Kitabı oku: «Eine verborgene Welt», sayfa 6

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In der Psychiatrie (Giri-ù thra-ha)

Ihre Eltern waren nicht zu Hause, und das war auch gut so. Keiner sollte sie in diesem aufgelösten Zustand sehen, das würde nur unangenehme Fragen nach sich ziehen. – Im Frühjahr war sie 20 geworden, sie hatte das Abitur in der Tasche und wartete auf einen Studienplatz in Biologie, also war sie eine gute Tochter. Oder?

Noromadi saß auf dem Bett und sah in den Spiegel gegenüber. Große schwarze Augen blickten sie aus einem kleinen runden Gesicht mit hohen Wangenknochen an. Ihre Haut war dunkel, das pechschwarze Haar fiel in dicken, widerspenstigen Locken über ihre schmalen Schultern. Manchmal, so schien es ihr, fühlte sich ihr Schopf an, als bestünde er aus lauter Borsten, die sich kaum bändigen ließen. Sie sah auf ihre Hände, die klein und schmal waren wie sie selbst, aber auch irgendwie spitz, fand sie – fast wie Pinzetten. Noromadi fand ihr Aussehen unnatürlich, einfach nicht normal!

Sie zweifelte an sich und fragte sich zum wiederholten Mal, wie so jemand wie sie, die Tochter dieser Eltern sein konnte? Ihr Vater war großgewachsen und blond, ihre Mutter etwas kleiner, sie hatte hellbraunes, leicht rötlich schimmerndes Haar. Es waren ganz normale ehrbare Menschen mit einem gut bezahlten Job, einem Eigenheim und kleinen Garten. Was also hatte jemand wie sie bei solchen Menschen zu suchen? Tränen sammelten sich langsam in ihren dunklen Augen.

„Ich muss es jemandem erzählen“, flüsterte sie mit heiserer Stimme, „sonst platze ich! Aber wem? Wem soll ich es sagen? Nicht, dass sie mich wieder in die Psychiatrie stecken, wie damals, als ich mich umbringen wollte. Dabei hatte ich doch nur diesen Engel gesehen, der war so wunderschön. Ich wollte zu ihm, fort von diesem schrecklichen Ort auf der Erde, fort von diesen normalen Menschen …“ Die junge Frau stockte und rieb sich aufgeregt die kleinen, spitzen Hände. „Noromadi, lass den Unsinn, du musst zur Vernunft kommen“, ermahnte sie sich. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und dachte angestrengt nach. „Martin! Martin wird mich verstehen. Er ist doch mein Freund. Er liebt mich. Er wird mir zuhören und mich in den Arm nehmen, mich unterstützen … – Halt, stopp! Ist Martin wirklich der richtige?“ Martin war seit zwei Jahren ihr Partner: ein großer schlanker Mann mit dunkelbraunem kurzem Haar und wachen grauen Augen. Er studierte Informatik und war auf gewisse Weise brillant! Binnen kürzester Zeit konnte sein scharfer Verstand eine Fülle komplexer Zusammenhänge erfassen und zusammenfügen. Ein waschechter Naturwissenschaftler eben. In seiner Welt gab es nichts, was nicht logisch erklärbar wäre. Alles, was er erlebte, konnte er beweisen und begründen. Noromadi sah bei sich das Problem, weil sie das nicht konnte.

„Nicht mit dem, was ich erlebt habe. Das ist einfach nicht begründbar, nicht beweisbar, außer mir, sieht es ja keiner“, schluchzte sie. Trotzdem erhob sie sich, wankte zitternd zum Telefon und wählte Martins Nummer. Am anderen Ende klingelte es: ein Mal, zwei Mal … die junge Frau spürte, wie ihr das Herz bis in den Hals klopfte.

‚Er ist bestimmt nicht zu Hause‘, dachte sie und wollte schon auflegen, als sich Martin meldete.

„Hallo Schatz“, hörte sie ihn sagen, „ich bin gerade zur Türe rein und wollte dich anrufen, ob du Lust hast, mit mir einen Kaffee zu trinken. Es ist so herrliches Wetter.“ Die kleine Frau strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schluckte die Verzweiflung hinunter.

„Das ist schön“, bemühte sie sich, in einem heiteren Ton zu antworten, „der Sommeranfang lässt grüßen!“ Eigentlich hatte sie gar keine Lust, ihr Thema mit ihm an einem öffentlichen Ort zu besprechen. Andererseits, wo sollten sie hin? Hier, in ihrem Zimmer, wollte sie nicht reden, und die kleine Studentenbude, in der er wohnte, schien ihr auch nicht geeignet zu sein. Wenn sie es recht bedachte, gab es für solche Gespräche überhaupt keinen rechten Ort – und auch keine rechte Zeit.

‚Vielleicht beruhige ich mich auf dem Weg, dann behalte ich es einfach für mich‘, schoss es ihr durch den Kopf, ehe Martin sie aus den Gedanken rief.

„Also! Möchtest du?“, hörte sie ihn ungeduldig nachhaken.

„Ähm … ja, gerne.“

„Dann treffen wir uns in einer halben Stunde in unserem Lieblingscafé. Ich spendier dir auch ein Eis, wenn du möchtest.“

„Ja, gerne … bis dann“, antwortete sie und legte auf.

‚Noromadi, du dummes Ding‘, schimpfte sie sich, ‚du musst den Mund halten. Diese Dinge sind nicht für seine Ohren bestimmt. Er wird dich für verrückt halten. – Aber irgendwem muss ich es doch erzählen.‘

„Ach, ich schau mal!“, sagte sie sich laut und verließ das Haus. Es war in der Tat ein schöner Tag. Die Sonne schien schon ziemlich warm und nur ein paar harmlose Schleierwolken zogen über den Himmel. Die Vögel zwitscherten und es duftete nach frischem Gras und fruchtbarer Erde. Es war zweifelsohne ein Segen, dass ihr Haus so nah am Wald lag. Noromadi blickte sehnsuchtsvoll zur kleinen Allee, die in das grüne Reich führte. Schon als Kind hatte es sie in den Wald gezogen. Er gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, das sie sonst vermisste.

„Nein, jetzt nicht!“, ermahnte sie sich. Sie drehte dem Wald den Rücken zu und stapfte entschlossenen Schrittes zu der einzigen Haltestelle des kleinen Ortes. Der Bus kam pünktlich und sie stieg ein. Im Inneren war es heiß und stickig, zum Glück fuhren nur wenige Fahrgäste mit, dicht gedrängte Menschenmassen machten ihr Angst. Nach einigen Minuten stieg sie erleichtert aus und sog tief die frische Luft ein.

‚Nicht so rein wie bei uns draußen, aber für eine Stadt ganz in Ordnung‘, dachte sie, während sie dem Café entgegenhastete. Sie fühlte sich schon viel ruhiger, doch sobald sie an das Ereignis dachte, das sie seit Tagen beschäftigte, überfielen sie sofort heftige Emotionen und Zweifel nagten in ihr. Sie spürte mehr denn je den Druck, diese Gefühle mit jemandem zu teilen. Von Weitem schon sah sie Martin an einem Tisch vor dem Café sitzen und Cappuccino schlürfen. Als sie auf ihn zukam, erhob er sich von seinem Stuhl, umarmte sie herzlich und gab ihr einen kurzen Kuss auf den Mund.

„Da bist du ja!“, sagte er erfreut. „Ich dachte schon, du bist unterwegs verschollen!“ Dann sah er ihr in die Augen und stutzte. „Was ist? Hast du geweint?“ Noromadi betrachtete gedankenverloren das bunte Wechselspiel seiner Aura – Farben, die nur sie sah. „Noromadi, ich rede mit dir, was ist los?“ Martin rüttelte sie leicht, sie schrak aus ihren Gedanken und sah ihn mit großen Augen an. „Ich hab doch schon am Telefon gemerkt, dass etwas nicht mit dir stimmt. Was ist passiert?“

„Ich … ich …“, stammelte sie und schon rannen ihr wieder Tränen über die Wangen, „ich muss dir was erzählen.“ Sie bestellte sich einen Kaffee und trank in kleinen hastigen Schlucken, derweil Martin gespannt wartete. Sie war hin und her gerissen, sollte sie es ihm sagen oder nicht? Doch nun konnte sie nicht mehr zurück. Sie atmete tief ein und begann:

„Ehrlich gesagt, habe ich ein wenig Angst, es dir zu erzählen.“

„Aber warum?“, fragte der junge Mann perplex.

„Weil du mich dann sicher für verrückt hältst.“ Martins Augen verengten sich, ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Irgendetwas war an dieser Frau, das er nicht verstand. Etwas Unheimliches ging von ihr aus. Trotzdem, es konnte doch unmöglich etwas geben, was sie ihm aus Angst verheimlichte. War es ein anderer Mann?

„Nein, nein, kein anderer Mann“, sagte sie und rieb sich zerstreut die Schläfen. Martin erschrak. Hatte sie etwa seine Gedanken gelesen?

„Was ist es dann?“, fragte er unsicher. Noromadi seufzte.

„Bitte, halte mich nicht für verrückt, und … erzähl es niemandem, ja?“ Sie sah ihn eindringlich an. „Versprich es mir!“

„Ja, ja, okay, ich verspreche es“, antwortete Martin unsicher und neugierig zugleich.

„Wahrscheinlich hast du in deinen Naturwissenschaften schon herausgefunden, dass es Dinge gibt, die man nicht erklären kann, zumindest nicht mit dem logischen Verstand.“ Martin fürchtete, dass dieses Gespräch wieder auf ihre Halluzinationen abzielte und wollte schon aufspringen, aber er hielt sich zurück, er wollte ihre Geschichte hören.

„Ich“, sie schluckte, „ich kann deine Aura sehen. Ich weiß, dass du im Moment sehr aufgewühlt bist und andere Energiefelder sehe ich auch. Das ist keine Einbildung, so wahr ich hier vor dir sitze! – Daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Oder besser: Ich habe mich damit abgefunden. Aber das, was ich im Wald erlebt habe, das sprengt alles!“ Ihre Stimme zitterte und in ihren Augen funkelte die Angst.

„Was hast du im Wald erlebt?“, fragte Martin mit einer Mischung aus Neugier und Mitleid. Noromadi sah auf, sie gewahrte seine Skepsis.

„Bitte, Martin, so glaube mir doch!“, flehte sie. „Ich habe Kontakt zu sehr hellen Lichtwesen. Sie bestehen aus buntem Licht und ich … ich nenne sie Engel, weil sie sehr freundlich sind und mir wertvolle Ratschläge erteilen.“ Ihr Freund runzelte die Stirn. „Normalerweise höre ich ihre Stimmen in meinem Kopf und nehme sie als innere Bilder wahr. Aber als ich neulich im Wald war, da ist mir ein solches Wesen erschienen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich es leibhaftig vor mir gesehen und nicht nur im Kopf. Du hättest das sehen sollen: diese Farben, dieses Licht und diese unglaublich warme und volltönende Stimme. In dem Moment fühlte ich mich wie im Himmel – sicher und geborgen. Das Wesen stellte sich vor und erzählte mir die unglaublichste Geschichte meines Lebens!“

„Wie lange geht das schon, dass du so was siehst?“ Martin vermied es geflissentlich, das Wort wieder zu benutzen.

„Ah, schon lange“, Noromadi machte eine wegwerfende Handbewegung, „ich wollte es eigentlich niemandem erzählen, aber es war so schön, zu schön, um es für mich zu behalten. Und außerdem … na ja, es ist ja nicht nur das, vor allem ist es die Geschichte, die mir der Engel erzählte. Seitdem ich die kenne, war ich nicht mehr im Wald!“

„Was für eine Geschichte war das denn?“

„Er erzählte mir vom Weltenbruch. Er sagte, früher hätte es eine Welt gegeben, in der jeder Jeden sehen konnte. Da sahen wir Menschen die Lichtwesen und Wesen der Natur. Und dann, sagte er, wäre die Welt wie ein Kuchen in drei Teile zerborsten, und deshalb gäbe es nun drei voneinander getrennte Welten: die der Menschen, die der Naturwesen und die geistige Welt der Lichtwesen. Wir Menschen hätten mit der Zeit vergessen, dass es die Welten der anderen gibt, deswegen sähen wir sie nicht mehr. Damit gehe es uns nicht gut, und auch die Naturwesen litten darunter, dass sie den Kontakt zu den Lichtwesen und uns verloren haben. Das alles bekommt natürlich auch der Erde nicht, denn alles, was eigentlich zusammengehört, ist entzweigebrochen. Dann erzählte mir der Engel von einer Prophezeiung. Nämlich, dass eines Tages ein Mischwesen erscheine, das zum Einen aus dem Naturvolk und zum Anderen aus dem Volk der Menschen stamme, und das diese Welten vereine. Dabei sah er mich ganz eindringlich an, weißt du? Ganz so, als sollte ich das sein! Ich zitterte am ganzen Körper. Aber er strich mir durchs Haar und sagte: ‚Es ist ganz wichtig, dass du dich nicht fürchtest, mein Kind.‘“ Noromadi wollte fortfahren und erklären, was der Engel ihr von diesem fremden Volk geweissagt hatte, aber sie schluckte die Worte hinunter, Martins Aura gefiel ihr gar nicht.

„Du glaubst also, du bist diese Auserwählte?“, er sah sie skeptisch an.

„Ich … ich“, stammelte sie, „ich weiß es nicht. Ich meine, es ist etwas Spezielles, solche Dinge zu sehen, und es ist umso unheimlicher, auf einmal da mit hineingezogen zu werden. Ich weiß es nicht … Sieh mich doch mal an, Martin, und dann sieh dich an. Ich bin dir nicht geheuer, zu Recht, denn ich bin nicht von dieser Welt.“ Sie schluchzte und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Die Leute an den Nachbartischen starrten herüber, das war dem jungen Mann sichtlich unangenehm.

„Na, komm schon“, flüsterte er, „hör auf zu weinen.“

„Ach“, schluchzte sie, „vielleicht hast du recht, vielleicht ist dieser ganze Kram der reinste Psycho-Unsinn. Am liebsten würde ich alles stehen und liegen lassen und mich verkrümeln. Irgendetwas fände sich schon …“

„Für was?“, bohrte Martin nach. „Sag nicht, du möchtest dich mal wieder umbringen!“, setzte er mit einem leisen Anflug von Panik hinzu. „Hat dir das eine Mal nicht gereicht? Musst du wieder damit anfangen? Warum, in Herrgottsnamen, beschäftigst du dich nicht wie andere Frauen mit normalen Dingen, Partys, Kino und was weiß ich alles?!“

„Ich kann doch nichts dafür!“, schluchzte Noromadi hilflos. „Ich will das doch gar nicht. Ich will normal sein, so wie du und die anderen Frauen, wie meine Eltern und wie alle Menschen.“

„Gut!“ Martin beruhigte sich und legte seinen Arm um sie. „Versprich mir, dass du nie wieder an solchen Unsinn denkst, hast du verstanden?“ Er sah sie eindringlich an. „Ich liebe dich, hörst du? Und ich will dich nicht an irgendwelche Psychoklempner verlieren, die dich wegsperren und mit Medikamenten vollpumpen, bis du nur noch ein Schatten deiner Selbst bist!“

„Du erzählst es niemandem, ja? Versprich es mir!“

„Okay, okay, ich verspreche es! Und nun wisch dir die Tränen aus dem Gesicht und setz dich wieder gerade hin, wir werden hier noch zum Gespött der Leute. Du trinkst jetzt deinen Kaffee aus, gehst nach Hause und legst dich etwas schlafen. Hast du verstanden?“ Noromadi nickte ergeben. Insgeheim fühlte sie sich jedoch wie ein kleines Kind zurechtgewiesen und verraten. Nicht nur, dass er sie nicht ernst nahm, er hielt sie wirklich für verrückt. – War sie es? Wut keimte in ihr auf, aber sie sagte nichts, sondern tat, wie ihr geheißen. Bei der Verabschiedung umarmte sie ihn matt, sein Kuss fühlte sich kalt und herzlos an.

Auf dem Weg zur Haltestelle fragte sie sich, ob Martin wirklich der Richtige für sie war. Bisher hatte sie ihn immer als eine Art „Realitätsanker“ gesehen, der sie am Boden der Tatsachen hielt und ihr aufzeigte, wie „Normal-Sein“ funktionierte. Natürlich wollte sie normal sein, aber es ließ sich immer weniger leugnen, dass sie es nun einmal nicht war.

‚Er braucht eine Frau, die so ist wie er. Eine, für die nur der Verstand zählt, eine strebsame junge Naturwissenschaftlerin aus gutem Hause, die Manieren hat und weiß, was sich gehört. Mit ihr kann er sich dann über die logischen Zusammenhänge der Welt unterhalten und eineinhalb Kinder zeugen.‘ Noromadi schüttelte den Kopf. ‚Sei nicht so gehässig‘, fuhr sie sich an. ‚Hättest du dir einen Typen geangelt, der so ist wie du, meine Güte, dann wärt ihr beide irgendwo im rosafarbenen Nirwana verschwunden. Also sei froh, dass du Martin hast!‘ – Sie seufzte und stieg in den Bus. Als sie zu Hause ankam, war sie froh darüber, dass ihre Eltern noch nicht da waren. Sie ging auf ihr Zimmer und legte sich ins Bett. ‚Ich muss aufhören zu denken‘, dachte sie, ehe sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

Doktor August betreute Noromadi seit sie vor gut drei Jahren aus der geschlossenen Anstalt entlassen worden war und sie besuchte seine Sprechstunde wöchentlich. Die vielen Sitzungen hatten zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Mit Stolz blickte der Psychiater auf seine Patientin, die nach dem gelungenen Schulabschluss nun aufs Studium wartete. Sie mochte zwar nicht überragend gescheit sein, aber sie hatte sich durchgebissen und war zu einer durch und durch integrierten jungen Frau geworden. Was ihm ihre Eltern kürzlich über sie berichtet hatten, konnte daher kaum möglich sein. Als Freund der Familie lag ihm das Schicksal des Mädchens sehr am Herzen.

Als Noromadi den Raum betrat, bemühte er sich, seine innere Erregung nicht anmerken zu lassen. Er erwiderte ihren Gruß und bat sie, Platz zu nehmen.

‚Irgendetwas ist heute anders‘, schoss es Noromadi durch den Kopf. ‚Seine Aura flackert so merkwürdig und ist von tiefem Blau.‘

„Womit wollen wir beginnen?“, eröffnete sie die Sitzung. Dr. August rieb sich nervös die dünnen Hände und räusperte sich umständlich.

„Was für eine Farbe hat meine Aura?“ Die junge Frau zuckte überrascht zusammen, ihr Kinn klappte auf und wieder zu.

„Wie bitte?“, fragte sie unsicher.

„Meine Aura, Noromadi, welche Farbe hat sie?“ Einen Augenblick lag Totenstille im Raum. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Glaubte dieser Mann jetzt wirklich an übernatürliche Erscheinungen oder stellte er diese Frage, weil er ihr eine Aussage entlocken wollte, die ihr womöglich zum Verhängnis werden könnte?

„Was ist eine Aura?“, fragte sie vorsichtig und blickte ihn wie ein scheues Reh an.

„In einem Wissenschaftsmagazin habe ich darüber gelesen“, antwortete Dr. August knapp. „Es heißt, es sei ein messbares farbiges Energiefeld, das jeder Mensch ausstrahlt, das aber mit bloßem Auge nicht erkennbar ist. Aus deiner Akte weiß ich, dass du sie früher sehen konntest, kannst du es wieder?“ Noromadi murmelte:

„Blau.“

„Seit wann bist du wieder in der Lage sie zu sehen?“

„Och“, wisperte die kleine Frau, „seit anderthalb Jahren.“

„Ah so! Was siehst du noch? Es gibt sicher eine Menge Dinge hier, ja, zum Beispiel in diesem Zimmer. Dinge, die ich nicht sehen kann.“

„Da ist nichts …“

„Nichts? Wirklich rein gar nichts?“ Der Doktor beugte sich vor und sah sie mit seinen blauen Augen forsch an. Dabei rang er sich ein wissendes Lächeln ab.

„Was wollen Sie hören?“

„Was hier in diesem Raum noch ist.“ Noromadi rieb sich nervös die spitzen Finger und rutschte auf ihrer Liege hin und her. Derweil wanderten ihre Augen durch den Raum und blieben plötzlich an einem Punkt rechts hinter dem Psychiater stehen. „Was ist da?“, fragte Dr. August und wandte sich um. Die junge Frau hatte hinter seinem eigenen ein weiteres Energiefeld entdeckt. Es war bunt und formte undeutlich eine Gestalt, deren Umrisse sie jedoch nicht erkennen konnte. Aber sie fühlte deutlich die Liebe und Geborgenheit, die von ihm ausgingen. Über ihrem eigenen Kopf schwebte eine Wolke, die violett leuchtete.

‚Bitte helft mir! Was soll ich sagen?‘, schrie sie ihre Bitte an die geistige Welt, aber sie erhielt keine Antwort.

„Noromadi?“, hakte der Psychiater nach.

„Rechts hinter Ihnen steht jemand“, antwortete sie bebend.

„Wer?“

„Es ist Ihr Schutzgeist – manche nennen es Schutzengel.“

„Was ist noch im Raum?“

„Mein Schutzengel.“

„Wo steht der?“

„Er schwebt über meinem Kopf.“

„Noromadi, machen dir diese Erscheinungen Angst? Wie fühlst du dich dabei?“

„Meistens gut.“

„Aber nicht immer?“

„Nein, manchmal machen sie mir Angst.“

„In welchen Fällen?“ Die kleine Frau schluckte. Wieder blickte sie auf seine Aura, und auf seinen Schutzgeist. Auf einmal formte sich aus der bunten wabernden Energie eine Hand, die eine Geste machte: Nein!

„Ach, manchmal ist es einfach nur ungewohnt, dass ich Dinge sehe, die sonst keiner sieht, mehr nicht“, antwortete sie so selbstbewusst wie möglich.

„Da haben mir deine Eltern aber etwas anderes berichtet!“ Dr. August lehnte sich zurück und schrieb etwas in sein Notizbuch.

„Meine Eltern?!“ Aus Noromadis Gesicht wich alle Farbe.

„Ja, deine Eltern. Vorgestern riefen sie mich ganz aufgelöst an, weil sie erfahren hatten, dass du mit dem Gedanken an Selbstmord spielst?“

„Von wem haben sie das erfahren?“ Noromadi biss sich dafür sogleich auf die Lippe.

„Als Freund der Familie weiß ich, dass sich sowohl dein Partner Martin als auch deine Eltern Sorgen um dich machen. Und wenn ich mich an ihre Aussage erinnere und höre, was du mir da erzählst, geht es mir ähnlich!“

„Aber ich habe nie gesagt, dass ich mich umbringen will“, protestierte die kleine Frau aufgebracht.

„Auren und Engelserscheinungen, das alles mögen Dinge sein, die in einigen Sitzungen therapierbar sind, aber die Geschichte mit den getrennten Welten, irgendwelchen Prophezeiungen oder auserwählten Mischwesen, das ist definitiv etwas, was mir Sorgen bereitet! Diese Sache ist es nämlich, die dir Angst macht, und womöglich für dich ein Grund mehr, Dinge zu tun, die nicht gut für dich sind!“

„Aber verstehen Sie denn nicht?!“, rief Noromadi aufgelöst. „Ich habe das nie gesagt … und wenn, würde es Sie am allerwenigsten angehen!“

„Hör mal, mein liebes Kind“, die Stimme des Psychiaters wurde samtig. „Ich verstehe, wie du dich fühlst. Solche Angelegenheiten sind nicht einfach zu verarbeiten. Dass du in diesem Fall Panikattacken hast, ist völlig normal. Was ich dir sagen möchte, ist: Du bist damit nicht allein!“

„Wie meinen Sie das?“

„Es gibt Menschen, die ebensolche Dinge erleben, Dinge, die sie nicht erklären können und an denen sie verzweifeln.“

„Und, was möchten Sie mir vorschlagen?“, fragte Noromadi kühl.

„Lass dir helfen.“

„Sie meinen, ich soll wieder in die Psychiatrie?“

„Nicht in die geschlossene! Das auf keinen Fall! Es gibt eine offene Abteilung, in der du bestens aufgehoben bist.“

„Vergessen Sie es, ich gehe auf keinen Fall wieder in die Klappse!“

„Ich verstehe deine Einwände. Nur, überlege einmal: Du bist so eine wundervolle junge Frau mit einem guten Abschluss und Aussicht auf einen Studienplatz. Anstatt dich mit Auren und Engelserscheinungen herumzuplagen, solltest du dich in eine Therapie begeben. Dann wirst du bald als geheilt entlassen und ein schönes Leben wartet auf dich!“

„Sie meinen also, wenn ich es noch einmal auf mich nehme, dann hab ich’s los? Und ich kann ein normales Leben führen?“

„Genau das meine ich. Martin liebt dich und ist an deiner Seite. Natürlich hat er dir versprochen, nichts weiterzuerzählen, aber er war so besorgt, dass er sich schließlich hilfesuchend an deine Eltern wandte … und diese dann an mich.“

„Warum hatten mein so besorgter Partner und meine Eltern nicht den Mumm, mir das ins Gesicht zu sagen?“, rief Noromadi wütend aus und ballte ihre kleine Hand.

„Hättest du denn auf sie gehört?“, fragte Dr. August sanft.

„Nein, womöglich nicht …“, antwortete die junge Frau schlaff.

„Siehst du?“ Dr. August erhob sich aus seinem Sessel, ging zu einem der Aktenschränke und holte einen dicken Ordner hervor. Er blätterte darin herum und zog schließlich ein Papier heraus. „Das hier“, sagte er, stellte den Ordner wieder an seinen Platz und setzte sich, „ist eine Einverständniserklärung, dass du dich behandeln lassen möchtest.“

„Sie wollen, dass ich das jetzt sofort unterschreibe?“

„Natürlich nicht“, antwortete der Psychiater. „Du kannst sie mit nach Hause nehmen und es dir dort noch einmal in Ruhe überlegen“, fügte er mit weicher Stimme hinzu. Noromadi entspannte sich etwas.

„Ist die Sitzung heute beendet?“ Die junge Frau erhob sich wankend und verabschiedete sich mit einem knappen Gruß. Als sie die Treppen hinunterlief, musste sie sich an der Wand abstützen, so schwindlig war ihr. Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf wie ein wildes Karussell.

‚Psychiatrie … du kommst in die Psychiatrie … da gehörst du hin, du kleines hässliches Ding! – Aber ich wollte mich doch gar nicht umbringen, und habe es auch nicht vor. Warum glauben mir die Menschen nicht? Ich bin normal, vollkommen normal, nur hellsichtig, mehr nicht. Ist Hellsicht ein Verbrechen? Eine Krankheit, die es auszumerzen gilt?‘

Als sie ins Freie trat, fühlte sie sich schlagartig besser. Warmes Sonnenlicht schien auf ihre dunkle Haut. Die Luft war angenehm mild, und trotz der schweren Gerüche der Stadt konnte sie den Duft des zarten Grüns wahrnehmen. Irgendwo in einem der Ahornbäume an der Straße, die von eilig vorüber ziehenden Autos befahren wurde, saß ein Vogel und erfreute die Betonwelt mit seiner Melodie. Mit unsicheren Schritten überquerte Noromadi die Straße und nahm auf einer Bank Platz.

„Hier sitzt du, kleiner Vogel“, flüsterte sie lächelnd, als sie ihn in der Krone erblickte. Ein Rotkehlchen sah sie mit seinen Knopfaugen aufmerksam an und musizierte weiter. Noromadi kam es vor, als wolle es sie aufmuntern. Sie lächelte dankbar und nickte ihm zu. Dann schloss sie die Augen und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Sie wollte noch nicht nach Hause gehen. Warum das so war, wusste sie auch nicht, doch als ihr die Einverständniserklärung einfiel, übermannte sie sofort ein unangenehmes Gefühl.

„Es nützt alles nichts, kleiner Piepmatz“, flüsterte sie und öffnete die Augen, „ich muss nach Hause.“ Sie sah den Vogel an. Der neigte sein gefiedertes Köpfchen zur Seite und sah sie mit einem seltsamen Glanz in den Augen an, als hätte er ihre Worte verstanden. Noromadi erhob sich und schlenderte gemächlich zur Haltestelle. ‚Nur nicht hetzen‘, dachte sie. Im Bus überkam sie ein Schwindelgefühl. Ihr Magen krampfte sich zusammen, sie kämpfte gegen die aufkommende Übelkeit. Die Geräusche um sie herum verschwammen zu einem undefinierbaren Teppich, die Farben der vorbeiziehenden Landschaft verblassten.

„Es wird etwas Schlimmes passieren“, flüsterte Noromadi benommen, während sie auf wackeligen Beinen zum Ausstieg wankte. Draußen wich die Übelkeit einer starken inneren Anspannung, das Karussell beruhigte sich. Langsam ging sie nach Hause.

„Wie sagt meine alte Freundin immer? Noromadi, Contenance!“ Ja, Würde und Haltung, das brauchte sie jetzt. Sie betrat den Flur und hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Noromadi atmete tief ein, strich sich die Haare zurecht und spannte ihren Körper. Dann setzte sie eine heitere Miene auf und betrat das Wohnzimmer.

„Was ist denn der Anlass dieses fröhlichen Zusammentreffens?“, fragte Noromadi lächelnd und sah von einem zum anderen. Ihre Eltern, die sich offensichtlich sehr angeregt mit Martin unterhalten hatten, wichen – genau wie er – ihrem offenen Blick aus.

„Setz dich doch, mein Kind!“, wies ihr Vater Wilhelm sie ernst aber freundlich an. „Möchtest du auch einen Kaffee?“

„Nein, danke!“ Noromadi nahm auf einem kleinen Hocker Platz, der etwas abseits stand. Jetzt vermied sie es, Martin anzusehen.

„Also … du kommst ja gerade aus der Sprechstunde“, begann ihre Mutter Clara zögerlich, „was hat denn Dr. August gesagt?“

„Warum fragst du ihn nicht selbst? Ihr kennt euch doch so gut“, spie ihr die junge Frau ins Gesicht. „Dort ist das Telefon! Wenn ihr schon so gut darin seid, mich hinter meinem Rücken bloßzustellen, kannst du ihn ebenso gut anrufen und nachfragen!“

„Aber, Noromadi, du verstehst das nicht!“, fuhr Martin dazwischen.

„Was versteh ich nicht? Dass du mich verraten hast, obwohl du mir hoch und heilig versprochen hast, es nicht zu tun? Dass du mein Vertrauen und meine Liebe missbraucht hast? Oh doch, ich verstehe sehr wohl. Ich verstehe euch alle sehr wohl!“ Sie blickte verächtlich in die Runde. „Anstatt mit mir zu sprechen, rottet ihr euch hinter meinem Rücken zusammen und schiebt mich in die Psychiatrie ab. Das ist ja auch viel einfacher, als sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, nicht wahr? Aus den Augen, aus dem Sinn. Weg mit dem Störenfried – eure heile Welt soll bloß nicht befleckt werden.“

„Ich verbitte mir diese Worte!“, sprang Wilhelm wutentbrannt auf. „Wie kannst du es wagen, so mit uns zu sprechen? Du weißt genau, dass wir nur dein Bestes wünschen. Meinst du, uns macht es Spaß, dich so zu sehen? Niemanden schmerzt es mehr als uns, dich in diesem traurigen Zustand in der Psychiatrie zu sehen. Es war unser letzter Versuch, dich in die Realität zurückzuholen, damit du lebst! Ich habe dir immer beigestanden, und ich tue es noch, aber, meine junge Dame, ich unterstütze dich ausschließlich in gesunden Dingen, damit was aus dir wird!“

„Aus mir wird nie was.“ Noromadi sank schlaff in sich zusammen und begann bitterlich zu weinen. „Ich bin einfach nicht so wie ihr …“, flüsterte sie.

„Du sollst nicht weinen“, sagte Clara mitfühlend. Sie kniete sich neben sie und tätschelte sanft die Wange ihrer Tochter. „Es ist doch nur noch dieses eine Mal. Du warst doch auf einem so guten Weg, und bist es sicher noch! Bitte, lass dich behandeln. Es ist eine offene, freundliche Station, in der nicht diese Irren herumlaufen, sondern normale Menschen mit vorübergehenden Problemen. Der Stationsarzt ist ein sehr umgänglicher Mann. Er wird dich gut behandeln. Und wenn du als geheilt entlassen bist, wird bestimmt auch dein Studienplatz bewilligt sein, und du kannst ein neues Leben beginnen, ohne die Sorgen und Nöte, die jetzt auf deinen Schultern lasten.“ Noromadi fühlte sich von den Worten ihrer Mutter seltsam berührt.

‚Sorgen und Nöte, die auf meinen Schultern lasten‘, wiederholte sie in Gedanken. Dabei kam ihr wieder die Botschaft des Engels in den Sinn. Hatte er nicht von einer Prophezeiung gesprochen? Einer auserwählten Person … Währenddessen hatte sein Blick inständig auf ihr geruht. Ja, sie war die Auserwählte, die Gniri Noromadi … Die junge Frau erschrak und schob die Gedanken sofort beiseite. Wie viel aussichtsreicher war es doch, das einfache Leben einer Biologiestudentin zu führen, ohne die Bürde des ganzen Weltvereinigungskrams? Sie entspannte sich ein wenig und sah ihrer Mutter in die hellbraunen Augen.

„Vielleicht habt ihr recht“, sagte sie langsam und holte die Einverständniserklärung hervor. „Es ist doch viel leichter, ein normales Leben zu führen, ohne diesen ganzen Kram, nicht wahr?“ Dem stimmten alle zu. Mit zitternder Hand setzte sie ihre Unterschrift auf das Papier.

Dr. Müller, der Stationsarzt der offenen Abteilung der Psychiatrie, war ein Freund des Psychiaters und als solcher ebenso auch ein Freund der Familie. Noromadi saß ihm gegenüber, sodass sie die Farben seiner Aura deutlich sehen konnte und lauschte geduldig seinem Monolog über die anstehende Behandlung. Dabei fühlte sie sich wie ein Tier in der Falle.

‚Ein Freund des Freundes der Familie‘, grübelte sie. ‚Seit Jahren umgeben sich meine Eltern mit einem Netzwerk von Seelenklempnern und Ärzten. Denn Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wenn jeder jeden kennt, ist es nur allzu einfach, mich ruhig zu stellen. Niemand erfährt von den Machenschaften, die sich innerhalb dieses Kreises abspielen, alles ist wasserdicht!‘

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22 aralık 2023
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9783957444585
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