Kitabı oku: «Eine verborgene Welt», sayfa 3
„Ich hoffe, deine Vögel mögen sie“, sagte Rangiolf und hielt ihr den geöffneten Beutel hin. Hiara, die von Weitem leicht mit einer hellen Wolke verwechselt werden konnte, schwebte näher heran. Ihre großen silbernen Augen wanderten interessiert über den Inhalt und ihr rundes milchig weißes Gesicht formte sich zu einem zufriedenen Lächeln.
„Ja“, antwortete sie. Ihre Stimme klang wie der Wind. Dann formte sich aus ihrem Wolkenkörper ein Arm mit einer zartgliedrigen Hand.
„Die!“ Sie zeigte auf die dicke Raupe, die sich auf dem weichen Lager, das die anderen bildeten, genüsslich hin und her räkelte. „Die ist was Besonderes, selten anzutreffen und für Vögel äußerst schmackhaft.“ Nun sah sie den Gniri an und ihm war, als blicke sie in sein Herz. „Mach’ dir keine Sorgen, alles löst sich. Sieh die Raupe als Zeichen. Du bist was Besonderes, Finilya ist was Besonderes, eure Ehe ist besiegelt.“
„Du musst schön sein für die Zeremonie“, Irukye kämmte Rìa vorsichtig das Haar. „Das macht einen guten Eindruck! Und wenn Pythera sieht, was für ein ordentlicher Mann du bist, wird sie vielleicht auch etwas für Rangiolfs und Finilyas Hochzeit spenden.“ Der alte Gniri schüttelte den Kopf.
„Hochzeit, du immer mit deiner Hochzeit. Du weißt genau, dass Finilya noch viel zu jung ist. Außerdem: Was will ein reisender Ovate mit einer Frau?“
„Was will er nicht mit einer Frau?“, gab Irukye zurück. „Hat uns Pythera zu Rangiolfs Ovatenweihe eingeladen oder nicht, he? Das will was heißen! Und überhaupt, Ovaten müssen nicht reisen, nicht wahr, Finilya?“ Sie sah zu ihrer Tochter, die sich ebenfalls das Haar kämmte. Die Gniri zuckte erschrocken zusammen und sie erinnerte sich an die Worte der Heilerin, ihnen Bescheid zu geben – über alles! Was wusste Pythera über ihren und Rangiolfs Weg, was Finilya selbst nicht wusste oder nur ahnte?
‚Alles‘, kam ihr in den Sinn, ‚sie kann hellsehen, das ist einfach so.‘
„Finilya?“ Irukye riss sie aus ihren Gedanken und sah sie groß an.
„Also“, hüstelte die Gniri zögerlich, „komm, Mama, setz dich bitte einen Augenblick zu Rìa, ja?“
„Ich muss noch deinen Vater zu Ende kämmen.“
„Bitte, Mama.“ Irukye hielt inne. Ihre Tochter setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. „Du hast recht. Pythera wird vermutlich etwas drehen, sodass wir heiraten können. Rangiolfs Eltern werden ihre Entscheidung achten müssen. Aber Ovaten, Mama, die reisen viel. Das bedeutet einerseits, dass Rìa keine Mitgift entrichten muss, andererseits aber auch, dass ich euch mit Rangiolf verlassen muss.“ Während sich Irukye noch unschlüssig war, ob sie nun mit Freude oder Trauer reagieren sollte, stand Rìa die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ich weiß, dass du enttäuscht bist, Papa, aber Rangiolf ist ein guter Mann, er wird auf mich aufpassen.“
„Ja“, murmelte der Alte und senkte den Blick. „Genauso wie ich es damals Irukye versprochen habe.“ Er sah sie mit müden Augen traurig an.
„Oh“, rief Rangiolf auf einmal bestürzt, „ich wollte doch meinem Vater Bescheid sagen, wegen der Weihe! Das habe ich ganz vergessen, er wartet schon seit heute Morgen!“
„Dann gebe ich dir die Steine und du kannst schnell zu ihm“, antwortete die Ràktsia und zog einen Beutel aus ihrem Wolkenkleid. „Schau“, sagte sie bekräftigend, „ich habe eine gute Mischung für dich zusammengestellt.“ Sie hielt Rangiolf den geöffneten Beutel hin.
„Das sind genau die Richtigen, für jedes Wehwehchen. Ich danke dir. Wann kommst du wieder?“
„Wenn Retasso kommt“, antwortete Hiara.
„Retasso?“ Rangiolfs Miene verriet aufrichtiges Erstaunen. „Kommt er uns etwa besuchen?“ Hiara nickte lächelnd und verabschiedete sich.
„Hey, warte“, rief ihr der Gniri hinterher. „Wann kommt er denn?“
„Bald“, hörte er sie noch antworten, ehe sie in den Wolken verschwand. Rangiolf starrte noch eine Weile ins Leere, dann besann er sich, kletterte den Baum hinab und eilte zu Gabra. – Der saß vor ihrem Heim auf einem Stein und blickte versonnen in die sonnenbeschienenen Kronen der Bäume.
„Bin da, bin da“, keuchte Rangiolf und blieb vor ihm stehen, „tut mir leid, ich hatte ganz vergessen …“
„Ist schon in Ordnung.“ Gabra machte eine wegwerfende Handbewegung und seufzte leise. „Ich sehe schon, deine Raupen waren dir wichtiger als dein alter Herr, hm?“ Er sah seinen Sohn forschend an.
„Also, Papa, die gute Nachricht ist“, begann Rangiolf sogleich, um Gabra aufzumuntern, „deine Borsten haben dich nicht getäuscht, heute Nacht, wenn der Mond hoch am Himmel steht, ist die Weihe. Pythera sagt, ich soll euch beide mitbringen.“
„Ehrlich? Das hat sie gesagt?“ Gabras Augen wurden groß und rund. Erstaunen und Freude paarten sich darin. „Das muss ich Yhsa sagen!“ Er erhob sich und war schon dabei, den Stamm der Eiche hochzuklettern, als ihn sein Sohn zurück hielt.
„Warte!“ Gabra drehte sich um und sah Rangiolf an. Nackte Angst sprach aus seinem Blick.
„Weißt du, mein Junge“, lächelte sein Vater, „ich lebe mit meinem Weib nun schon länger zusammen als du und ich kann dir sagen: Sie ist stolz auf dich, auch wenn sie es nicht zugibt! Und nun lass mich zu ihr gehen und ihr die gute Nachricht überbringen, und du …“, er sah seinen Sohn eindringlich an, „solltest uns mal über die holde Dame aufklären, wegen der du dich so häufig nachts aus dem Hause schleichst.“
„Ähm … ich …“
„Nein, keine Ausreden, mein Junge. Ich rede jetzt mit deiner Mutter und hole ich sie herunter, und du klärst uns auf, wie und was du zu tun gedenkst.“ Rangiolf spürte, wie ihm schwindlig wurde. Er ließ sich auf den Stein sinken, auf dem eben noch sein Vater gesessen hatte und blickte nun seinerseits gedankenverloren in die Kronen der Bäume. Kaum, dass er sich sammeln und eine Aussage zurechtlegen konnte, standen die beiden schon bei ihm. – Yhsa schrie nicht, noch sagte sie etwas. Stattdessen sah sie Rangiolf mit verschränkten Armen an. Ihre Miene war ernst, aber nicht aufgebracht, stellte der Gniri erleichtert fest. Er räusperte sich umständlich.
„Sie heißt Finilya“, sagte er schließlich langsam, „und ist die Tochter von Rìa und Irukye. Also nicht gerade das, was du dir, Mama, unter einer idealen Ehefrau vorstellst, denn es fehlen ihnen die Ressourcen. Aber ich liebe sie, und ich möchte sie heiraten.“ Während er die Worte aussprach, sah er seine Eltern aufmerksam an. Beide wollten dazwischenreden. „Hört mir zu“, fuhr Rangiolf unvermittelt fort. „Ich werde meine Ovatenweihe erhalten, wie es dir am Herzen liegt, Papa. Und ich werde reisen, wie es ein Ovate tut – aber mit meiner Frau Finilya.“ Eigentlich wusste er gar nicht, ob Finilya mit seiner Entscheidung einverstanden war. Das Gefühl der Zuversicht in seinem Herzen machte ihm jedoch Mut, diese Worte auszusprechen. „Wir werden euch nicht zur Last fallen. Also müsst ihr von Rìa keine Mitgift verlangen, denn er kann sie euch nicht geben. Hiara sagte heute, die Ehe sei besiegelt, und ich möchte ihr glauben. Ich möchte auch, dass ihr heute Nacht zur Weihe erscheint.“ Er sah Yhsa an. Diese rieb sich nervös ihre Hände und blickte zur Seite. Dann nickte sie.
Während Irukye aufgeregt auf der Kralle ihres Zeigefingers herumkaute, rieb sich Rìa nervös die Hände. Finilya zupfte an ihrem weichen Haar herum. Pythera stand bei ihnen und im Gegensatz zu ihrem sonst schlichten Aufzug, trug sie nun ihr Baumgewand, wie es die Leute ihres Volkes nannten. Es war ein festliches Gewand aus einem dunkelgrünen und braunen Material, verziert mit Eichenblättern, Rindenteilen und Wurzelwerk, die niemals vergingen. Die Gniri erzählten sich, dass sie es einst, als die Bäume noch gesprächiger und beweglicher waren, von einer mächtigen Eiche geschenkt bekommen hatte. Wann und wo das gewesen sein soll, darüber spekulierten sie mehr als über den Namen dieses holden Baumes, der ihr angeblich einst diese hohe Ehre erwiesen hatte.
Finilya konnte sich daran nicht satt sehen. Wenn Pythera dieses Gewand trug, glich sie einem Falter, der Mimikry betreibt: Sie verschmolz nicht nur mit ihrer Umgebung, sondern auch mit dem Kleid selbst. Sie wurde unsichtbar – und blieb doch sichtbar. Die Gniri trat näher an sie heran und betrachtete die langen schlanken Eichenblätter, die in ihr Kleid eingearbeitet waren. Sie waren frisch und grün und so zart, dass sie einfach nicht an deren Unvergänglichkeit glauben mochte. Dann sah sie an sich herunter und seufzte leise. Ihre eigene kindlich anmutende Nacktheit war eines solchen Anlasses wirklich nicht würdig, aber sie war nun einmal noch nicht verheiratet. Als hätte Pythera ihre Gedanken erraten, griff sie in eine der vielen verborgenen Taschen ihres Gewandes und holte eine kleine Kette hervor. Wie das Kleid selbst bestand sie aus feinem Wurzelwerk und vielen Eichenblättern. In der Mitte prangte als Anhänger eine wunderschöne goldgelbe Eichel.
„Hier“, sagte sie und hängte sie der jungen Gniri um.
„Danke“, flüsterte Finilya gerührt. – Als Rangiolf mit seinen Eltern kam und sah, dass nicht nur die Heilerin auf sie wartete, blieb er abrupt stehen, sodass Gabra in ihn hineinlief. Yhsa blieb verwirrt stehen.
„Finilya …“, flüsterte der junge Mann fast unhörbar. ‚Wer hat ihre Eltern eingeladen?‘, fragte er sich erschrocken.
„So was habe ich mir schon fast gedacht“, brummte Gabra und kratzte sich seine Armborsten, „schau nur, Yhsa, das sind ihre Eltern.“ Er deutete auf Rìa und Irukye. „Ich glaube“, er leckte sich schmunzelnd die Lippen, „die Auserwählte Rangiolfs ist auch die Auserwählte der Heilerin. Sie will, dass die beiden heiraten.“ Er kicherte leise hinter vorgehaltener Hand. „Also, mein Junge, mach dich auf deine Weihe und auf ein Hochzeitsarrangement gefasst, und du, Yhsa, auch!“ Nun lachte er meckernd.
„Siehst du? Siehst du? Sagte ich doch!“ Sie kniff ihrem Mann sanft in die Seite. Rìa lächelte spitzbübisch, derweil er die Ankömmlinge neugierig musterte. Dann wanderte sein Blick ebenfalls zur Heilerin.
„Du bist … eine Spitzbübin!“, rief er ihr zu.
„Ich weiß“, grinste sie, „ich weiß! Darf ich vorstellen?“, Pythera trat zwischen die beiden Parteien, „Gabra, Rangiolfs Vater und Rìa, Finilyas Vater. Dann Yhsa, Rangiolfs Mutter und Irukye, Finilyas Mutter. Ich habe euch eingeladen, um der Weihe Rangiolfs beizuwohnen und das Arrangement der Ehe zwischen eurem Sohn und eurer Tochter mit einem Handschlag zu besiegeln.“ Endlose Minuten herrschte Totenstille. Rangiolf schluckte trocken. Hilfesuchend sah er zunächst Finilya und dann Pythera an. Die Augen der Heilerin glänzten voller Zuversicht. Gabra und Rìa sahen sich in die Augen und nickten einander zu – und dann kam die lang ersehnte Geste, welche die Ehe offiziell bestätigte.
„Auf Grund besonderer Umstände sollen die Ressourcen gestiftet werden“, fuhr Pythera fort, „von Rangiolfs Familie, mir selbst und denen, die freigiebige Gemüter sind und etwas dazugeben möchten, damit es ein schönes Hochzeitsfest wird. Dafür, Rìa, gibst du deine Tochter in die Obhut dieses jungen Mannes“, sie zeigte auf Rangiolf, „und du, Gabra, gibst deinen Sohn in die kundigen Hände dieser jungen Frau“, sie wies auf Finilya. „Nach der Eheschließung möge sich das Paar entscheiden zu gehen oder bei uns zu bleiben. Ihr beide …“, sie sah nun die Väter an, „erklärt euch bereit, alles in eurer Macht stehende zu tun, damit sie, im Falle ihres Hierbleibens, nicht heimatlos werden, denn das verdient niemand … Ressourcen hin oder her.“ Die Männer besiegelten Pytheras Bedingungen mit einem Handschlag.
„Und nun lasst uns zum Zeremonienplatz gehen.“ Sie ging voraus und alle folgten ihr.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass Pythera dich und deine Eltern eingeladen hat?“, fragte Rangiolf als sie außer Hörweite waren.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du deine Eltern mitbringst?“, stellte Finilya die Gegenfrage.
„Weil ich nicht wusste, dass du kommst!“, antwortete er etwas patziger als er es beabsichtigt hatte.
„Pytheras Wege sind oft unergründlich“, schmunzelte Finilya und kniff ihm sanft in die Wange, „aber nun wird alles gut, du wirst Ovate und die Ehe ist besiegelt!“
„Die Ehe ist besiegelt“, wiederholte Rangiolf mechanisch, „genau so hat es Hiara gesagt, die Ràktsia.“
„Welche Ràktsia?“
„Ah, nicht wichtig!“
„Wir sind da!“, hörten sie Pythera. Finilya blickte auf und musste unwillkürlich lachen. Auch ihr Gefährte konnte seine Überraschung nicht verbergen. Sie standen auf jener Wiese, auf der sie sich nachts heimlich getroffen hatten.
„Hier war das also“, grinste Gabra, der die Reaktion der beiden bemerkt hatte.
„Ja, hier haben wir die Baumsämlinge gepflanzt“, ergänzte Rìa, „nachdem klar war, dass sie im NUTZWALD nicht gut aufgehoben sind.“ Pythera hörte es und lächelte.
„Dann ist dies genau der richtige Ort für deine Weihe, Rangiolf“, sagte sie und trat in die Mitte des Platzes. „Komm! Finilya, du auch. Rìa, du stellst dich vier Schritte hinter Rangiolf in den Norden und du Gabra, stellst dich hinter Finilya in den Süden. Yhsa, stelle dich bitte vier Schritte in westlicher und du, Irukye, in östlicher Richtung auf.“ Nun bildeten alle einen Kreis mit Pythera, Rangiolf und Finilya als dessen Zentrum. Pythera wandte sich an Rangiolf und Finilya.
„Eure Hochzeit“, begann sie und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter, „werden wir noch feiern – mit einer gebührenden Zeremonie. Betrachtet Rangiolfs Ovatenweihe nicht nur als das, was sie ist, sondern zugleich als einen Bund, der uns alle eint. Rangiolf und Finilya: Es ist sehr, sehr wichtig, dass ihr beide eure Heimat niemals vergesst, egal wie weit ihr euch entfernen möget. Dieser Bund ist zugleich ein Bund mit eurer Heimat. Sollte es euch nach langen Reisen je wieder verlangen hierher zurückzukehren, so tut es! Zaudert nicht!“
„Lange Reisen!“, wiederholte Rangiolf leise. Er nahm die Hände seiner Zukünftigen und als sich ihre Blicke trafen, erkannte er, dass auch sie ihre Entscheidung längst gefällt hatte, die Entscheidung, ihm überall hin zu folgen! – Die Heilerin beugte sich zu Finilya herab und trennte die goldene Eichel von der Kette, die sie trug. Sie hielt sie in die Höhe, sodass alle Anwesenden sie sehen konnten und sagte:
„Wà-is dhàt | ai maat aat.“ Nun drehte sie sich nach Norden zu Gabra und fügte hinzu: „Ir-kà wuegioth sa p̣ài.“ Der Gniri verbeugte sich und wiederholte:
„Ir sa pài.“ Die Heilerin wandte sich nach Süden und sah Rìa an.
„Ir-kà hìgioth sa matheri.“ Finilyas Vater machte es Gabra nach.
„Ir sa matheri“, wiederholte er und verbeugte sich ebenfalls. Schließlich sah Pythera Irukye an, die im Osten stand.
„Ir-kà sàgioth sa fàtheri.“
„Ir sa fàtheri“, Irukye verbeugte sich. Als Letztes war Yhsa dran.
„Ir-kà sàgioth sa wóiàt.”
„Ir sa wóiàt“, die alte Frau verbeugte sich ebenfalls.
„Nachdem wir nun den Segen aller vier Himmelsrichtungen, aller vier Elemente und somit der Mutter haben“, rief die Heilerin laut, „möge die Eichel ein Symbol unserer aller Verbindung sein und ein Zeichen eures Bunds der Ehe. Dich, Rangiolf“, sie sah ihn freundlich an, „soll sie in dein Ovatenleben begleiten – Ai sookth haath báis-mechint | moos aath ràhtsa.“ Nun holte sie einen aus feinem, aber äußerst beständigem Wurzelwerk gearbeiteten Stirnreif hervor, legte die Eichel in die mittige Vertiefung und setzte ihn dem jungen Mann auf das Haupt. Finilya sah ihm dabei tief in die Augen und seufzte ergriffen auf.
Tanz am Feuer (Mès-mès-m!-òrit)
Das Licht drang nur spärlich durch die Blätter der Bäume. Eigentlich wäre es an der Zeit, bis zum Anbruch des nächsten Tages eine Rast einzulegen. Aber Retasso wollte nicht. Von einer inneren Unruhe getrieben ging er weiter, denn er fühlte, dass es bis zu Pythera nicht mehr weit war. So beschleunigte er seinen Schritt und versuchte, die unheimlichen Geräusche, die von allen Seiten zu ihm drangen, zu ignorieren.
„Ich gewöhne mich an vieles, aber daran niemals“, murmelte er leise. Retasso hielt inne und richtete seine Ohren auf. Rings um ihn herum raschelte das Laub auf dem Waldboden. Dabei konnte er kaum unterscheiden, ob diese Geräusche nun von einem Vogel, einem Reh oder gar einem Wildschwein stammten, derer es in den Wäldern des Westens viele gab. Oh, dieses Fiepen und Nagen, das scheinbar von überallher gleichzeitig zu kommen schien.
„Das sind Mäuse“, redete er sich gut zu. „Ich bin doch keine Memme, bin in allen Teilen der Erde gewesen, bin überall heil durchgekommen.“ Und doch … – Er wusste, warum er sich so fürchtete. Es waren weder das Fiepen und Nagen noch das Rascheln des Laubs, das ihn erschauern ließ. Seine größte Angst war es, einem Wildschwein zu begegnen. Er hatte noch nie eins gesehen, nur ihre Wühlspuren erkannt, aber die Horrorgeschichten, die ihm seine Mutter als Kind über die angeblich schlimmsten aller Biester erzählt hatte, saßen ihm tief in den Knochen. Als er gerade in Gedanken seine Mutter schalt, sah er etwas in der Ferne: die Lichter von Iàtranür Tarà4. Vielleicht hatten die Leute dort gespürt, dass er kommen würde, sie schienen alle noch auf zu sein.
„Pythera muss es ihnen geweissagt haben“, murmelte der Gniri. „Hoffentlich sehen sie die Flecken auf meiner Kleidung nicht.“ Mit seinen dunkelbraunen Augen beäugte er sich skeptisch. „Ach, und die Geschenke, ich habe wohl niemanden vergessen …“ Er sah wieder zu den Lichtern und stellte verblüfft fest, dass sich dort inzwischen eine ganze Traube gesammelt hatte. ‚Immer diese riesigen Empfänge, als würde ein F…‘ – Retasso blickte lächelnd in die neugierigen Gesichter, die ihn aufmerksam musterten. Frauen und Männer standen am Wegesrand. Manche gaben ihm die Hand, andere schauten misstrauisch drein. Retasso wusste, dass nicht alle aus Pytheras Volk ihn mochten, vor allem weil man munkelte, er hätte Kontakt zu Menschen. Aber die Kinder liebten ihn, auch jene, die zum ersten Mal seinen Besuch erlebten.
„Retasso, Retasso, was hast du uns mitgebracht? Wo warst du? Was hast du erlebt?“, fragten sie, während sie ihre kleinen Hände nach den Geschenken ausstreckten, die er aus seinem großen Rucksack zog.
„Oh, Ùiuur, du bist aber groß geworden seit ich das letzte Mal hier war“, staunte er über einen schlanken Knaben, der ihn freudig anstrahlte. „Hier, das ist für dich! Du wolltest doch immer eine Flöte haben.“ Der kleine Gniri bekam glänzende Augen.
„Danke, danke!“, rief er und rannte sogleich zu seinen Eltern, um ihnen die Kostbarkeit zu zeigen. Retasso blickte ihm lächelnd nach. Als der Knabe eilig aus der Menge verschwand, streifte er versehentlich einen jungen Mann, der etwas im Abseits stand. Retasso erkannte ihn sogleich: Es war Pytheras Schüler Rangiolf. Er war zwar ein wenig älter geworden, ansonsten hatte er sich jedoch kaum verändert.
‚Wahrscheinlich ist er noch genauso neugierig auf Menschen wie eh und je‘, dachte er, während er ihm freundlich zunickte. Rangiolf lächelte und erwiderte den Gruß. Dann trat er zur Seite, denn Pythera war gekommen.
„Retasso, mein Freund, wie schön dich zu sehen“, rief sie aus, rannte auf ihn zu und nahm ihn herzlich in die Arme.
„Ja, meine Liebe! Ich dachte, ich komme dich wieder besuchen. Es ist schon lange her, nicht wahr?“ Er drückte sie an sich und wollte sie vor Freude nicht mehr loslassen. „Ich muss gestehen, ich habe dich wirklich vermisst“, flüsterte er.
„Komm“, sagte Pythera laut und löste sich lächelnd aus seiner Umarmung. „Lass uns zum Platz gehen, wir haben ein Fest vorbereitet …“
„Woher wusstest du, dass ich komme?“, fragte der Gniri verwundert.
„Ein kleines Vögelchen hat es mir zugeflüstert“, antwortete Pythera mit einem Seitenblick auf Rangiolf, der immer noch an derselben Stelle stand und sie aufmerksam beobachtete. „Übrigens, weißt du schon das Neueste? Mein Schüler hat seine Ovatenweihe erhalten!“
„Das sind ja gute Nachrichten“, rief Retasso aus, derweil er Rangiolf nicht aus den Augen ließ.
Rangiolf kannte Retasso kaum, aber er mochte seinen Ovatenkollegen und suchte, wann immer es ging, das Gespräch mit ihm. Auch jetzt verlangte es ihm danach, doch er wusste, dass er nicht einfach ungefragt in andere Gespräche hineinplatzen durfte. Er hielt nach Finilya Ausschau und als er sie im Festgetümmel erkannte, rannte er zu ihr.
Der Festplatz befand sich auf der Lichtung inmitten von Pytheras Eichenhain. Dem Ortskern eines Dorfes gleich fanden hier allerlei Zusammenkünfte statt, in schwierigen Zeiten versammelte und beriet man sich hier. Heute war ein helles Feuer entfacht und rundherum lagen Matten ausgebreitet. In den Zweigen der Bäume hingen bunte Lampions und die Luft war erfüllt vom würzigen Duft delikater Speisen und schmackhaften Branntweins.
„Komm, mein Lieber, setz dich!“ Die Heilerin wies auf einen freien Platz, der zwar nah am Feuer aber abseits des Trubels lag. „Du hast sicher Hunger. Wahrscheinlich hast du dich die ganze Zeit nur von Feigen ernährt“, lachte Pythera.
„Apropos Feigen“, fiel Retasso ein, „schade, dass Finilya nicht da ist. Ich habe ihr welche mitgebracht.“
„Falls du sie nicht triffst, kannst du sie mir oder Rangiolf geben.“
„Rangiolf? Was hat er mit ihr zu tun? Heiratet er sie etwa?“ Retassos Miene verriet aufrichtiges Erstaunen.
„Tu nicht so, als hättest du es nicht schon von Anfang an geahnt“, sagte Pythera. „So, wie die beiden bei deinem letzten Besuch miteinander geturtelt haben, war das doch vorauszusehen.“
„Wie machen sie das denn mit den Ressourcen?“
„Ich gebe etwas und Rangiolfs Familie auch. Wer mag, kann sich anschließen.“
„Wo werden sie wohnen?“
„Sie werden wohl fortziehen. Ich vermute, Rangiolf hat immer noch diese fixe Idee, seinen Freund Sutia im PARK zu besuchen.“ Als er dieses Wort vernahm, verdunkelte sich Retassos Miene.
„Hätte ich ihm diese Flausen nur nie in den Kopf gesetzt“, flüsterte er und rieb sich müde das Kinn.
„Sein Freund lebte dort schon, bevor du ihm die Bedeutung dieses Wortes erklärt hast“, antwortete die Heilerin schlicht. „Warte auf mich, ich komme gleich wieder.“ Pythera erhob sich und ging zu den ausgebreiteten Matten, auf denen eine große Vielfalt an Speisen drapiert lag. Nach kurzer Zeit kam sie mit allerlei Köstlichkeiten beladen wieder. „Schau“, sagte sie, „hier habe ich feinen Schnaps für dich und deine Lieblingsspeise, weiches süßes Riàt. Und die Spezialität des Hauses, Pìrcha-füür.“
„Kiefernrindenkuchen?“ Der Gniri runzelte die Stirn. „Na ja, die Rinde ist nicht giftig, aber sie schmeckt auch nicht besonders, stimmt’s?“
„Probier sie doch einfach, dann wirst du es merken“, lächelte die Heilerin. Sie legte eine der Köstlichkeiten auf ein großes Blatt und reichte es ihm. Retasso schnupperte neugierig daran, dann schob er sich ein Stück in den Mund und kaute bedächtig.
„Nicht schlecht“, er leckte sich über die Lippen, „wie TO-FU bei den Menschen. Wenn man es richtig zubereitet, bekommt es Geschmack.“
„Es gibt wirklich keinen Ort auf dieser Welt, an dem du nicht warst, hm?“ Retasso entging die Wehmut in Pytheras Stimme nicht.
„Ich ahne, was du damit sagen willst“, sagte er ernst. Pythera nickte.
„Ja, genau das. Ich bitte dich, die Druidenweihe anzunehmen.“
„Du kennst meine Meinung dazu“, erwiderte der Ovate trotzig und trank einen Schluck aus der kleinen irdenen Flasche mit dem schmalen Hals. „Ich sehe, du trägst dein schönes Kleid?“
„Retasso, du lenkst vom Thema ab.“ Pytheras bernsteinfarbene Augen ruhten auf ihm.
„Ich müsste mehrere Jahre hierbleiben und dir dienen!“ Er seufzte. „Das ist nicht das, was ich will. Ich … will einen eigenen Schüler. Wie du einen hast. Einen, den ich ausbilden kann, du weißt, es gibt von uns Heilern nicht mehr viele. Was meinst du, warum ich so viel reise?“
„Weil du einen unstillbaren Freiheitsdrang hast, mein Freund“, antwortete die Gniri leise.
„Ah, komm mir nicht wieder damit. Bei unserer Arbeit geht es um mehr als um Bardengesänge oder Heilsteine für Wehwehchen. Wir wollen die Vereinigung der Naturwesen-Völker bewirken, die nur vereinzelt und weit über das Land versprengt leben. Ein vereinigtes Kaiserreich mit großen Königsgeschlechtern? Das war mal!“
„Retasso, das Thema hatten wir schon so oft.“ Bitterkeit schwang in Pytheras Stimme mit. „Wie oft habe ich dich gebeten, hierzubleiben und mir zu helfen? Von allen Herren Völkern kommen Leute zu mir, damit ich diese eigenartige Krankheit heile, die alle befällt. Doch das einzige, was ich tun kann, ist, ihre Schmerzen zu lindern. Manche von ihnen kommen heimlich. Verstehst du? Heimlich! Nur weil irgendein Dhàrdhatsfürst zu hochnäsig ist, um seine Untertanen von einer Gniri behandeln zu lassen.“
„Wenn du ihnen nicht helfen kannst, ist mir das erst recht nicht möglich. Ich brauche einen Schüler, der eine starke Persönlichkeit hat. Es geht mir darum, die Entwicklungen der Zeit zu erkennen und die Menschen wieder an unsere Existenz zu erinnern. Mein Schüler muss sich dafür einsetzen, er soll die Vereinigung der Naturwesenvölker vorantreiben und als Informant für die Menschen fungieren!“
„So-so, als Informant für die Menschen … Hör dich mal reden, Retasso. Du bist ein Tagträumer und Idealist – und ein Sturkopf!“, antwortete Pythera matt. „Wir sind uns doch selbst nicht mal einig, und dann wollen wir zu den Menschen gehen? Du solltest dich lieber um dein eigenes Fürstentum kümmern, das immer noch in der Verwaltung deines Bruders Ìrtha liegt. Oder um die vielen Kranken, die an meine Tür klopfen.“
„Mein Fürstentum“, wiederholte Retasso verächtlich. „Ich bin Fürst und Heiler. Ich dachte, sie würden mich deshalb mehr respektieren und mir besser zuhören. Aber weit gefehlt: Ich schaffe es einfach nicht, sie in ihrem Denken zu beeinflussen. Sie denken immer noch wie vor Tausend Jahren, halten sich für die Krone der Schöpfung, dabei sind sie Gniri, Pythera! Gniri, die einst von Dhàrdhatsfürsten versklavt wurden und nur durch Blut und Krieg ihre Ämter erhielten, die damals der wirklichen Krone der Schöpfung vorbehalten waren. Und nun frage ich dich: Wer ist die Krone der Schöpfung? Der Mensch, der zu Milliarden den Erdball bevölkert? Der Gniri? Oder die spärlichen Überreste der königlichen Dhàrdhatsgeschlechter? – Soll Ìrtha das Ding doch haben.“
„An dem ‚Ding‘, wie du es nennst, hängen aber viele Leben!“
„Pythera.“ Der Gniri sah auf einmal müde und gebeugt aus. „Versteh mich doch.“ Er nahm ihre Hände und sah sie mitfühlend an. „Ich kenne das Problem der Schwarzen Krankheit, aber ich habe noch kein Heilmittel gefunden. Die einzige Rettung, so besagt Namrahìs Prophezeiung, besteht in einer auserwählten Mischkreatur von Mensch und Naturwesen. Sie kann die Schwarze Krankheit heilen, die ja eine Folge des Weltenbruchs ist, der vor langer Zeit bewirkt hat, dass die Menschen uns vergaßen. Nur solch ein Wesen kann die Welten einen und uns den Kontakt zu den Ur-Ahnen im Jenseits wieder ermöglichen. Die Möglichkeit seiner Existenz will ich nicht bestreiten, nur – ich habe so ein Geschöpf noch nicht getroffen. Also suche ich mir einen Schüler und bilde den dafür aus. Das ist mir lieber, als auf eine Fantasiegestalt aus Prophezeiungen zu warten.“
„Ich hätte da einen Vorschlag.“ Pythera nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und sah ihn geradezu an. „Geh nach Fisàr Tarà5. Dort triffst du den jungen Parthion.“
„Parthion?“ Retasso runzelte die Stirn. „Du machst Scherze! Der Kerl ist doch der Sohn der Fürstenfamilie. Seine Eltern wollen ihn auf die Militärakademie schicken. Seine Karriere ist also längst beschlossen!“
„So, ist sie das?“ Die Heilerin hob ihre buschige Augenbraue. „Bei dir war das auch eine beschlossene Sache oder irre ich mich?“
„Was willst du mir vorwerfen?“, blaffte Retasso sie wütend an.
„Gar nichts. Aber bedenke doch, entweder bist schneller dort, als seine Eltern ihn in die Akademie schaffen können oder du wartest 50 Jahre, bis seine Ausbildung dort beendet ist und ergreifst die Chance dann!“
„Schneller dort?“
„Ja, schneller dort!“
„Woher weißt du, dass er mein Schüler werden will?“
„Zweifelst du etwa jetzt schon an deinem Vorhaben? So kurz, nachdem du es ausgesprochen hast?“
„Nein, nein …“ Retasso rieb sich nervös das Kinn. „Aber Parthion? Der wird das nie und nimmer wollen! Ich werde auf keinen Fall den weiten Weg zurücklegen, nur damit er mir ins Gesicht bellt, dass ich mich zum Teufel scheren soll!“
„Aha, dann willst du … wohin genau gehen? Ziellos durch die Weltgeschichte irren? In der Hoffnung, dass dir ein Schüler irgendwann in den Schoß fällt? Außerdem liegt Fisàr Tarà auf dem Weg zu dir nach Hause. – Erinnere dich an deinen letzten Besuch dort.“ Retasso wurde auf einmal ganz still. Bilder nahmen vor seinem inneren Auge Gestalt an.
„Du erstaunst mich immer wieder, Pythera“, sagte er leise, „woher weißt du, was ich dort erlebt habe? Ich habe es dir nie erzählt.“
„Woher ich das weiß, spielt keine Rolle! Glaub mir, Parthion ist ein guter Junge. Er ist verschlossen und etwas wortkarg, aber umso intelligenter und sehr begabt.“
„Als ich das letzte Mal dort war, habe ich am Wasser gesessen und er war dabei. Er hat nichts gesagt, Pythera, immer nur dem gelauscht, was ich anderen zu sagen hatte.“
„Das spricht doch für sein Interesse“, antwortete die Heilerin schlicht. Da musste der Gniri ihr recht geben.
„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, ihn zu fragen, und wahrscheinlich würde er auch ja sagen, aber …“, Retasso strich sich nervös über das spitze Kinn.
„Seine Eltern haben nicht mehr Autorität als du, Retasso, und du verfügst über zwei Qualifikationen: der eines Fürsten-Kriegers und der des Heilers. Du kannst den Jungen in beidem unterweisen. Sie können dir also nicht vorwerfen, dass ihr Sohn etwas versäumt, wenn er in deine Lehre tritt.“ Retasso atmete erleichtert auf. Er fühlte sich verstanden.
„Und nun lass uns nicht mehr über Geschäfte reden, sondern feiern! Siehst du die Musikanten dort? Sie warten schon auf uns!“ Die Heilerin kniff ihm zärtlich in die dunkle Wange.