weitläufigen Gebäudes befand sich das Café, das zu dieser Tageszeit bereits erstaunlich gut gefüllt war. Nach dem Vorbild der guten Kaffeehäuser hatte man auch hier die aktuellen Tageszeitungen ausgelegt, und an den zahlreichen, kleinen Tischen saßen viele ältere, distinguiert aussehende Herren, die sich in ihre Lektüre vertieft hatten und von den Eintretenden keine Notiz nahmen.
Der alte Polizeipräsident steuerte auf einen leeren Tisch am Ende des Raumes zu, der in einer kleinen Nische, umgeben von mehreren großen Spiegeln an den Wänden, etwas Abgeschiedenheit versprach.
Sofort eilte ein Ober diensteifrig herbei, nahm ihre Bestellung auf und servierte wenig später die beiden Kaffeespezialitäten und die heiße Schokolade für Dorothee Keller.
Man pflegte hier ganz bewusst die Tradition der Wiener Kaffeehäuser und bot entsprechend auch die typischen Kaffeespezialitäten der Stadt an. Der alte Präsident hatte sich für einen Franziskaner entschieden, ein mit Milch und Sahne verlängerter Mokka, der in einer großen, breiten Tasse serviert wurde. Sein Sohn entschied sich für eine Wiener Melange, die dem Getränk seines Vaters ähnelte, aber statt der Schlagsahne schaumig gequirlte Milch als Abschluss erhielt. Einen Moment lang herrschte noch Schweigen, als Faust senior seine Spezialität genoss und auch sein Sohn behutsam kostete, ob die Melange bereits trinkbereit abgekühlt war. Nur das Fräulein wartete noch, bis ihre Schokolade etwas abgekühlt war. In der Zwischenzeit bot der alte Herr aus seinem Silberetui allen Zigaretten an, und auch Fräulein Keller griff gern zu. Kaum hatten alle den ersten Zug getan und den blauen Rauch über sich gepustet, als sich der alte Herr auf seine unnachahmliche Weise räusperte und schließlich mit der Feststellung begann:
„Die Anarchisten sind zurück.“
„Anarchia est, quando in civitate nullus senatus, judicia, leges. Majus est malum, quam tyrannis – Anarchie existiert, wenn es keinen Senat, kein Recht und kein Gesetz gibt. Sie ist von größerem Übel als die Tyrannei“, erwiderte der Polizeiagent und erhielt dafür einen erstaunten Blick aus den rehbraunen Augen seines schönen Gegenübers.
„Sehr richtig, mein Sohn. Und ich meine auch, dass du die Äußerungen des anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam kennst, dessen Irrmeinungen erst kürzlich in einem hiesigen Vortrag verbreitet wurden. Ich zitiere aus dem Gedächtnis: ‚Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie.‘ Und diesen Menschen ist nun, wie wir schon in den Jahren 1921 und 1922 erfahren mussten, nichts heilig.“
Thomas Faust junior leerte seine Tasse aus und beugte sich etwas vor, während ihn Dorothee Keller aufmerksam musterte.
„Herr Präsident, geht es möglicherweise um die Anwesenheit eines gewissen Ferdinand Lücke in Braunschweig?“
Jetzt sah ihn der alte Herr erstaunt an.
„Du weißt davon?“
Thomas E. Faust junior lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück.
„Als er den Saal verließ, wurde er natürlich kontrolliert. Der Herr hat im Preußischen Hof Quartier genommen, oder, wenn du so willst, im Hotel de Prusse am Damm. Herr Breschke war so freundlich, mir auch seine Zimmernummer mitzuteilen.“
Der alte Präsident richtete sich kerzengerade auf und antwortete:
„Respekt, Sohn, du hast gut gearbeitet. Ja, genau den Herrn meinte ich. Verrätst du mir auch, wie du auf ihn gekommen bist?“
„Er war bei dem Vortrag von Fräulein Keller anwesend, saß etwas seitlich in der dritten oder vierten Reihe. Darf ich fragen, warum du an diesem Fall so regen Anteil nimmst?“
Sein Vater drückte den Zigarettenrest im Aschenbecher aus und gab dem Ober ein Zeichen. „Was möchten Sie trinken, Fräulein Dr. Keller?“, erkundigte er sich förmlich und fügte hinzu: „Für mich und meinen Sohn bitte einen Asbach!“
„Besten Dank, ich bin mit meiner Schokolade zufrieden!“, lautete die Antwort, und kaum war der dienstbare Geist mit den beiden gut eingeschenkten Gläsern erschienen und dann wieder diskret in den Hintergrund zurückgekehrt, antwortete Faust senior seinem Sohn:
„Das dürfte doch auf der Hand liegen, Thomas. Ich möchte in jedem Falle erfahren, wer meinen Nachfolger auf so seltsame Weise ermordet hat.“
Er hob das Glas und leerte es in einem Zug.
„Das verstehe ich, aber wieso – seltsame Weise?“
Der alte Herr erhob sich und verbeugte sich vor der jungen Frau.
„Nun, ich denke mal, dass es schon einer großen Frechheit bedarf, einen solchen Anschlag während eines Vortrags zu machen, bei dem die Polizei vor Ort ist. Und ich nehme an, dass der Täter ausreichend Zeit hatte, um sein Verbrechen so zu tarnen, dass auch nicht der geringste Verdacht auf ihn fallen kann.“
„Du meinst, deshalb hat Lücke sich so auffallend weit nach vorn gesetzt?“, rief ihm sein Sohn nach, doch der alte Präsident reagierte nicht mehr, sondern eilte bereits zum Ausgang. Beim Ober verhielt er kurz, zog seine Geldbörse, und war gleich darauf aus dem Café auf die Straße getreten. Dort verhielt er erneut, rückte seinen Zylinder zurecht, warf einen kritischen Blick auf einen Brauereiwagen, der von den schwerfälligen, großen Pferden gezogen an ihm vorüber rumpelte, und überquerte dann die Straße, um wieder einmal den Damm hinunter und zum Kohlmarkt zu gehen.
Am Hotel de Prusse ging er jedoch vorüber, ohne auch nur einen Blick zum Eingang zu werfen. Dabei pfiff er leise eine Melodie vor sich hin und war offenbar bester Laune.