Kitabı oku: «Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis», sayfa 10
Behutsam führten beide nun ihre gesüßten Tassen mit der heißen Flüssigkeit an die Lippen und probierten.
„Ja, Ihr Vater ist ja auch der Grund für diese Akte. Oder besser gesagt, die Ursache“, sagte die Gastgeberin und stellte ihre Tasse auf den Tisch. „Zigarette?“
Erstaunt sah sich Faust um.
„Hier in Ihrer Bibliothek?“
„Warum nicht?“, lachte Dorothee Keller. „Die meisten Bücher stammen aus dem Besitz meines Vaters, und der war ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher. Ich glaube kaum, dass der Überseetransport in den Kisten alle Bücher vom Rauchgeruch befreit hat – also, nur zugegriffen, Herr Faust. Hier habe ich die Sorte Lord, aber die wird Ihnen zu leicht sein. Ich selbst bevorzuge allerdings auch eher die englische Sorte Goldflake, das ist für mich Tabakgeschmack, wie man ihn auch in Amerika liebt.“
Mit diesen Worten zog sie eine der langen Zigaretten aus einer runden Dose, nahm eine Zigarettenspitze und entzündete sie mit einem Streichholz, dass sie einfach an der Sohle ihrer eleganten Schuhe anriss.
Faust sah es und hatte das Bild eines Raureiters aus dem amerikanischen Westen vor Augen, wie er es so herrlich in den Romanen um den legendären Buffalo Bill gelesen hatte, die er vor vielen Jahren in einer Kiste auf dem Dachboden seines Elternhauses gefunden hatte. Diese Schmöker mit ihren grell-bunten Titelseiten gehörten sicher nicht zu der Art Literatur, die sein Vater im Alter liebte – aber der junge Faust las sie heimlich in jeder freien Stunde mit glühenden Ohren auf dem Dachboden, wo ihn niemand störte.
„Durch einen Zufall erfuhr ich in Chicago von einem jungen Deutschen, der sich einer der Banden angeschlossen und aufgrund seiner Brutalität bald einen Namen gemacht hatte“, erklärte Fräulein Keller, lehnte sich zurück und schlug die Hosenbeine übereinander. „Er hatte den Namen Wild Bill von den anderen bekommen, und bei meinen Recherchen erfuhr ich mehr. Der Mann hieß Wilhelm Müller und stammte aus Braunschweig, wo er für einige sehr brutale Überfälle von der Polizei gestellt wurde.“
„Gestellt?“, echote Faust. „Die letzte Zeitungsüberschrift lautet doch: Jugendlicher Verbrecher starb im Kugelhagel! Moment, hier habe ich es gleich wieder!“
Der Polizeiagent hatte die Mappe wieder aufgenommen, blätterte kurz und hielt schließlich den Zeitungsausschnitt vom 3.9.1920 in der Hand. „Bei einem dreisten Einbruch in das Kaufhaus Frank wurde ein Verbrecher gestellt. Obwohl die Lage hoffnungslos war, gab der Mann nicht auf und eröffnete bei seiner Flucht das Feuer auf Polizei und Reichswehr. Er starb im Kugelhagel der Sicherheitskräfte ...“, las er den kurzen Bericht vor. „Und am 4.9.1920 wurde diese Akte geschlossen. Der Mann war tot.“
Dorothee Keller hatte sich erhoben und ging erneut zu einem der Regale und zog dort ein Buch hervor, in dem sie ebenfalls kurz blätterte.
„Schauen Sie doch bitte mal in der Akte nach dem Foto des Mannes. Wilhelm Müller war ein ausgesprochen gutaussehender, junger Mann. Wenn ich mich nicht völlig irre, wurde er selbst in einem Polizeibericht mit dem Schauspieler Harry Piel verglichen. Haben Sie das Foto?“
Thomas Faust hatte gleich mehrere Bilder des Mannes. Eines stammte offenbar von einem Polizeifotografen und diente der Erkennung. Es gehörte zu einem Bogen mit weiteren Daten Müllers, die man nach der klassischen Vermessung nach Bertillon angefertigt hatte. Faust legte das einzelne Foto neben das in einer Zeitung abgedruckte und blickte gespannt auf das Buch, das Fräulein Keller nun aufgeschlagen danebenlegte. In einem Artikel über die Verbrechen in Chicago seit Beginn der Prohibition 1920 wurden verschiedene Bandenmitglieder vorgestellt, die beim Alkoholschmuggel oder im Zusammenhang mit illegalem Ausschank von der Polizei gestellt wurden.
Ein Finger mit einem sehr gepflegten und dunkelrot lackierten Fingernagel deutete auf ein gut erkennbares Foto, das einen jungen Mann zeigte. Er trug keinen Hut, aber wohl ein ordentliches Hemd und eine Krawatte dazu, die von einer auffällig verzierten Nadel gehalten wurde.
„Unglaublich!“, rief der Polizeiagent erstaunt aus. „Aber wie ist das möglich?“
„Identisch oder nur ähnlich, Herr Polizeiagent?“
Irritiert blickte er auf, senkte aber rasch wieder den Blick, als er erneut in die unergründlichen, blauen Augen sah.
„Kann ich bitte eine Lupe haben?“
Schweigend zog seine Gastgeberin eine Schublade auf und reichte ihm ein starkes Vergrößerungsglas. Sehr sorgfältig untersuchte Faust schweigend beide Fotos, verglich insbesondere die Augenpartie und den Mund bei den dargestellten Personen und lehnte sich schließlich mit einem Seufzer zurück.
„Identisch, Euer Ehren!“
Fräulein Keller ließ erneut ihr helles Lachen erklingen, und Faust spürte bei diesen Tönen einen angenehmen Schauer. Himmel hilf! Noch eine Stunde allein mit dieser Frau in diesem Raum und ich kann für nichts mehr garantieren! Diese Augen, ihre Bewegungen, dazu dieses Parfum ... Faust, reiß dich zusammen!
„Danke, Sie bestätigen nur, was ich inzwischen mit absoluter Sicherheit beweisen kann.“
„Beweisen? Nach so vielen Jahren? Ich habe keine Ahnung, was damals passiert ist und werde mir gern heute Nacht diese Akte gründlich durchlesen. Aber – Beweise, Fräulein Keller?“
Anstelle einer Antwort deutete sie nur aus dem Fenster. Faust trat neben sie, hütete sich aber, zu dicht an sie heranzutreten. Doch auch so hatte der Duft ihres Parfums auf ihn eine geradezu betäubende Wirkung. Erst langsam verstand er, was sie meinte, als sie noch immer mit dem ausgestreckten Finger auf den roten Sportwagen wies, der dort glänzend in der Sonne vor dem Haus stand.
„Der Sportwagen? Was ist damit?“
„Er gehörte einst Wilhelm Müller alias Wild Bill, Herr Faust!“
4.
Thomas Faust junior saß regungslos im Dunkeln und starrte aus dem Fenster.
Vor nunmehr fast zwei Stunden hatte Fräulein Keller ihn zurückgefahren und vor seiner Wohnung abgesetzt. Seit dieser Zeit saß er auf dem Stuhl, starrte vor sich hin, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, und bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Aber das blieb schwierig, denn noch immer hatte er den Geruch ihres Parfums in der Nase. Außerdem musste er sich eingestehen, dass er hoffnungslos verliebt war. Und wenn er ganz ehrlich sein wollte, war das bereits im ersten Augenblick ihrer Begegnung geschehen. Nur wollte er es sich da noch nicht eingestehen. Aber jetzt, in der Einsamkeit seiner Wohnung, konnte er an nichts anderes denken als an ihr Gesicht, das an diesem Tag mehrfach auf eine so gefährliche Weise seinem nahe gekommen war.
Du bist ein Esel, Faust! Kannst du dich nicht mal auf deinen aktuellen Fall konzentrieren? Dein Polizeipräsident wurde vor deinen Augen erschossen, und du hast trotz der zahlreichen Verhöre an diesem Tag nicht den Hauch einer Spur zum möglichen Täter.
Aus seinen Grübeleien schreckte ihn schließlich das laute Klingeln seines Telefons. Er sprang auf, griff zum Hörer und – zuckte zusammen.
„Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen, Herr Faust. Sind Sie bereit? Stichwort Friesenstraße. Vergessen Sie Ihre Waffe nicht, es könnte sein, dass wir sie heute Nacht brauchen!“
„Fräulein Keller ...“, stammelte er.
„Ich verlasse mich auf Sie!“
„Selbstverständlich bin ich dabei. Ich kann Sie ja schlecht allein gehen lassen!“, versicherte der Polizeiagent rasch und hörte noch das helle Lachen, bevor der Hörer wieder aufgelegt wurde.
Faust behielt seinen Hörer noch in der Hand.
Was für eine verrückte Idee, in der Nacht in diese Gegend zu gehen! Schon am Tag war es in der Friesenstraße für einen Polizisten nicht sonderlich ratsam, sich dort zu zeigen. Und in der Dunkelheit? In Begleitung einer ... Dame?
Wütend warf er den Hörer auf die Gabel, ging zu seinem Stahlschrank und nahm den Revolver heraus, kontrollierte die Trommel und schob ihn in den Hosenbund. Aus einer Schachtel kippte er sich eine Handvoll Patronen heraus, die er achtlos in die äußere Jackentasche fallen ließ.
Die halbe Stunde war noch nicht ganz vorüber, als er die Lichter eines Autos vor dem Haus sah, das eben direkt vor seiner Tür anhielt. Eine Straßenlaterne warf ihr Licht auf das amerikanische Verdeck, das jetzt allerdings verschlossen war. Faust klopfte noch einmal auf seine Taschen, wo sich auf der einen Seite die Patronen befanden, auf der anderen Seite der Schlagring, den er einst einem der Schläger in einer Gaststätte abgenommen hatte.
Mit einem tiefen Seufzer warf er noch einen Blick in den Spiegel auf dem Flur, stülpte sich seinen Hut auf und schob ihn leicht auf die Seite.
„Verwegen, Herr Polizeiagent!“, murmelte er dazu und war im nächsten Moment auf der Straße. ‚Aber auf was habe ich mich hier eigentlich eingelassen? Diese unglaubliche Frau kommt mit einer fast zehn Jahre alten Akte zu mir, und ich habe einen Fall von höchster Brisanz aufzuklären. Gut, diese nächtliche Fahrt muss ich mit ihr gemeinsam machen, sie ist schließlich eine Frau. Aber dann muss ich ihr auch unmissverständlich klarmachen, wie es hier weitergehen kann ...‘
„Die ausgebeulte Jackentasche weist auf schwere Bewaffnung hin!“, begrüßte Fräulein Keller ihn.
„Das stimmt zwar, aber es ist nur meine zusätzliche Ausrüstung. Ich besitze seit einiger Zeit einen .45 Colt New Service Revolver Model 1909, und bin sehr zufrieden mit ihm. Aber die Waffe ist doch für eine Jackentasche zu groß und zu schwer, deshalb trage ich sie im Hosenbund.“
Während die Kriminalistin den Wagen startete und einen Gang einlegte, erwiderte sie: „Ich bin erstaunt, dass Sie eine amerikanische Waffe besitzen. In meinem Fall ist es ein Colt .38 Special Police Revolver, wie er seit 1920 gefertigt und von der Polizei in Chicago verwendet wird.“
Die junge Frau griff unter ihren Fahrersitz und präsentierte stolz die selbst im dunklen Auto noch chromblitzende Waffe.
„Vorsicht!“, stieß Faust aus und ließ ein langgezogenes Stöhnen folgen. Dorothee Keller hatte rasch reagiert, denn plötzlich erfassten die Scheinwerfer des Loreleys einen dunklen Schemen, der über die Fahrbahn taumelte. Der kleine Sportwagen machte einen eleganten Schlenker und war gleich darauf wieder in der Spur.
„Kein Grund zur Aufregung, ich habe die Situation vollkommen im Griff!“, sagte sie nur und sah lächelnd auf die Straße, die von den Scheinwerfern nicht vollständig ausgeleuchtet wurde.
„Sie haben die Waffe vernickeln lassen?“, erwiderte Faust, noch ein wenig verstört von dem Fahrmanöver. Besorgt hatte er sich umgedreht, um zu sehen, ob es der vermutlich angetrunkene Fußgänger rechtzeitig auf die andere Straßenseite geschafft hatte, denn nicht weit hinter ihnen waren die Lichter eines anderen Automobils aufgetaucht.
„Ja, gefällt sie Ihnen?“ Fräulein Keller hatte ihm den Revolver mit einer grazilen Handbewegung hinübergereicht, die nichts von dem Gewicht der Waffe verriet.
Faust war erstaunt, dass der Colt doch einiges an Gewicht hatte, aber sehr gut in der Hand lag.
„Ich hatte immer geglaubt, dass dieses Modell mit einem langen Lauf produziert wurde?“
„Das wurde von John Henry Fitzgerald überarbeitet, die Variante hieß Fitz Special und war der Vorläufer für diese Polizeiwaffe.“
„Die natürlich ein Sheriff von Chicago trägt!“, setzte Faust grinsend hinzu.
Sehr abrupt hielt die Fahrerin den Loreley plötzlich an und stellte den Motor und die Scheinwerfer ab. In das leise Ticken des sich abkühlenden Motors sagte sie dann, mit einem Handzeichen auf die fast vollkommen im Dunkeln vor ihnen liegenden Straße: „Auf geht’s, Herr Polizeiagent! Gehrke wohnt in einem Hinterhaus der Nummer fünf. Eigentlich war es wohl noch vor nicht langer Zeit ein Waschhaus, aber dann erlaubte man ihm, dort zu wohnen.“
Beide schlossen leise ihre Türen und Faust musste sich beeilen, mit der jungen Frau Schritt zu halten. Kaum hatten sie die Friesenstraße betreten, schlug ihnen eine Geruchsmischung entgegen, wie sie häufig in den Arbeitervierteln vorherrschte. Faust kannte das von seinen früheren Einsätzen, musste aber schon nach kurzer Zeit durch den geöffneten Mund atmen, weil ihn der Geruch von abgestandenem Essen, ungewaschener Kleidung, überquellenden Müllbehältern und dazu von billigem Alkohol und kaltem Zigarettenrauch in der Nase kribbelte. Um ein verräterisches Niesen zu vermeiden, presste er die Nasenflügel mit zwei Fingern fest zusammen und wartete ab, bis der Niesreiz abgeklungen war. Verwundert drehte die Kriminalistin sich zu ihm um, denn Faust war eben versehentlich gegen eine leere Konservendose getreten, die scheppernd über das Kopfsteinpflaster rollte.
„Wir könnten auch laut rufen, dass die Polizei nur ein paar Fragen hat!“, giftete sie ihn an, aber Faust antwortete nicht, deutete auf ein verwittertes, kleines Emailleschild, auf dem gerade noch die Hausnummer zu erahnen war. Etliche abgeplatzte Stückchen hatten die geschwungene Zahl fast verschwinden lassen.
Der Eingang lag vollkommen im Dunkeln, die Umrisse des Waschhauses waren kaum zu erahnen.
Die beiden blieben lauschend stehen.
Irgendwo keifte eine Frauenstimme in den höchsten Tönen im Vorderhaus, eine Tür fiel krachend ins Schloss, dann herrschte wieder Ruhe.
Faust schritt über den dunklen Weg am Hauseingang vorbei. Hier stand die Tür weit offen, und als er kurz mit seiner Taschenlampe hinüberleuchtete, erkannte er Berge von Müll im Flur. Das kurze Aufblitzen reichte zur Orientierung aus. Sie standen auf dem Hinterhof, der ein paar verbogene Teppichstangen, weiteren Müll und in der hinteren Ecke einen Eingang zu einem Garten aufwies. Der Polizeiagent schaltete die Taschenlampe erneut ein. Das Gartentor hing schief in den Angeln, dahinter wucherten irgendwelche Obstbüsche wild durcheinander. Daneben befanden sich drei windschiefe Plumpsklos, die dem Geruch nach zu urteilen noch immer benutzt wurden.
Das alte Waschhaus stand dunkel auf der rechten Hofseite. Die Tür machte einen erstaunlich festen Eindruck, das daneben befindliche Fenster war mit einem stabilen Laden verschlossen. Im Obergeschoss gab es keine Fensterläden.
Für einen Moment gingen Fausts Gedanken zurück zum erst wenige Stunden zurückliegenden Gespräch in der Villa des Fräuleins.
Dorothee Keller hatte Faust in ihrer Bibliothek über das Ergebnis ihrer bisherigen Recherche berichtet. Danach war Kommissar Gehrke, einer der beiden Ermittler im Fall ‚Wilhelm Müller‘, im Zusammenhang mit Sprengstoffanschlägen im Juli 1921 und anderen Vorwürfen unehrenhaft entlassen worden. Angeblich sollte er damals Beweise unterschlagen haben, weil er mit den Verdächtigen sympathisierte. Im Zuge der damaligen Untersuchungen wurde eine Dienstfahrt eines Polizeioffiziers näher untersucht und dabei festgestellt, dass es sich um das Freizeitvergnügen einer kleinen Gruppe handelte, die den Dienstwagen zu einer Reise nach Dresden nutzte und bei der alkoholträchtigen Rückfahrt in Melverode einen Hund überfahren hatte.
Das Ergebnis der internen Untersuchungen brachte auch Kommissar Gehrke ins Licht der Öffentlichkeit, einige unangenehme Dinge wurden in der Presse breitgetreten, und gipfelten in der Anschuldigung, dass Gehrke damals den Befehl gegeben hatte, Wilhelm Müller in jedem Fall zu erschießen, wenn er das Kaufhaus verlassen wollte, in dem er den Geldschrank ausgeraubt hatte. Auch eine Geisel sollte Müller bei sich gehabt haben, die Tochter eines bekannten Braunschweiger Kaufmanns. Später stellte es sich heraus, dass der größte Teil der Beute aus dem Geldschrank verschwunden war, und wieder geriet Gehrke unter Verdacht, sich an der Einbruchsbeute bereichert zu haben.
„Wenn Gehrke damals wirklich das Geld an sich genommen hat – wieso lebt er dann in einem Waschhaus in der Friesenstraße?“, erkundigte Faust sich, nachdem seine Gastgeberin schwieg.
„Das möchte ich gern aufklären, aber Gehrke kann sich dazu nicht mehr äußern. Er hat einen Hirnschlag erlitten und liegt seit mehreren Wochen im Elisabeth-Krankenhaus. So weit bin ich bereits gekommen, aber ich verspreche mir von einer Untersuchung seiner Wohnung noch weitere Hinweise. Und der andere Polizist, dieser Hörstel, ist aus Braunschweig verschwunden. Der zuständige Polizeipräsident war Erich Bertram – man munkelte einiges über die Rolle, die er in dem Fall gespielt haben soll. Eines ist jedenfalls aus den Akten zu entnehmen: Er hat dafür gesorgt, dass die Geliebte Müllers, eine gewisse Elfie Bomfeld, nicht weiter vernommen wurde. Ihr Anwalt war ein Dr. Eckebrecht, der Mittel und Wege fand, sie über seine Beziehungen zum Polizeipräsidenten von jeglichem Verdacht reinzuwaschen.“
„Fräulein Keller, Sie haben doch eben nicht gesagt, dass Sie in das Haus einbrechen wollen, oder?“, antwortete Faust belustigt.
Sie beugte sich in ihrem Sessel nur leicht nach vorn und schenkte ihm einen herausfordernden Blick, sodass Faust erneut spürte, wie trocken sein Hals gerade wurde.
„Noch einen Mocca, Herr Polizeiagent?“
„Ein Glas Wasser würde mir vollkommen ausreichen.“
„Heute Nacht ist es mondlos und wolkig. Kann ich auf Sie zählen?“
Das war nun der Grund für seinen nächtlichen Streifzug. Hier stand er auf einem Hinterhof und war wirklich dabei, heimlich in das verschlossene Haus eines ehemaligen Kriminalbeamten einzudringen.
Wirklich? Bist du verrückt genug, der Kleinen dabei behilflich zu sein?
Aber diesen Gedanken verdrängte er rasch, denn eben hatte Fräulein Keller etwas aus ihrer Hosentasche gezogen und beugte sich über das Türschloss.
„Ein Dietrich?“, flüsterte er und erhielt nur die kurze Antwort: „Natürlich, der Schlüssel fehlt leider!“
Faust sah sich in der Dunkelheit erneut um und beschloss, sich so zu stellen, dass niemand, der zufällig auf der Straße vorüberging, etwas von der Tätigkeit des Fräuleins bemerken konnte. Ein leises Knacken zeigte ihren Erfolg an, und vorsichtig schob sie die Tür nach innen auf.
Dann waren sie in dem kleinen Haus, in dem sie modriger Geruch empfing, vermischt mit irgendwelchen Resten von verwendeten Waschmitteln. Er hörte, wie die junge Frau einen unterdrückten Schrei ausstieß und ließ besorgt die Taschenlampe aufblitzen.
„Schon gut!“, sagte sie leise. „Ich bin mit dem Gesicht in ein Spinnennetz geraten. Aber egal, hier unten steht nur ein wackliger Tisch und ein Stuhl, wir nehmen die Treppe nach oben.“ Auch Fräulein Keller hatte eine kleine Taschenlampe in der Hand und leuchtete den unteren Raum aus.
Faust hatte sich beeilt, die Tür hinter ihnen wieder zu schließen und folgte ihr die ausgetretenen und ziemlich laut knarrenden Stufen in das obere Geschoss hinauf.
In diesem Raum befand sich ein Bett, das so zerwühlt, wie es verlassen wurde, seit dem Abtransport des Kranken geblieben war. Am liebsten hätte Faust eines der Fenster aufgerissen, denn hier roch es sehr unangenehm nach den Ausdünstungen eines Menschen, der nicht sonderlich auf seine Körperpflege achtete.
Ein schmaler Schrank, dessen Türen offen standen, eine kleine Kommode und ein weiterer Stuhl vervollständigten hier das spärliche Mobiliar, und rasch war der Inhalt des Schrankes abgeleuchtet. Ein zerdrückter, alter Hut, ein zerschlissenes Jackett, Hosenträger, eine Krawatte – mehr war hier nicht zu finden, und Faust bückte sich, um unter den Schrank zu leuchten. Außer dicken Staubmäusen und Spinnenweben fand sich dort nichts.
Fräulein Keller stieß ihn leicht an und hielt den Strahl ihrer Taschenlampe auf die Decke gerichtet. Hier war der Umriss einer Klappe mit Griff zu erkennen, die auf den Boden führen musste.
„Still – was war das?“, raunte Faust. Er war der Meinung, das Knarren der Haustür vernommen zu haben, aber es blieb ruhig im Haus.
„Mit dem Stuhl könnte es klappen!“, sagte sie und griff schon nach dem nicht sonderlich stabil aussehenden Möbelstück.
„Das mache ich wohl besser!“, antwortete Faust, stieg auf die Stuhlfläche und griff zum Hebel. Mit einem lauten Knarren ließ sie sich öffnen, und Faust erhielt einen Schauer aus kleinen Mörtelteilchen und anderem Dreck direkt ins Gesicht. Er wischte sich mit dem Ärmel darüber und griff nach dem Rand. Was ihm das Fräulein nachrief, verstand er nicht, war gleich darauf auf dem Boden und ließ die Taschenlampe wieder aufleuchten. Hier war alles mit einer dicken Staubschicht bedeckt, dazu die Mörtelstücke, die sich wohl von den Dachziegeln gelöst hatten. Aber unmittelbar vor ihm entdeckte er einen dunklen, länglichen Gegenstand, den er rasch abtastete. Ein einfacher Koffer aus verstärkter Pappe, mit Stoff überzogen. Faust hatte keine Mühe, die Schlösser zu öffnen, klappte den von der Feuchtigkeit wellig gewordenen Deckel zurück und ließ den Lichtkegel über den Inhalt wandern. Er erkannte zunächst einmal einige Lagen Zeitungen, die er behutsam mit einem Finger anhob. Ein dicker, großer Umschlag lag darunter, dann fühlte er einen großen Gegenstand, der den gesamten Kofferboden bedeckte. Noch ehe er ihn näher untersuchen konnte, vernahm er einen Laut unter sich und eilte zur Bodenluke zurück.
„Was schnüffelst du hier herum, Täubchen?“, rief eine tiefe Männerstimme. Faust konnte jedoch nicht erkennen, wo der Mann stand, aber die Kriminalistin rief beherzt aus: „Keinen Schritt weiter, ich bin bewaffnet! Legen Sie den Knüppel weg, oder ...“
Es gab einen scheppernden Laut, gefolgt von einem Schmerzenslaut, und höhnisch antwortete der Mann: „Du hast dir ja mächtig viel vorgenommen, Kleines, aber so wird das nichts mit uns beiden. Wir sind hier vollkommen unbeobachtet und niemand wird dich schreien hören. Aber glaube mir, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dich nach einer Wiederholung sehen!“
Endlich bewegte der Mann sich ein paar Schritte in dem kleinen Raum weiter, und jetzt stand er genau unter der Luke. Ohne zu zögern, sprang Faust hinunter und prallte mit dem Angreifer zusammen. Beide gingen zu Boden, aber noch ehe der andere zur Gegenwehr kam, hatte ihm der Polizeiagent einen kräftigen Boxhieb auf das Kinn verabreicht. Der Mann kippte nach hinten, und besorgt drehte Faust sich zur Seite, von der eben ein Geräusch an sein Ohr drang, das sich wie das heftige Schnappen nach Luft anhörte.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, ich wurde überrascht, als ich unter dem Bett suchte. Der Bursche muss sich gut auskennen, denn er hat sich vollkommen geräuschlos über die knarrende Treppe angeschlichen.“
„Ich habe einen Koffer auf dem Dachboden gefunden, der mir sehr interessant erscheint. Bin gleich wieder zurück!“, erklärte Faust, leuchtete noch einmal den ohnmächtigen Angreifer an, schob den umgekippten Stuhl wieder unter die Bodenluke und hangelte sich hinauf. Erst jetzt, als er den Koffer zu sich heranzog, bemerkte er dessen ungewöhnliches Gewicht.
Etwas mehr als ein gewöhnlicher Umschlag muss schon darin sein!, dachte er sich, als er den Koffer zur Öffnung zog, dann mit den Füßen voraus sich hinunterließ und glücklich wieder auf dem Stuhl stand, um schließlich den Koffer herunterzuziehen. Meine Güte – wenn das kein Blei ist, hat der Kommissar wohl Goldbarren darin versteckt, schoss es ihm durch den Kopf, als der Stuhl gefährlich unter dem Gewicht schwankte. Im nächsten Augenblick verlor er den Halt, der Stuhl kippte um und krachend landete der Koffer auf dem Boden und verfehlte nur um ein Haar dabei das Fräulein.
„Sehr stürmisch, Herr Faust, aber jetzt sollten wir machen, dass wir hier verschwinden – den Lärm hat man bis ins vierte Stockwerk des Vorderhauses gehört.“
Sie stand schon an der Treppe und leuchtete hinunter. Aber niemand war dem anderen Mann gefolgt, und die beiden beeilten sich, aus dem Waschhaus zu gelangen. Auch der Hof lag noch immer im Dunkeln, aber als Faust den Koffer mit beiden Armen anhob und an die Brust presste, ging über ihnen ein Fenster auf und eine Frauenstimme rief herunter:
„Bist du bald mal wieder hier oben, August? Es kann doch nicht so lange mit deinem Scheißen dauern, verflucht noch mal!“
Die beiden drückten sich an die Hauswand und eilten auf die Straße, erreichten unbehelligt das Auto, und Faust hatte seine liebe Not, den unförmigen und schweren Koffer auf die hinteren Sitze zu bugsieren, während Fräulein Keller den Motor startete. Er saß noch nicht richtig auf seinem Sitz, als der Loreley einen Satz nach vorn machte und ohne eingeschaltetes Scheinwerferlicht davonjagte.
„Können wir bitte zuerst bei mir vorbeifahren?“
„Warum? Ich habe in meinem Haus alle Möglichkeiten, den Kofferinhalt gründlich zu untersuchen und auch fotografisch festzuhalten!“
„Ich würde gern mein Badezimmer aufsuchen und den Dreck und Gestank loswerden!“
Dorothee Keller lachte fröhlich auf und schaltete die Scheinwerfer an, als sie über die Ehrenbrechtstraße zum Theater lenkte.
„Also, ein Badezimmer habe ich auch. Wir wollen doch diese Nacht für unsere Arbeit nutzen, Herr Polizeiagent, oder haben Sie andere Pläne?“
Diese in Fausts Ohren etwas zweideutigen Worte wurden wieder von ihrem Lachen begleitet, und er schwieg, mit sich selbst und seinem Verhalten nicht im Reinen.