Kitabı oku: «Hidden Tales», sayfa 3
05. Juli 2014
© Shada Astart und Benyamen Cepe
Multi-Caches mit mystischer Thematik, die nur für bestimmte Menschen gestaltet und aktiviert wurden, die in der Lage waren, deren Leben zu verändern … Natürlich glaubte ich nicht wirklich daran. Ich mochte aber Geschichten, welche die Realität mit geheimnisvollen, eigentlich nicht möglichen Ereignissen spickten und dem Leser so das Gefühl gaben, dass da mehr sein könnte. Begebenheiten, die sich unseren Sinnen entzogen, aber doch passierten – irgendwo da draußen. Vielleicht sogar hier und jetzt …
Wenn ich die Metallbox, die ich vor wenigen Minuten am Ziel des Story-Cache gefunden hatte, so ansah, drängte sich mir tatsächlich dieser Gedanke auf, denn heute war der 05. Juli 2014.
Ohne noch weiter darüber nachzudenken, entfernte ich den nicht sehr fest sitzenden Deckel der Zeitkapsel, wie ich die Dose in Gedanken nannte, und blickte hinein.
Darin lag ein handschriftlich verfasster Brief – ohne Umschlag – an einen Nathan und einige lose Blätter. Die Worte darauf stammten eindeutig von einer Schreibmaschine. Das Papier schien einige Jahre alt zu sein, die Zeichen begannen bereits, zu verblassen. Der Brief dagegen wirkte, als sei er erst vor wenigen Tagen verfasst und in die Box gelegt worden.
Ich ließ den Deckel der Dose auf den Waldboden vor meinen Füßen fallen und griff nach dem Brief, obwohl ich nicht Nathan, sondern Hanna hieß.
Tief durchatmend legte ich die Box auf meinen Oberschenkeln ab und sah mich kurz um, weil diese Worte augenscheinlich nicht für mich gedacht waren. Dann nahm ich das Blatt heraus und begann zu lesen.
»Lieber Nathan,
ich muss dir etwas geben, mein Sohn. Es ist von deinem Vater. Diese Box hat er selbst angefertigt und mir mit der Anweisung, sie dir nicht vor dem heutigen Datum zu geben, überreicht. Ich musste ihm dies hoch und heilig versprechen. Und auch ich selbst sollte die für dich gedachte Dose nicht vorher öffnen. Es fiel mir zwar schwer, aber ich habe wirklich keinen Blick hineingeworfen – bis heute. Jetzt ist es so weit, am 05. Juli 2014 sollst du das Geschenk deines Vaters bekommen, so, wie er es mir vor zwanzig Jahren aufgetragen hat. Damals hat er viel Zeit allein in der Garage und in seinem Arbeitszimmer verbracht. Das war kurz vor seinem plötzlichen Tod am 10. Juli 1994. Als ob er gewusst hätte, dass … Wie dem auch sei, du durftest ihn leider nicht kennenlernen, da er vor deiner Geburt verstarb. Und nicht nur deshalb hoffe ich, dass die beschriebenen Seiten dir ein bisschen darüber hinweghelfen, ohne deinen Vater aufgewachsen zu sein, denn glaube mir, Ben Smith war wirklich ein wundervoller Mensch. Du hättest ihn gemocht. …«
Ab hier war die Tinte an vielen Stellen kreisförmig verlaufen, die meisten Worte nicht mehr lesbar. Es spielte aber keine Rolle mehr, wie diese Nachricht einer Mutter an ihren Sohn endete, ich hatte auch so schon erkannt, was sich in dieser nun zwanzig Jahre alten Box befand. Es war ein weiterer Brief an diesen Nathan – ein etwas längerer jedoch.
Kurz zögerte ich und haderte mit mir, ob ich diese Seiten herausholen und lesen sollte – die Zeilen waren nun einmal nicht für mich bestimmt –, doch siegte meine Neugier, und da mich die Geocaching-App so penetrant mit ihren Messages zu diesem seltsamen Story-Cache gelotst hatte …
In der Hoffnung, dass der wahre Empfänger dieser Zeitkapsel nicht während dieser Minuten auftauchte, tauschte ich den Brief der Mutter gegen den des Vaters und begann zu lesen.
Todesdeal
© Benyamen Cepe
1
Mein Sohn, wenn deine Mutter meine Anweisungen befolgt hat, bist du nun alt genug, um die Umstände zu verstehen, die dazu geführt haben, dass du ohne mich aufwachsen musstest.
Mir ist schmerzlich bewusst, dass meine Worte nur ein schwacher Trost für dich sein werden, aber ich weiß mir im Moment nicht anders zu helfen, außer mir alles von der Seele zu schreiben.
Du fragst dich vielleicht, warum ich den 05. Juli ausgewählt habe, um dir das hier überreichen zu lassen.
Die Ereignisse, von denen ich dir erzählen möchte, haben sich am 05. Juli 1994 zugetragen, dem Tag, an dem sich für mich alles verändert hat. Das war vor drei Tagen gewesen. Aber eins nach dem anderen. Ich sollte damit anfangen, dass Chris, Ryan, Steve und ich zusammen aufgewachsen sind.
Chris war unser Anführer. Als wir Kinder waren, hat er sich immer Spiele ausgedacht und ließ Mannschaften bilden, wenn genügend Jungen oder auch Mädchen auf dem Spielplatz waren, um Fußball zu spielen oder andere Sachen. Ich glaube, es lag auch daran, weil er uns vier zusammengebracht hat.
Ich lernte ihn im Sandkastenalter kennen. Da wir aber verschiedene Schulen besuchten, war ich nicht dabei, als er Ryan kennenlernte. Er brachte ihn eines Tages mit zur Wiese, auf der wir stets Fußball spielten, und wir freundeten uns auf diese schnelle und einfache Art an, wie sie nur Kindern eigen ist. Als Chris’ Cousin Steve dann noch in unsere Gegend zog und er ihn Ryan und mir vorstellte, war unser Quartett schließlich perfekt.
Chris war, wie erwähnt, unser Anführer. Aber ich möchte nicht, dass bei dir ein falscher Eindruck entsteht. Wir waren eigenständige Persönlichkeiten mit verschiedenen Charaktereigenschaften, Vorlieben und Hobbys. Bei Ryan war es das Segelfliegen, bei Steve die Musik, Chris lebte für den Fußball und ich liebte es, zu schreiben.
Was Chris als Anführer auszeichnete, war seine Eigenschaft, Ideen zu haben, die uns begeistern konnten, obwohl wir so verschieden waren und unterschiedliche Interessen hatten.
Ryan war ein guter Zuhörer. Ich bin nie der Typ Mann gewesen, der offen über seine Probleme sprach – außer mit deiner Mutter natürlich. Ich war meinen Freunden gegenüber irgendwie verschlossen. Aber ich hatte festgestellt, dass ich, wenn ich mit jemandem innerhalb meines Freundeskreises reden wollte, Ryan bevorzugte. Er war mir ähnlicher als Chris und Steve, weshalb Problembesprechungen mit ihm einfacher waren. Was nicht bedeutete, dass es bei uns eine Art Grüppchenbildung gab. Nein, nur konnte ich mit ihm heikle Dinge, die sich in der heißen Phase befanden, besser bereden.
Steve war der Fachmann für Musik. Ich nannte ihn oft »die wandelnde Musikbox«. Wenn auf einer Party oder im Radio ein Song gespielt wurde und wir nicht wussten, von wem der war oder wie er hieß, dann konnten wir sicher sein, dass Steve in fünfundachtzig Prozent der Fälle die Antwort wusste.
Du darfst dir Steve jetzt aber nicht als jemanden vorstellen, der den ganzen Tag vor sich hin sang und davon träumte, selbst Musik zu machen. Er liebte Musik einfach. Das taten wir zwar alle – aber nicht so wie Steve.
Leider war er sehr aggressiv. Besonders wenn er getrunken hatte. Dann pöbelte er die Leute in seiner Umgebung an und provozierte dadurch Schlägereien.
Ich fungierte in solchen Momenten oft als Schlichter und konnte meist das Schlimmste abwenden, selbst wenn sich seine Wutausbrüche das eine oder andere Mal dann auch gegen uns richteten.
Nach so einem Vorfall sagte er mal zu mir: »Ich bin ein völlig anderer, wenn ich getrunken habe, da kann ich doch nichts dafür, oder?«
Ich ließ diese Frage unbeantwortet.
2
Es ist jetzt fast vier Monate her, da verabredeten wir uns zum Weggehen. Ich habe mich als Fahrer angeboten, und so kam es, dass ich sie zum ersten Mal sah.
Ryan, Chris und Steve haben schon auf der Hinfahrt getrunken, und auch in der Bar, in der wir waren, floss der Alkohol in Strömen. Ryan erzählte von seiner neuen Freundin Debbie, von der ich dir später berichten werde. Chris ließ sich darüber aus, dass er vor lauter Arbeit so gut wie kein Privatleben hätte. Steve sagte in etwa dasselbe. Nur dass er im Unterschied zu Chris hin und wieder zum Schuss käme, worüber wir alle lachen mussten. Ich erzählte meinen Freunden, wie glücklich ich darüber sei, bald Vater zu werden.
So verging der Abend bis zur Heimfahrt unspektakulär, obwohl die drei sehr betrunken waren. Ryan und Steve schliefen dann auf der Rückbank. Chris spielte am Radio herum.
»War doch ganz nett heute, oder?«, fragte er.
Es war ein Wunder, dass er nicht lallte – bei der Menge Alkohol, die er in sich hineingekippt hatte.
»Ja klar. Falls dir schlecht wird, sag Bescheid.«
»Quatsch, mir wird doch nie schlecht.«
Es dauerte keine zehn Minuten, bis er mich bat, rechts ranzufahren. Dann riss er die Tür auf, lehnte sich hinaus und übergab sich.
Ich verzog das Gesicht und entschied, besser nicht hinzusehen. Stattdessen blickte ich durch die Frontscheibe und machte ein paar Meter vor uns eine Gestalt aus. Sie war weiblich, trug ein weißes Gewand und hatte langes Haar, das ebenso weiß war. Offen fiel es ihr über die Schultern. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Für mich war ihr Alter aber belanglos. Was mich in dem Moment erschreckte, waren ihre Augen. Die starrten mich aus einem bleichen Gesicht an, und sie waren ebenfalls weiß, als hätte sie diese auf krankhafte Art verdreht. Aber ich war mir sicher, dass dem nicht so war. Mir stockte der Atem, und ich konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken.
Chris hatte sich in der Zwischenzeit wieder erholt. Ich sah kurz zu ihm hinüber und sagte: »Guck mal da vorn!«
Er blinzelte verdutzt durch die Scheibe. »Was soll da sein?«
Als ich wieder hinsah, war sie weg.
»Hey Alter, bist du besoffen?«, fragte Chris und grinste.
Ich ging nicht weiter darauf ein. Ihm jetzt etwas erklären zu wollen, wäre sinnlos gewesen.
3
Am nächsten Tag besuchte ich Ryan und erzählte ihm alles.
Die letzte Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Anders als Chris belächelte Ryan mich aber nicht.
»Und sie ist einfach verschwunden?«, fragte er.
»Ja!«
Er massierte sich die Schläfen und sah mich ernst an. »Na ja, ist doch vorbei jetzt, oder? Wir sollten uns nicht den Kopf darüber zerbrechen.«
Weil ich wusste, dass er recht hatte, ließ ich es dabei bewenden und vergaß das Ganze. Vorerst.
An dieser Stelle möchte ich dir von Ryans Freundin Debbie berichten, die sechs Jahre jünger war als deine Mutter. Er stellte sie uns kurz nach diesem für mich erschreckenden Abend vor, und sie begleitete uns immer öfter. Deine Mutter war aufgrund des Altersunterschieds jedoch nicht dazu zu überreden, sich uns anzuschließen, um Debbie Gesellschaft zu leisten. Sie hatte ihren eigenen Freundeskreis und war der Meinung, dass ihre Zeit zu wertvoll sei, um sie als Babysitterin für eine unreife Göre zu vergeuden, die wie eine Klette an einer Männergruppe klebte. Ich gab ihr damals recht und tu es auch jetzt noch. Wir akzeptierten Debbie nur Ryan zuliebe bei unseren Männerabenden. Er sagte, sie säße sonst nur zu Hause, also nähme er sie lieber mit, anstatt sie allein versauern zu lassen oder sich von uns abzukapseln.
Warum sie in Wahrheit mitkam, ging mir erst auf, als es zu spät war. Es geschah nämlich das, was einer Freundschaft das Genick brechen kann. Debbie verliebte sich in Chris, und der erzählte mir kurz darauf, wie sie ihm ihre Liebe gestand. Chris offenbarte mir auch, er habe schon länger den Verdacht gehegt, dass sie etwas von ihm wollte. Doch solche Vermutungen äußerte er gern, weil er sich für unwiderstehlich hielt.
Debbie war vor seiner Wohnung aufgetaucht, weil sie dringend mit ihm reden müsste. Ohne Umschweife sagte sie nach dem Eintreten: »Ich habe mich in dich verliebt und will eine Beziehung mit dir.«
Ihm verschlug es kurz die Sprache. Und das passierte Chris nicht oft. Er war einfach überrumpelt von ihrer direkten Art.
Er sah sie verdutzt an und antwortete: »Du bist mit einem meiner besten Freunde zusammen. Ich fange grundsätzlich nichts mit der Freundin eines Freundes an. Außerdem bist du nicht mein Typ.«
Dass er sie mit dieser Aussage verletzte, war ihm bewusst, aber – so sagte er mir – er wollte ihr von Anfang an klarmachen, was Sache war.
Daraufhin brach sie in Tränen aus und flüchtete aus seiner Wohnung.
Steve erfuhr alles, als Chris es Ryan am nächsten Tag erzählte.
Ryan war zutiefst verletzt, aber er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. Er lächelte uns sogar zu, um seinen Schmerz zu verbergen. Dann erfand er irgendeine Ausrede und verließ uns. Auch das war ein Indiz dafür, wie sehr ihm das zu schaffen machte. Ich hoffte in dem Moment, dass er dieser blöden Kuh den Laufpass geben würde.
Das tat Ryan auch. Das Schlimme war nur, dass er nach kurzer Zeit wieder mit ihr ankam, weil sie beteuerte, dass sie ihn liebe und sich ihrer wahren Gefühle nun bewusst sei. Die Sache mit Chris sei nur ein dummer, kindlicher Ausrutscher gewesen.
Ryan glaubte ihr jedes Wort. Liebe macht ja bekanntlich blind.
4
Ein paar Wochen später, am Abend des 05. Juli, kam Debbie in die Bar nach, in der wir gerade saßen. Wir behandelten sie nicht schlecht, aber der Umgang mit ihr hatte sich verändert.
Wer wollte uns das verübeln nach allem, was sie abgezogen hatte?
Obwohl es erst drei Tage her ist, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen, wie es dazu kam, dass Debbie und ich kurz allein waren. Jedenfalls kam sie sofort auf den Punkt.
»Du bist sauer auf mich, nicht wahr? Genau wie Steve und Chris.«
Obwohl ich mir große Mühe gab, es mir nicht anmerken zu lassen, war ich außer mir vor Wut. Und dass ich meine Emotionen vor ihr nicht verbergen konnte, machte mich nur noch wütender. Ich gebe zu, ich fand es ziemlich dämlich, dass sie hier war. Vor allem auch, dass sie und Ryan taten, als sei alles in Ordnung. Auf ihn war ich in dem Augenblick ebenfalls sauer, weil er sich so an der Nase herumführen ließ, das Offensichtliche nicht erkennen wollte und an etwas festhielt, das es so nicht mehr gab oder nie wirklich gegeben hatte.
»Liebst du ihn?«, platzte es aus mir heraus in einem Ton, der für das heikle Thema zu scharf war.
Den Blick, den sie mir zuwarf, konnte ich unmöglich falsch deuten.
Als sie nicht antwortete, rief ich: »Das ist ja fantastisch!«
Debbie starrte auf den Boden und stammelte: »Ben, mir geht es … nervlich nicht so … gut. Der Job … zerrt an meiner Substanz. Ich brauche … jemanden. Ich meine, ich … brauche Ryan.«
Als sie kurz zu mir aufsah, zuckte sie zusammen. Anscheinend gefiel ihr nicht, was sie in meinem Blick sah. Ich hätte sie in dem Augenblick nämlich am liebsten erschlagen.
»Ryan ist also ein Notnagel für dich, weil du nicht alle Latten am Zaun hast?«
Ryan hatte wahrlich Besseres verdient. Er war immer für andere da, wollte aber nichts lieber, als mit dieser Schlampe glücklich zu werden.
»Nein, so ist es nicht. Ich liebe ihn, aber eben nicht auf die Art. Auf meine eigene Weise, verstehst du?«, japste sie.
Ich schüttelte entrüstet den Kopf und sagte: »Weißt du, er hat jemanden verdient, der ihn wirklich liebt und ihm nicht nur etwas vormacht.«
»Ich weiß, aber ich …«
»Schon klar, du bist krank und willst nicht allein sein. Lass einfach stecken, ja?«
Dann ging ich weg, um Ryan zu suchen und ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Aber Chris war mir zuvorgekommen. Lange suchen musste ich nicht. Ich fand beide neben der Toilettentür.
Chris brüllte Ryan wegen Debbie an, doch weder der noch Steve, der danebenstand, gaben einen Laut von sich.
Debbie hatte sich inzwischen zu Ryan gestellt und ergriff das Wort.
»Warum brüllst du ihn an?«, fauchte sie. »Glaubst du, du kannst jeden rumkommandieren?«
»Sicher nicht. Dazu bist du ja da, um ihn schön an der kurzen Leine zu halten, weil er vielleicht ohne dich Spaß haben könnte. Er merkt nicht mal, was für eine idiotische Kuh du bist!«
»Was willst du eigentlich?«, schrie sie. »Du bist doch nur darauf aus, uns auseinanderzubringen, damit er wieder mehr nach deiner Pfeife tanzen kann.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte, war entsetzt und konnte mich nicht bewegen.
»Halt deine Klappe, Debbie!«
Das war Ryan.
Niemals hätte ich erwartet, dass Ryan sich gegen sie auflehnte. Ich hatte ihn bis dahin nur als jemanden erlebt, der alles tat, was Herrin Debbie sagte. Zumindest seit sie wieder zusammen waren.
Baff über eine solche Rebellion starrte sie ihn an und schrie: »Du kannst mich mal, du Arschloch!« Dann stürmte sie nach draußen.
»Debbie, warte doch!«, rief Ryan ihr nach. Anscheinend bereute er seine Worte und mutierte sofort wieder zum braven Schoßhund.
Debbie dachte jedoch nicht daran, zu warten.
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass wir im Auto saßen und Debbie verfolgten. Chris saß neben mir und schwieg. Er war es nicht gewöhnt, dass man so mit ihm sprach.
Es waren keine anderen Autos unterwegs, was vermutlich zu den folgenden Ereignissen geführt hat. Wenn mehr Verkehr geherrscht hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen, denn Debbie fuhr ziemlich schnell. Ich holte sie trotzdem ein.
Dann sah ich diese weiße Frau wieder. Sie stand etwa hundert Meter weiter vorn am Straßenrand. Sie schwenkte kurz die Arme über dem Kopf. Und dieses Mal blieb sie meinen Freunden nicht verborgen.
»Was ist denn das für eine?«, fragte Steve murmelnd, und ich bremste fast auf Schrittgeschwindigkeit ab.
Debbie fuhr, ohne langsamer zu werden, auf die Frau zu.
Ich wusste mir plötzlich nicht anders zu helfen, kurbelte mein Fenster herunter und schrie: »Debbie! Vorsicht, da ist jemand!« Natürlich war das zwecklos und mehr als idiotisch.
Dann raste sie – zum Glück – an der weißen Frau vorbei, doch wir sahen alle mehr als deutlich, was innerhalb von diesen Sekundenbruchteilen passierte.
Das weiße Gewand wirbelte um die blanken Füße der Frau herum, als sie ungewollt eine Drehung vollführte – so schnell und nah war Debbie an ihr vorbeigefahren. Sie fing sich aber wieder und streckte einen Arm in die Richtung des Wagens aus, als ob sie ihn einfangen wollte. Dann machte sie eine kurze Bewegung nach rechts. Es war nicht mehr als ein Zucken, aber es reichte aus, um Debbies Wagen von der Straße abzubringen und gegen einen Baum krachen zu lassen.
Die Explosion war ohrenbetäubend.
Ryan schrie auf. Vage hörte ich auch, wie Steve und Chris »Scheiße!« riefen.
Mir war seltsamerweise sofort klar, was ich tun musste, auch wenn das jetzt für dich grausam und herzlos klingen mag.
Anstatt nach Debbie zu sehen, für die ohnehin jede Hilfe zu spät käme, hielt ich neben der weißen Frau an. Ich war und bin einfach davon überzeugt, dass, wenn ich anders gehandelt hätte, wir alle auf dieser Straße gestorben wären.
Dann übernahm mein Instinkt die Kontrolle. Ich drehte mich zu Steve und Ryan um und starrte die beiden an.
Macht ihr Platz um Gottes willen, dachte ich.
Steve verstand, was ich wollte, und rutschte zur Seite. Dabei zog er Ryan mit sich. Die geheimnisvolle Frau stieg ein, und der sonst so geschwätzige Chris hielt sich schweigend und krampfhaft am Armaturenbrett fest. Meine Hände zitterten. Steve und Ryan starrten sie an, aber sie sah nur nach vorn.
Als sie sprach, klang ihre Stimme sanft und vernünftig.
»Kannst du mich nach Hause bringen?«, fragte sie.
Kurz nickte ich, dann fuhr ich los. Ich hatte in meinen sechsundzwanzig Lebensjahren genug Horrorgeschichten gelesen, um zu ahnen, wohin sie wollte.
Als wir an dem brennenden Wrack vorbeifuhren, fing Ryan an zu schluchzen. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie Steve ihm einen Arm um die Schultern legte. Das ließ ihn vollends zusammenbrechen. Er weinte hemmungslos und rief dabei immer wieder Debbies Namen.
Unsere Anhalterin aber wandte sich ihm zu, und diesmal war ihre Stimme tief und voller Bosheit, als sie zischte: »Sie hätte nicht so ignorant an mir vorbeirasen sollen. Es wäre besser gewesen, wenn sie angehalten und mich nach Hause gebracht hätte, dann wäre ihr nichts passiert.«
Ich rechnete damit, dass Ryans Trauer sich in Wut verwandeln und er auf sie losgehen würde, aber er schluchzte nur und murmelte: »Ich habe sie geliebt.«
Ihre sonst ausdruckslosen, weißen und irgendwie toten Augen funkelten ihn an. »Aber sie dich nicht. Sie hat niemals Liebe für dich empfunden, Ryan. Tief in deinem Inneren weißt du das auch. Du warst nur blöd genug, mit dir spielen zu lassen.«
Aus dem Augenwinkel sah ich Chris und wusste, was er gerade dachte. Dieses Wesen, das uns anscheinend kannte, hatte ausgesprochen, was uns schon lange klar gewesen war.
Ryan hielt den Kopf gesenkt und weinte noch immer. Steve sah nach vorn und versuchte, nicht durchzudrehen.
Meiner Eingebung folgend hielt ich kurze Zeit später vor dem Friedhof an und bangte. Was, wenn sie gar nicht hierher wollte, wenn mich meine Intuition in Bezug auf ihr Zuhause getäuscht hatte? Was würde sie dann mit uns machen?
Als sie sich vorlehnte, dachte ich wirklich, sie würde mich bestrafen, aber sie sagte mit ihrer wieder sanften Stimme: »Vielen Dank, Ben.«
Ich spürte, wie ihre Augen auf mir ruhten, als würde sie mich studieren und in mein Innerstes sehen. Ich schaute aber nur nach vorn und hoffte, dass es bald vorbei sein würde.
»Ich möchte, dass du aussteigst. Die anderen müssen nicht hören, was ich dir vorschlagen möchte.«
5
Wir stiegen aus, und ich stand mit zitternden Knien vor ihr. Dahinter ragte das Friedhofstor auf.
»Deine Frau wird einen Sohn gebären, aber sie werden bei der Geburt sterben.«
Ich brachte kein Wort heraus, starrte sie nur mit vor Angst geweiteten Augen an.
»Es gibt eine Möglichkeit, beide zu retten: dein Leben im Tausch gegen das deiner Frau und deines Ungeborenen. Sei dir jedoch darüber im Klaren, dass dieses Angebot einmalig ist. Entscheide dich jetzt, oder das Schicksal wird seinen Lauf nehmen.«
Ich zweifelte nicht eine Sekunde an ihren Worten. Ihr würdet beide sterben, wenn ich diesen Handel nicht eingehen würde. Das stand für mich außer Frage. Diese Frau hatte Debbie innerhalb eines Wimpernschlags getötet, und jetzt bot sie mir an, meine Familie zu retten, indem sie der Vorsehung ein Bein stellte.
»Tu es«, sagte ich und schloss die Augen.
Als sie ihre Hand auf meine Brust legte, zuckte ich unweigerlich zusammen. Ich erwartete höllische Schmerzen, wie ich sie noch nie im Leben gespürt hatte, aber da war nichts. Nur ihre kalte Hand, die ich durch mein dünnes Hemd spürte. Die Hand des Todes.
Ich öffnete meine Augen und wäre beinahe wieder zusammengezuckt. Ihr bleiches Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich atmete kaum und dachte: Du stirbst. Du stirbst jetzt.
Endlich nahm sie die Hand weg. Sie rückte ein Stück von mir ab und sagte: »In fünf Tagen. Du wirst es nicht spüren, das versichere ich dir.« Dann drehte sie mir den Rücken zu und ging, ohne die Pforte zu öffnen, durch das Tor hindurch. Während sie das tat, wurde sie transparent. Auf der anderen Seite drehte sie sich noch einmal um und lächelte. Dann löste sie sich auf und wurde als feiner Rauch in die Nacht geweht.
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