Kitabı oku: «Die Welt ohne Hunger», sayfa 3
Bereits um fünf Uhr hatte der Draht das Unglück in die Hauptstadt gemeldet. Die Morgenausgaben der Zeitungen brachten fett gedruckte Titelblätter. Und jetzt – neun Uhr vormittag – staute sich in der Halle von Victoria eine erregte und neugierige Menge. Verwandte und Freunde der Reisenden (man hatte die Namen der Toten und Verletzten noch nicht melden können), mühsam beherrschte Menschen, Nichtstuer, Schreiber, die auf dem Wege zum Bureau eine kleine Frühstückssensation aufschnappen wollten, Reporter, Photographen. Sie stürzten sich auf den Zug, als müßten sie ihn verschlingen, sie kletterten auf die Plattformen … unterdrücktes Aufschluchzen, Freudenschreie … die Photographen knipsten, die Redaktionsautos fuhren davon.
Bell half seiner Reisegefährtin auf den Bahnsteig. Noch einen Augenblick hielt er eine kleine, weiße Hand in der seinen – dann drehte er sich unvermittelt herum, wie jemand, der nach einer traumhaften Luftfahrt gelandet ist und merkt, daß er wieder auf nüchterner Erde steht.
Die junge Dame aber flog von seiner Seite, einem Herrn entgegen und an die Brust, der – elegant und massiv – die Umstehenden um einen Kopf überragte. Gleich darauf standen beide vor Bell – er hörte, wie sie »Papa« sagte, und er murmelte seinen Namen – der Herr sprach einige Worte … er hieß C. W. Graham … ja, und er sei Bell zu außerordentlichem Dank verpflichtet, da seine Tochter … Bell dachte, daß er noch nie einen so imponierenden Kopf gesehen habe – und die junge Dame reichte ihm eine Karte und forderte ihn auf, sie nachmittags zu besuchen – »ganz bestimmt, nicht wahr?«
Als der Tumult schon lange aus dem Bahnhof geebbt war, stand Bell noch immer neben dem Zug und drehte eine kleine, bedruckte Karte zwischen den Händen.
Viertes Kapitel
Das weite Viereck des Trafalgar Square dröhnte von jagenden Rädern. Es war um die Mittagsstunde; die Zeit, in der die Armeen von Schreibern, Verkäufern und Schalterbeamten aller Art sich aus den Banken und Büros ergießen. Der Verkehr am Strand, von Charing Cross und Leicester Square flutete in das von Hast und Geschäftigkeit schallende Viereck und brandete um den Sockel der Nelson-Säule.
Auf einer der kleinen Straßeninseln, an der Mündung des Strand, stand Bell mit ermüdeten Augen. Er war den ganzen Vormittag durch London gegangen, ohne ein bestimmtes Ziel. Er schob sich zwischen die Mauern angehaltener Wagen und ließ sich vor den Portalen der Geschäftshäuser drängen. Er kreuzte an den gefährlichsten Stellen über die Fahrdämme, mit der blinden Unbekümmertheit eines Mondsüchtigen. Und jetzt war er auf dieser Insel gelandet, die nicht mehr als einige Schritte breit war und doch so sicher und unberührbar lag inmitten des ewig vorwärts schiebenden Chaos. Die ermattende Reaktion, die Bell in der Halle von Victoria überkommen hatte, hielt noch an. Er bemühte sich nicht, zurückzudenken; aber aus dem Lärmen der Straße sprang ihm der eine oder andere Ton entgegen, der die Katastrophe der Nacht entfernt wieder aufleben ließ. Er war in einem Rausch unbeherrschter Passivität, wie er da auf dem erhöhten Platz hielt und den Verkehr sich mahlen ließ. Allmählich schlugen die Geräusche ineinander, wurden immer gleichförmiger, statt rhythmisch – so schien es ihm –, und wie er sich umwandte und überall das gleiche treibende Gewirr erblickte, strömte mit einem Schlag das Bewußtsein wie eine körperliche Empfindung in seine Nerven zurück. Er wurde wieder nüchtern, klar und scharf in dem Gefühl dieser bewegten Realität. Er spürte wieder den Boden der Stadt, und es brannte unter seinen Füßen vor Energie. Er verließ seinen Platz und schlug die Richtung über den Square ein.
Als Bell, aus dem Trubel getaucht, zum Green Park kam, schöpfte er tief Luft in der Ruhe, die hier greifbar über den Bäumen lag. Er setzte sich auf eine Bank in den Anlagen und überlegte.
Er war entschlossen, sich wieder in seinem Zimmer einzusperren, irgendwo in einer stillen Gegend. Er sehnte sich mit einem Male nach dem Aufenthalt zwischen vier dicken, abschließenden Wänden, mit dem Bewußtsein, daß man nur die Treppe hinab und einige Ecken zu gehen braucht, um das notwendige Quantum Leben zu trinken. Fast empfand er Ungeduld danach, er drückte die Füße auf den Kies und zog die Schultern hoch.
Noch kannte er seinen Kurs.
Und er war nicht gewillt, davon abzuweichen.
O, noch lange nicht.
Bell sprang auf, indem er sich sagte, daß er nun, beim lebendigen Gott, keine Minute Zeit zu verlieren habe nach seiner Pariser Expedition. Er war sich wohl bewußt, daß diese Eile übertrieben war, aber er freute sich doch – und gestand es sich gerne ein – über den gesunden Durst. Er blinzelte in den verschleierten Sonnennebel und schritt lebhaft aus. Bei einem Boskett am Ende der Anlagen stieß er heftig mit einem Mann zusammen, der schnell und unerwartet um die Ecke bog. Bell rückte den Hut und murmelte eine Entschuldigung. Aber der andere war schon vorübergeeilt. Bell hatte die Straße erreicht, als ein unbehagliches Gefühl ihn halten ließ. Er hatte die unklare Empfindung, daß jemand ihm folgte. Er wandte sich um – und wirklich, da stand der andere in geringer Entfernung und beobachtete ihn. Eine Sekunde lang sahen die beiden Männer sich fest in die Augen. Dann machte der Fremde kehrt; – langsam, fast zögernd, als fühle er sich ertappt und wolle dies nicht eingestehen. In dem kurzen Augenblick bemerkte Bell, daß das Gesicht des Mannes von ungewöhnlicher Häßlichkeit war, und daß er einen schwarzen Lodenmantel trug.
Der Hausflur war schmal, der Aufgang finster. Und der enge Vorraum, in den Bell von einer korpulenten Frau eingelassen wurde, sah keineswegs erfreulicher aus.
Hier also würde er leben … Das Zimmer war von einer Kahlheit, die den berauschtesten Mann augenblicklich nüchtern gemacht hätte. Die Möbel wurmstichig und alt, aber peinlich sauber. Auch die abgeschabte Diele glänzte von Reinlichkeit. Es roch nach Küche und Einsamkeit und einem kleinen Strauß Lavendel, der auf dem Kaminsims aus einer Vase leuchtete. Zwei Fenster gingen auf einen trüben Lichthof. Die muffige und doch kalte Atmosphäre eines Heims, das kinderlos ist, betrübend arm an Helligkeit und Frische. Aber der blanke Estrich und die blauen Lavendel verrieten doch eine gewisse verschämte Hoffnungsfreudigkeit, die in dieser »bürgerlichen Wohnung« ein Winkeldasein führte. Bell wurde von dem behenden Redeschwall der Wirtin in ein mit speckig-grünem Sammet überzogenes Fauteuil gedrückt und wartete, bis ein günstiger Zufall ihm gestatten würde, zu Wort zu kommen. Frau Trimbles pries weitschweifend die Vorzüge des Logis und holte nur Atem, als Bell erklärte, das Zimmer mieten zu wollen. Aber auch dann machte sie ihr Mundwerk wieder flott, und Gott weiß, daß sie sich darauf verstand.
Bell saß in dem Fauteuil und wartete auf eine Pause in dieser Fahrt sich überhastender Reden. Doch Frau Trimbles steuerte unentwegt voran und zog ihn erbarmungslos im Schlepptau. Er erfuhr, daß sie eine Kammer neben der Küche bewohne, die sie mit dem Kater Pussy teile. Und wie zur Bestätigung schlich ein zerzaustes, mißfarbenes Tier durch die angelehnte Türe und sprang zutraulich auf Bells Knie. Frau Trimbles beugte sich herab und verstummte in Zärtlichkeit. Hierauf entschloß sie sich endlich, ihren Mieter allein zu lassen.
Bell streckte sich in dem ächzenden Fauteuil … Ein dürftiges Bett, eine Öllampe, graue Tünche an den Wänden; graues Licht in einem grauen Hof, mit einem grauen Stück Himmel darüber …
Ja, hier also würde er leben …
Er lehnte sich in das Fauteuil zurück. Er war wirklich etwas müde – nun, da er sozusagen »heimgekehrt« war. Am liebsten wäre er so sitzen geblieben in der dämmrigen Stube, aber es drängte ihn doch wieder, sich zu erheben; er wußte selbst nicht, was es war …
Es schlug fünf vom Turm der St.-Mary-Kirche, als Bell sich auf den versprochenen Besuch besann. Er zog sich um und nahm am Leicester Square ein Taxi, um nicht zu spät zu kommen.
In der Regent Street fuhr er an einem riesenhaften Gebäude vorbei. Es sah aus wie eine Bank oder ein Hotel.
Sie kreuzten die Wagenkolonnen von Piccadilly und ratterten dann durch stille Straßen mit den monotonen Fassaden der Einfamilienhäuser. Der Chauffeur ließ den Motor laufen. Bald darauf hielt das Auto vor dem Parkgitter einer palastartigen Villa in Westend-Grosvenor Street.
Der Diener führte Bell in einen weitläufigen, von schweren Gerüchen erfüllten Wintergarten.
Bell setzte sich zwischen zwei Orangenbäume auf eine mit Löwenköpfen geschmückte Marmorbank, – er war kein Kenner in künstlerischen Dingen, und Italien war ihm bloß aus der Perspektive von Postkarten und billigen Drucken bekannt – aber er dachte, daß eine solche Bank sehr wohl in dem Garten irgendeines römischen Fürsten gestanden haben könnte. Er atmete den Duft der Orangen und Orchideen, und es kam ihm sonderlich vor, daß er sich hier befand.
Die Blumenwärme, die in dieser gedämpft beleuchteten Hallte herrschte, war gesättigt von betäubenden Düften. Bell sah nicht die beiden knochigen Fäuste, die auf seinen Knien lagen, er hörte nicht das leise Knirschen einer Flügeltüre im Hintergrund, und er blickte erst auf, als eine sehr schlanke und sehr junge Dame vor ihm stand.
Er erkannte sie nicht gleich wieder, so verändert und sicher erschienen ihr Lächeln und ihre Bewegungen. (Er hatte sie anders in der Erinnerung – scheu, bezaubernd verwirrt, in einem dröhnenden Eisenbahnwagen.) Ja – da stand eine kleine Dame vor ihm, eine Dame aus einer andern Welt … eines jener Geschöpfe, die in den Männerblicken leben, die sie umhüllen – in dem Sprühregen einer blendenden Theaterauffahrt, im Carlton zwischen Frackanzügen und Diademen … und in einem Wintergarten zwischen phantastisch geformten, farbig erglühenden Blumen. Fast wollte er sich auflehnen gegen den weichen Hauch von Lorbeer und Glycinien, während das kleine Zauberfräulein seinen Namen aussprach und sich freute, ihn wiederzusehen. Es erschien ihm jetzt lächerlich, daß er an sie gedacht hatte, und er umgab sich gewaltsam mit beinahe schroffer Kälte.
Auch beim Tee, als C. W. Graham erschienen war und den Wintergarten mit seiner vierschrötigen Gestalt und seiner trockenen, fast harten Stimme füllte, antwortete Bell mechanisch, mit abgemessener Höflichkeit, während seine Gedanken durchaus nicht in diesem Hause zu sein schienen.
Doch eine Weile später, während der Unterhaltung am Teetisch, mußte Bell gegen seinen Willen immer wieder Graham betrachten, dessen Erscheinung den kostbaren Rahmen des Raumes unwillkürlich zurücktreten ließ.
C. W. Graham war kein Mann, an dem man vorbeisehen konnte. Man merkte hinter all seiner Glätte, daß er gewohnt war, zu befehlen.
Im übrigen warf er nur hier und da ein kurzes Wort in die Unterhaltungen, die seine Tochter mit umso größerer Lebhaftigkeit bestritt. Aber wenn er sprach, fühlte man sich gezwungen, aufzuhorchen. Und selbst seine Schweigsamkeit schien auf eigentümliche Weise beredt und eindringlich.
Bell – während er aus einer zierlichen chinesischen Tasse goldgelben Tee trank – empfand auf einmal, daß er hier einsam saß, abgetrennt durch eine unsichtbare, aber tiefe Kluft.
Er gab sich keine Mühe, zu erfahren, welcher Gruppe von Finanzgrößen Graham angehören mochte. Er dachte nur daran, daß es ein merkwürdiges und sehr unvorhergesehenes Ereignis war, das ihn diese Bekanntschaft machen ließ. Und daß das Ende seiner Fahrt ihn wiederum einem Manne gegenüberstellte, für den es ein leichtes gewesen wäre, sein Unternehmen zu realisieren. Deutlicher als je empfand Bell, daß er verzweifelt mittellos auf einem gefährlichen Pfade war. Mit dem Instinkt eines Menschen, der »außerhalb« steht, wurde er sich sogleich darüber klar, daß Graham sein Gegner war, daß er von Natur aus sein Gegner sein mußte.
Aber Bell gab sich keine weitere Rechenschaft über diesen Gedanken, und, von Graham abgleitend, sah er auf die Hände des jungen Fräuleins, die Tee einschenkten. Sie waren ihm merkwürdig vertraut, diese Hände, und das war das einzige, was ihm in seiner sonstigen Abwesenheit hier zu lebendigem Bewußtsein wurde.
Auch Graham betrachtete seine Tochter und sagte, weniger laut, mit einem Lächeln, das auf seinen breiten, von feinen Furchen gestrafften Zügen überraschend weich wirkte:
»Vivian freute sich so, daß Sie Ihr Versprechen hielten, Herr Bell! …«
»Vivian« … dachte Bell … »Vivian« … – –
Später, als er wieder auf der Straße stand und sich in der frischen Abendluft, wie von einer ungewohnten Last befreit, aufrichtete – trotzdem es hier draußen finster und betrübend feucht war –, dachte er, daß »Vivian« ein seltener Name wäre. Er schritt in Gedanken das Parkgitter entlang, fuhr aber jäh aus seinen Betrachtungen auf, als hinter der nächsten Laterne ein Mann hervorglitt, der gleich darauf im Nebel verschwunden war.
Bell hatte die Vorortgegend erreicht, die aus dem Villenviertel in die Stadt überleitet. Die Häuser waren hier bunt und bescheiden, in einem Stil, der zwischen bürgerlichem Geschäft und Herabgekommenheit schwankte. Und die Menschen, die sich dazwischen bewegten, waren wie sie ein Gemisch von prosaischem Wert und Dürftigkeit. Sie waren Kaufleute allesamt, noch nicht Unternehmer. Sie wohnten vor den Toren der City, und das gab ihnen einen Abglanz von aktiver Bedeutung. Sie trieben mit ihrer Arbeit, ihrer kleinen Münze nach dem Zentrum hin, wie die Adern dem Herzen zuströmen, und sie hofften, dereinst in den großen Kreislauf aufgenommen zu werden, ein Teil von ihm zu sein.
Durch den Nebel rieselte eine kleine Spreu von Nässe, die Laternen spiegelten sich langgeschweift in dem glitterigen Pflaster. Es war ein Abend wie die meisten Londoner Werktagsabende – düster, lebhaft und fröstelnd.
Bell schritt unentschlossen durch das schäbige Gewimmel. Er war mißgestimmt und hatte keine Lust, nach Hause zu kommen. Er achtete nicht auf Weg und Richtung. Ziellos wanderte er durch häßliche schmale Gäßchen, er tauchte zwischen dumpfige Häuserblocks mit geheimnisvoll geschlossenen Fensterläden, stieg wieder ans Licht unruhiger Plätze, bog um eine von Menschen belagerte Haltestelle der Subway – und dann stand er wieder in der Regent Street vor dem gleichen hohen Gebäude, das ihm wenige Stunden zuvor im Vorbeifahren aufgefallen war, und las die Lichtlettern hoch droben auf dem Dachsims: »Graham Meat Company«.
Von den Scharen auf dem Piccadilly Circus durch die Häuserschlucht des Strand getrieben, geriet Bell in den Strom der nach Osten führenden Commercial Road. Erst als er sah, daß er in dem Gewühl heimkehrender Arbeiter mitgerissen würde, wenn er sich nicht dagegenstemmte, blieb er resolut stehen und beschloß, die ruhigen Ufer der Themse aufzusuchen.
Bell hielt vor den alten Mauern des Tower und blickte über die runden Türme und breiten Zinnen hinweg in die schwarz abschließende Himmelswand. Er hörte London bis hierher, er hörte es rumoren mit einzelnen betonteren Lauten aus dem Gemurmel eines entfernten Riesenorchesters, aber er sah es nicht, geborgen durch die dicken Towerwälle. Er spürte wohl das Leben auf der anderen Seite, doch es konnte ihn nicht erreichen.
Die Towerbrücke hing wie eine schweigsame, breite Kette über einem Abgrund tiefer Ruhe, der die Themse war. Bell lehnte an der steinernen Wehr; er beugte sich weit hinaus und roch das Wasser, das so langsam floß, daß man es kaum klickern hörte. Nun sah er: weit drüben war London, glasig, lichtflutend und nebelhaft – wie eine gläserne Kugel über dem Krater eines Vulkans, wie der Widerschein einer entflammten Welt. Die Brücken waren zuckende Lichtschnüre über schwarzem Sammet. Schnüre von Lichtern zogen zwei Säume an den Ufern des Flusses.
Wie ruhig es hier war – das fühlte man, wenn man hinübersah und an den Lärm dachte, der dort aus dem Kessel stieg.
Nur einmal flog ein Komet von der Stadt herüber, wie eine flüchtige, aber grelle Mahnung. Die Brücke und Bell tauchten in eine Flut von Licht. Bell hob den Kopf: es war der Reflektor eines Reklameschiffs, das zwischen ihm und den Sternen nach Osten glitt.
Dann stand er wieder inmitten von Dunkelheit und dem feuchten Atem, der aus dem Wasser stieg. Er hörte singende Stimmen, die näher kamen, und laute Flüche. Drei Burschen und ein Mädchen gingen vorüber. Sie gröhlten das Lied der Dockarbeiter. Ein Schutzmann zeigte sich vor dem Tower und verschwand wieder. Dann war alles still wie vorher …
Bell faßte die Brücke, das Wasser und den heißen Glanz, der von der Stadt herwehte, in einem langen Blick und fühlte, wie sich das Bild in seine Brust senkte. Er sah die Stadt dort ohne den gleißenden Schutz ihrer Strahlen, er blickte durch den Mantel, den ihre eigene Wärme, die Nacht und das Licht um sie gelegt hatten, er blickte in jedes der ungezählten Häuser, in die Menschen, die darin wohnten – ja, und er dachte, daß er selbst in die Seele jedes einzelnen zu schauen vermöchte.
Ein strömendes Empfinden füllte ihn – für jene, deren Stimmen schwach und ungehört sind, und auch für jene, die glauben, zufrieden sein zu dürfen. So ragte er auf der Brücke stark und unbeirrt über der Stadt, die wie geöffnet vor ihm lag.
Ein Schritt hallte in der Nähe. Noch ehe Bell zur Seite blicken konnte, fühlte er körperlich die Anwesenheit eines Menschen neben sich und hörte die mit gedämpfter Stimme gesprochenen Worte:
»Erwarte nichts von denen, die Graham heißen!« …
Bell war reglos vor Überraschung – dann trat er heftig zurück. Aber der Platz neben ihm war leer. In der Mitte der Brücke erblickte er eine Gestalt, die sich schnell entfernte. Sie trug einen Lodenmantel … wie der Mann, dem er vormittags im Green Park begegnet war.
Mitternacht war vorüber, als Bell mit der Straßenbahn nach Hause fuhr.
Fünftes Kapitel
Einige Wochen vergingen, und die staubige Hitze, die der kurze Sommer über die Stadt gelagert hatte, verschwand so unvermittelt, wie sie gekommen war. Die brodelnde Atmosphäre, die wie eine pulverisierte Welle über der City lastete, wich dem Herbst, der von der See herüber wehte.
Bell verbrachte Tage und Nächte – wochenlang – vor dem Schreibtisch, über Papieren, die mit Zahlen und Formeln bedeckt waren. Aber die Arbeit schritt nicht vorwärts. Er verließ kaum das Haus; Frau Trimbles brachte ihm die Mahlzeiten auf sein Zimmer. Er nickte bloß und sprach kein Wort. Auch sie war gegen ihre Gewohnheit stiller geworden, betroffen von soviel starrer Schweigsamkeit. Manchmal dachte sie, Bell müsse entweder auswärts oder gestorben sein, da Stunden vergingen, ohne daß ein Laut aus dem Zimmer kam. Nur nachts, wenn der Schein der Lampe durch die Türritzen auf den Flur fiel, konnte sie wahrnehmen, daß der Mann in der stillen Stube noch am Leben war.
Bell arbeitete mit der halsstarrigen Energie und dem Trotz eines Verzweifelten. Er hatte einen neuen Weg der arithmetischen Analyse eingeschlagen, er versuchte eine Ableitung nach der anderen. Aber – die Arbeit ging nicht vorwärts. Immer wieder kam er auf den toten Punkt, und er mußte einsehen, daß an ein Weiterkommen ohne die erforderlichen technischen Hilfsmittel nicht zu denken war. Den größten Teil der Nächte brachte er damit hin, ruhelos zwischen den öden Wänden auf und ab zu schreiten – er brauchte Geld, Geld, Geld … alles andere war zwecklos!
Er war noch nicht gesonnen, klein beizugeben … aber – das war nicht zu leugnen – es war nicht leicht, weiß Gott! In zwei Wochen würde er Frau Trimbles das letzte Geld bezahlt haben. Was dann? …
Es war Abend. Draußen schlugen die Regentropfen auf das Wellblech vor dem Fenster.
Bell saß auf dem harten Sofa. Sein Blick irrte durch das Zimmer. Die beiden Negerköpfe aus billigem Messing glänzten trübselig aus der dunklen Nische über dem Schrank. Die Vase auf dem Kaminsims war leer, die Lavendel waren schon lange zu nichts zerfallen. In der Ecke neben der Türe stand ein Koffer. Es war ein großer, fester Koffer aus gelbem Leder. Aber jetzt war er verstaubt, und er schien traurig darüber, daß er hier verlassen stehen mußte. Bell betrachtete ihn mit Augen, die nichts zu sehen schienen …
Er war verbissen immer geradeaus gelaufen und wollte es nicht merken, daß er gegen eine Mauer anrannte. Aber jetzt hielt er inne – er mußte rasten – und nun erst wurde er sich dessen bewußt, daß sein Leben während der letzten Wochen einsamer gewesen war als die langen Jahre hindurch, die er in einer Art atemloser Hetzjagd genommen hatte. Eine ungewohnte Weichheit überkam ihn bei dieser Betrachtung; er wurde unmutig darüber, aber es gelang ihm doch nicht gleich, sie abzuschütteln. Halbvergessene Erlebnisse tauchten wieder auf, und in einer unklaren Gedankenverbindung entsann er sich auch Vivian Grahams. Vivian, ja … Er hatte den Palast in Grosvenor Street nicht wieder aufgesucht, trotz ihrer herzlichen Aufforderung. – Unwillkürlich richtete er sich auf. Es schien ihm, als höre er deutlich jene Mahnung wieder, die ihm ein Unbekannter auf der Towerbrücke zugeflüstert hatte. Er fuhr zusammen. Ein flüchtiges Trostgefühl erfaßte ihn, trotzdem das Feuer im Ofen noch glühte. – Es war ganz dunkel geworden. Nichts war vernehmbar. Die verkohlten Holzscheite fielen lautlos zusammen. Jetzt scharrte es an der Türe; das war der Kater von Frau Trimbles … Der Regen lief wie Tränen an den Fensterscheiben herab …
Er sprang auf und beschloß, in eine Concert-Hall zu gehen. Irgendwohin, wo es Licht gab und viele Menschen.
Zwei Minuten später trat er aus der Haustüre. Naßkalter Zugwind fuhr ihm entgegen.
Es war Sonnabend, und die Varietés waren überfüllt; in den großen Häusern gab es nur noch vereinzelte Logenplätze. Doch nun, da Bell auf der Straße war, ließ ihn dies gleichgültig, denn das gewaltsame Bedürfnis nach Zerstreuung quälte ihn nicht mehr. Licht und Menschen – die gab es auch hier übergenug. Er wurde warm und fast gut gelaunt, wie er so in dem Gewühl dahinging, geschoben und gedrängt, und die Federn der Damenhüte wie flotte Wimpel über den Köpfen wehen sah. Aber dann setzte der Regen auf einmal mit ganzer Heftigkeit ein. Der Knäuel der Passanten zerteilte sich, und die triefenden Autos wurden gestürmt. Bell schüttelte sich zuerst unter dem strömenden Wasser, aber der Regen lief ihm hinter den Kragen, und er sah um sich, um irgendwo unterzukommen. Vor ihm stand ein riesenhafter Mann in blauer Portiersuniform mit blanken Knöpfen. Und über der Mütze des Mannes prangte eine bunte, transparente Reklametafel: »Madame Tussaud’s Panoptikum«.
Bell sah die Straße hinab – die Omnibusse hingen von Menschen, die Taxis waren sämtlich besetzt –, er hörte den Ausruf des Portiers (»Come in Gentlemen, the greatest show in the world!«) und trat ein.
Die Treppe zur ersten Etage war matt beleuchtet und wirkte nicht gerade ermutigend. Aber es war doch geheizt hier und trocken, während man draußen den Guß auf das Pflaster plätschern hörte. Bell stieg die Stufen empor. Auf halbem Wege begegnete er einer Dame, die kerzengerade dastand und versonnen vor sich hinstarrte. Er wollte zur Seite treten, aber sie bewegte sich nicht. Da bemerkte er, daß sie aus Wachs war und Glasaugen hatte. Und sofort empfand er jene sonderbar traumhafte, aus Neugier und Abenteuerlichkeit gemischte Stimmung, die derlei Schaubuden anhaftet.
Der erste Saal enthielt das anatomische Museum. Operierte Körperteile, abgeschnittene Gliedmaßen, Adern und Eingeweide starrten in bleichen Farben wie die Ausgeburten eines bösen Albdrucks von den Wänden. Ein Geruch nach Karbol und Äther schien von ihnen auszuströmen, trotzdem die auf Sammet gebreiteten Präparate reines Wachs waren. Bell ging ohne Aufenthalt zwischen den Schaukästen hindurch. Wie alle robusten Menschen, die nie mit Ärzten zu tun gehabt haben, empfand er Ekel vor diesen peinlich naturgetreuen Krankheitsbildern.
Im nächsten Saal befanden sich die historischen Persönlichkeiten. Auf einem großen Podest waren unter einem Thronbaldachin die Oberhäupter der europäischen Staaten in mehr oder weniger merkwürdigen Stellungen vereinigt. Der Zar und der Präsident von Frankreich hielten dem Kaiser von Deutschland die Hände zum Gruß entgegen, während die Königin von England der deutschen Kaiserin liebenswürdig zulächelte. Mit erhobenem Arm, den Fuß zum Schreiten ausgestreckt, den Kopf im Gespräch geneigt, glichen sie einer Gesellschaft, die inmitten angeregtester Unterhaltung durch einen zauberhaften Starrkrampf gebannt worden war. Etwas abseits, auf einem Sockel aus imitiertem Marmor, stand Napoleon einsam und finster, mit verschränkten Armen. Bell blieb vor ihm stehen und betrachtete ihn nachdenklich. Napoleon schielte ein wenig; das kam daher, daß von der einen Augenhöhle etwas Wachs abgeschmolzen war. – »Das ist der« … dachte Bell und wandte sich gleich darauf um, in dem peinlichen Empfinden, daß jemand hinter seinem Rücken stehe. Doch die Person, an deren Ellbogen er fast gestoßen wäre, war niemand anders als der amerikanische Freiheitsheld Washington, der stolz und teilnahmslos über ihn hinwegsah. Hinter Washington aber lag auf einer nicht mehr ganz reinlichen Bahre Iwan der Schreckliche. Sein quadratischer, bartumwallter Schädel war über das Kopfkissen zurückgebeugt, die Lippen waren halb geöffnet, als entließen sie die letzten Atemzüge. Die Brust mit der offenen blutigen Wunde hob und senkte sich mit dem Ächzen eines unsichtbaren Mechanismus. Das war das einzige Geräusch in dieser Halle, in der die Größten der Welt versammelt waren.
Am Ende seiner Wanderung kam Bell vor eine Türe, die ihn nach Entrichtung von zwei Penny Aufgeld in die »Schreckenskammer« einließ. Hier waren alle berüchtigten Verbrecher aufgestellt – von dem Lustmörder Jack the Ripper bis zu dem im Zuchthaus von Reading gestorbenen Professor Galieni, dem Vivisektor, der nicht davor zurückgeschreckt war, seine Experimente vom Tierreich auf die Menschen auszudehnen. Die Kindesmörderin Anne Rochefort grinste leichenhaft aus einer Ecke, mit spitzem Bauch über eine Wiege gebeugt, in der ein neugeborenes Kind sich unter dem Druck ihrer Hände zu Tode krümmte.
Bell machte langsam die Runde, indem er sorgfältig vermied, die Mörderpuppen mit dem Rock zu streifen. In der kalten Luft dieser Kammer wurde er allmählich gegen seinen Willen von einer nervösen Unruhe ergriffen. Es war ihm, als müßte er etwas erwarten, und er wußte nicht, was; es hätte ihn nicht gewundert, wenn plötzlich eine der Wachsfiguren Leben bekommen und ihn angesprochen hätte. Als er zu der letzten Gruppe trat, stieg die Spannung in ihm, er meinte jeden Augenblick, nun müsse etwas geschehen (als sollte er höchstpersönlich seinem Schicksal begegnen, dachte er und versuchte, über sich selbst zu lächeln), er tat noch einen Schritt und fuhr gleich darauf mit einem unterdrückten Laut der Überraschung zurück.
Vor ihm stand die seltsamste Puppe in dieser Sammlung der Absonderlichkeiten. Ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit einem Gesicht von grausamer Häßlichkeit. Die grauen Haare waren über der Stirn kurz geschoren, die starken Backenknochen traten eckig unter der gelben Haut hervor. Es war die einzige Figur, an der sich keine Namenstafel befand. Sie trug einen schwarzen Radmantel, und sonderbar – – dieser Mantel war naß von Regen!
Am sonderbarsten aber war, was nun geschah: ein Lächeln veränderte die Züge des wächsernen Gesichts, die Puppe verbeugte sich und sprach mit tiefer Stimme:
»Guten Abend, Herr Bell! … Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Sergej Schebekoff …«
Bell war nichts weniger als schreckhafter Natur – aber unwillkürlich lehnte er sich doch an den Einbrecherkönig Harald Finn, um seine Bestürzung zu verbergen.
Schebekoff zog die Hände aus den Manteltaschen – große, hagere Hände – und sagte, während er befriedigt die Knöchel aneinanderrieb:
»Es überrascht Sie ein wenig, wie? Der Zufall gestattet mir leider nicht, ein passenderes Lokal zu wählen.«
Bell hatte seine Ruhe völlig wiedergewonnen. Das Bewußtsein, daß er augenscheinlich seit Wochen von diesem Manne verfolgt wurde, und der primitive Maskenscherz, dem er doch für einen Augenblick zum Opfer gefallen war, machten ihn ärgerlich.
»Mein Herr«, sagte er kalt, »was bezwecken Sie eigentlich? Sie folgen mir auf die sonderbarste Weise! Sie drängen sich in meine Angelegenheiten! Wünschen Sie etwas von mir?«
Schebekoff machte eine verbindliche Geste.
»Nicht mehr und nicht weniger, als was Ihnen not tut«, erwiderte er mit einem versteckten Lächeln.
»Ich brauche nichts!« sagte Bell ungehalten.
»Ich denke doch …!« entgegnete Schebekoff und sah dabei Bell mit unangenehmer Vertraulichkeit in die Augen. »Ich denke doch, daß Sie nicht völlig allright sind. Oder wollen Sie behaupten, daß Ihr Besuch bei Bourdier Sie befriedigt hat?«
Bell sah den Anderen scharf an. Auch das wußte diese mysteriöse Erscheinung? … Er hatte ihn also im Green Park nicht zum ersten Male gesehen!
»Sie haben, wie es scheint, viel Übung darin, andere Leute auszuspionieren!« murmelte er.
»Nun …« Schebekoff hob seine Hände, als wollte er eine Schmeichelei abwehren. »Man ist nicht seit gestern auf der Welt. Aber bleiben wir bei Ihnen, Herr Bell. Sie befinden sich sozusagen in einer Sackgasse, nicht wahr? Wie denken Sie Ihr Unternehmen fortzusetzen?«
»Herr! … Bell wollte aufbrausen. »Machen wir ein Ende!« Er wandte sich halb ab, um zu gehen.
»Alfred Bell – –«, sagte Schebekoff, »Sie interessieren mich! Sie verstehen Ihre Zeit … wie Sie sie sehen. Doch ich fürchte, Sie stehen auf einem falschen Aussichtsturm.«
Bell kniff die Mundwinkel zusammen. Er hatte die größte Lust, auf dieses zudringliche Phantom loszuschlagen.
»Bemühen Sie sich nicht! Ich sagte Ihnen schon, daß ich keinerlei Interesse habe …!«
»Das schadet nichts«, erwiderte Schebekoff unbeirrt. »Ich – ich habe Interesse … das genügt mir.«
Er kam näher, Bell spürte seinen Atem, der ihm die Wangen streifte. Schebekoff senkte die Stimme zu einem rauhen Flüstern: »Ich glaube nicht, daß ich Sie überschätzt habe. Sie werden – hoffe ich – nicht mordstoll genug sein, an mir vorbeizugehen. He … Sie können nicht an mir vorbeigehen!«