Kitabı oku: «Grenzgänger»

Yazı tipi:

Aline Sax

GRENZ
GÄNGER

Aus dem Niederländischen

von Eva Schweikart


Inhalt

EINE STADT, ZWEI STAATEN

JULIAN NIEMÖLLER 1961

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

MARTHE LENTZ 1977

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

SYBILLE NIEMÖLLER 1989

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

NACHWORT

DIE AUTORIN

EINE STADT, ZWEI STAATEN

Nachdem Deutschland 1945 den Zweiten Weltkrieg verloren hatte, teilten die Siegermächte das Land unter sich in vier Besatzungszonen auf: eine französische, eine britische, eine amerikanische und eine sowjetische. Die bisherige Hauptstadt Berlin, komplett innerhalb der sowjetischen Besatzungszone liegend, wurde ebenfalls in vier Sektoren gegliedert.

Zwischen den westlichen Siegermächten und der kommunistischen Sowjetunion ergaben sich in vielerlei Hinsicht Differenzen. Zu einem Konsens kam es nicht, weil beiden Machtblöcken daran gelegen war, ihren Einfluss in Europa auszuweiten.

Im Mai 1949 wurden die westlichen Besatzungszonen zu einem neuen Staat mit dem Namen Bundesrepublik Deutschland (BRD) vereinigt. Ebenfalls 1949, im Oktober, wurde auch die sowjetische Besatzungszone zu einem eigenen Staat und erhielt den Namen Deutsche Demokratische Republik (DDR). Im Prinzip waren die beiden deutschen Staaten unabhängig, standen jedoch weiterhin stark unter dem Einfluss der ehemaligen Besatzer.

In der BRD als kapitalistischem Staat manifestierte sich vor allem der Einfluss der Vereinigten Staaten von Amerika (USA). In der DDR wurde eine kommunistische Regierung installiert. Wie in der Sowjetunion wies das dortige System Züge einer strengen Diktatur auf und zielte darauf ab, politische Gegner mundtot zu machen.

Wirtschaftlich gesehen entwickelte sich die BRD – unter anderem dank amerikanischer Unterstützung – wesentlich schneller als die DDR, welche die schwerfällige sowjetische Planwirtschaft übernommen hatte. Zwischen den beiden deutschen Staaten entstand eine Kluft, und der zunehmende Wohlstand Westdeutschlands erweckte bei vielen Ostdeutschen Neid.

In Berlin wurden die Westsektoren ebenfalls zusammengefasst: Als Westberlin waren sie der BRD zugeordnet, der Ostteil der Stadt hingegen (Ostberlin) gehörte zur DDR. Die Stadt Berlin wurde zum Brennpunkt des Kalten Kriegs.



EINS

Ich roch an der Bettwäsche, dass ich im Westen war. Im Osten gab es keine Waschmittel mit Blumenduft. Schlaftrunken drehte ich mich um und schaute zum Fenster. Das erste Morgenlicht fiel durch einen Vorhangspalt ins Zimmer. Ich versuchte, meinen Traum von den Erinnerungen zu trennen, die sich langsam und bruchstückhaft wieder einstellten.

Gestern, nach der Arbeit, waren wir ins Chitchat gegangen, einen beliebten Club, in dem auch viele Amerikaner verkehrten. Wir hatten getanzt und getrunken. Zu viel getrunken. Es war spät geworden. So spät, dass ich keine Lust mehr hatte, noch über die Grenze zu gehen.

Und da war ein Mädchen gewesen … wie hieß sie doch gleich? Ich hatte sie im Chitchat kennengelernt. Sie war mit einer Freundin dort, und diese Freundin wiederum war eine Bekannte von Walter.

Kurzes dunkles Haar. Gute Tänzerin. Paula. Genau, Paula hieß sie.

Langsam drehte ich mich wieder auf die andere Seite. Neben mir lag niemand. Da war nur ein Abdruck auf dem Kopfkissen.

Sie hatte mir angeboten, bei ihr zu übernachten, weil sie ganz in der Nähe wohnte. Ich dachte angestrengt nach, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wann wir das Chitchat verlassen hatten und was danach gewesen war. Hatten wir …? Ich hob die Bettdecke an und sah, dass ich meine Unterhosen und die Socken trug. Die übrigen Kleider lagen auf dem Boden verstreut.

Im angrenzenden Raum hinter dem Perlenvorhang hantierte jemand mit Geschirr. Noch einmal schnupperte ich am Kissenbezug, dann hob ich die Beine über die Bettkante. Wenn ich mich langsam bewegte, waren die Kopfschmerzen erträglich. Ich machte mir nicht die Mühe, mich anzuziehen, und ging – so wie ich war – hinüber.

In der Küche war es sehr hell, sodass ich unwillkürlich die Augen zukniff. Das laute Klappern von Tassen, Tellern und Besteck tat mir in den Ohren weh.

»Guten Morgen«, sagte eine muntere Stimme.

Ich öffnete die Augen.

Ein Mädchen mit langen blonden Locken stand am Herd und musterte mich mit amüsiertem Lächeln. Das Fenster war offen, und der hereinstreichende Wind ließ mich frösteln, sodass sich die Härchen an den Armen aufstellten. Dass ich, kaum bekleidet, vor einem wildfremden Mädchen stand, wurde mir erst jetzt bewusst. Aber es war zu spät, sich zu verstecken.

»Willst du dein Ei hart oder weich?«

»Weich«, murmelte ich automatisch. Meine Wangen glühten, obwohl sie mich nicht mehr ansah. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt.

»Wo ist Paula?«, fragte ich zögernd.

»Bei der Arbeit.«

An einem Sonntag? Was mochte Paula arbeiten?

Ich fragte aber nicht.

»Ich heiße Heike.«

»Julian«, sagte ich und hatte das Gefühl, meine Anwesenheit erklären, irgendetwas sagen zu müssen, das mich nicht wie einen x-beliebigen Fremden erscheinen ließ.

Auf dem Tisch standen Butter und zwei Marmeladengläser, lauter mir unbekannte Marken. Ich nahm sie nacheinander in die Hand und las verlegenheitshalber die Etiketten.

Heike stellte die Eier in die Eierbecher, setzte sich an den Tisch und forderte mich auf, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

»Du bist von drüben, was?«

Verdutzt starrte ich sie an. Hatte sie das etwa an meiner Unterhose gesehen?

»Ja.«

Wieder lächelte sie.

»Paula hat eine Schwäche für Ostler.«

»Wie bitte?« Ich schaute womöglich noch verdutzter drein. Eine Schwäche für Ostler … etwa so, wie man eine Schwäche für streunende Katzen hat?

Meine Verwirrung schien Heike zu belustigen.

»Sie ist Kommunistin. Absolute Gleichheit. Keine Hierarchien, keine Armen und Reichen. Jeder arbeitet so, wie er kann, und bekommt, was er braucht. Das ist Paulas Credo.«

Ich bestrich eine Scheibe Brot dick mit Butter. Auf politische Diskussionen mit einer Westberlinerin, zumal an einem Sonntagmorgen, verspürte ich absolut keine Lust. Ich köpfte mein Ei, schnitt dann das Brot in Streifen und tunkte einen davon ins Eigelb.

Heike beobachtete mich, die Hände um eine große Tasse gelegt, die den Duft nach echtem Bohnenkaffee verbreitete.

»Ich wohne in Ostberlin, arbeite aber im Westen«, sagte ich mit vollem Mund. »Als Maurer bei Reitmann & Sohn. Mein Kollege Walter hatte gestern Geburtstag, und das haben wir im Chitchat gefeiert. Paula war auch dabei. Seid ihr Freundinnen?«

»Cousinen. In Ostberlin war ich noch nie.«

»Noch nie? Warum nicht? Man kann doch einfach rüber.«

»Ich weiß nicht recht. Es ist mir einfach nie in den Sinn gekommen. Außerdem wohne ich erst seit einem Jahr hier. Ich bin in einem Dorf in Süddeutschland aufgewachsen. Aber dort wollte ich weg. So bin ich hier gelandet, und Paula hat mir Unterschlupf gewährt.« Sie lachte. »Das Abenteuer Berlin, weißt du, die Stadt, in der immer was los ist.«

»Die Stadt, in der ein neuer Krieg ausbrechen wird, meinst du wohl?«

»Glaubst du das?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Denkst du, die Russen werden Westberlin einnehmen?«

»Die Alliierten haben jedenfalls klar gesagt, dass sie nicht abziehen, auch wenn die Stadt eigentlich im sowjetischen Sektor liegt.« Ich schob ein Stück Brot in den Mund. »Aber Politik interessiert mich nicht sonderlich«, sagte ich, ehe sie einen westlichen Einwand machen konnte.

»Wohnst du schon immer in Berlin?«

»Ja, nur im Krieg war ich eine Zeit lang bei einer Großtante auf dem Land. Aber da war ich noch so klein, dass ich mich kaum erinnere.«

»Ich mag die Stadt sehr«, sagte Heike. »Die vielen Autos. Die Leute, die den Ku’damm entlangflanieren, als gehörte ihnen die Welt. Die Schaufenster und die Leuchtreklamen. Die Mädchen, die mit den amerikanischen Soldaten flirten. Man hat den Eindruck, hier wäre jeder wichtig und würde fabelhafte Sachen erleben. Das Leben in Berlin ist wie ein schneller Wirbel. Ein bisschen wie im Film …« Verträumt blickte sie an mir vorbei.

Was für ein plattes Klischee! Ich nahm rasch einen Schluck Kaffee, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht bemerkte.

»Wahrscheinlich findest du es komisch, dass mir gerade das gefällt«, fuhr Heike fort, »wo du doch schon dein ganzes Leben hier wohnst.«

»Ganz und gar nicht. Du hast beschrieben, was auch alle Ostberliner an Westberlin gut finden.«

»Alle außer dir?«

Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Es hat so seinen Reiz. Aber wohnen wollte ich nicht in Westberlin, da würde ich schnell zu viel kriegen.«

»Darum ziehst du dich abends gern in deine anonyme Mietskaserne zurück?«

Ich starrte sie an.

»Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. War nicht so gemeint.«

Ich starrte sie weiter an. Hatte sie nicht eben erwähnt, sie sei noch nie im Osten gewesen? Warum sagte sie dann so etwas?

»Tut mir leid«, wiederholte sie, diesmal leiser.

Wir aßen schweigend weiter. Heike traute sich offenbar nicht, ein neues Thema anzuschneiden, und ich hatte keine Lust, weiter über Ost und West zu reden.

Das Ei und der Kaffee hatten die aufkommende Übelkeit zurückgedrängt, aber mein Kopf fühlte sich immer noch an, als hätte ihn heute Nacht jemand mit Zement ausgegossen, der jetzt härtete.

Nach dem letzten Schluck stellte ich die Tasse ab und schaute auf meine Uhr. Fast elf.

»Ich muss los, meine Mutter macht sich bestimmt Sorgen, weil ich nicht nach Hause gekommen bin.«

»Du kannst gern noch duschen, wenn du willst«, sagte Heike. »Das wird dir guttun. Die letzte Tür im Flur. Warte, ich geb dir ein Handtuch.«

Sie hatte recht. Die warme Dusche entspannte mich und schien sogar den Zement in meinem Kopf aufzuweichen.

Ich trocknete mich ab und schlüpfte in die Kleider.

Heike hatte in der Zwischenzeit das Geschirr abgeräumt. Auf dem Tisch lag jetzt ein rechteckiges flaches Päckchen.

»Ich … äh … das ist für dich. Das heißt, für deine Mutter. Dann findet sie es vielleicht nicht so schlimm, dass du die ganze Nacht weg warst.« Ein leicht verlegenes Lächeln.

Ich griff danach. Es war eine Nylonstrumpfhose, original verpackt.

»Paula hat mal erwähnt, die Frauen im … äh … ich meine, dass man bei euch … nicht so leicht an solche Strumpfhosen kommt.« Das stimmte. Außerdem war Mutter ganz versessen auf Nylons aus dem Westen. Trotzdem zögerte ich. War mein Ostler-Stolz stärker als die Aussicht, meiner Mutter eine Freude zu machen?

»Danke, darüber wird sie sich freuen«, sagte ich dann und steckte das Päckchen ein. »Und danke auch fürs Frühstück und für die Dusche.«

Heike strahlte. »Gern geschehen.«

Auf dem Weg zur Grenze versuchte ich, mir Paulas Gesicht vorzustellen, was nicht gelang, weil sich immer wieder Heikes Bild davorschob. Völlig in Gedanken versunken, bemerkte ich erst nach einer Weile, dass es angefangen hatte zu regnen. Und auch Wolfgang Wichser sah ich erst, als es schon zu spät war. Wir waren früher in dieselbe Klasse gegangen. Wolfgang war ein komischer Kauz und tat sich mit seinem Vater dicke, der irgendein hohes Tier war. Darum war er von den anderen oft gehänselt worden. Und Wolfgang Wichser wurde er genannt, weil ein Lehrer ihn angeblich auf dem Schulklo beim Wichsen ertappt hatte. Statt den Spitznamen zu ignorieren, drohte er, sein Vater würde uns die Hammelbeine lang ziehen. Dass nichts dergleichen passierte, trug ihm noch mehr Spott ein. Im siebten Schuljahr war seine Familie nach Dresden umgezogen. Jetzt aber war er Grenzpolizist in Berlin.

»Papiere vorzeigen!«, blaffte er mich an, als würde ich die Vorschrift nicht kennen.

Ich hatte mich damals nicht an den Hänseleien beteiligt, er aber scherte alle ehemaligen Schulkameraden über einen Kamm und sah nun eine gute Gelegenheit, seine Überlegenheit auszuspielen. Wolfgang hatte etwas von der opportunistischen Machtgier seines Vaters, der sich vom überzeugten Nazi nahtlos zum strammen Sozialisten gewandelt hatte.

Ich gab ihm meinen Ausweis, in dem er unnötig lange herumblätterte.

»Welcher Tag ist heute?«, fragte er ohne aufzublicken.

»Sonntag«, gab ich zurück. Der Regen lief mir kalt in den Kragen. Wolfgang stand unter dem Dach seines Grenzerkabuffs und sah keinen Grund zur Eile.

»Sonntag, aha! Und was hat ein Grenzgänger am Sonntag im kapitalistischen Westen verloren? Sind dir unsere Frauen nicht gut genug?«

Mir blieb kurz die Sprache weg.

»Komm schon, deine Sorte Profiteure kenn ich doch. Im Osten von den billigen Mieten, der sozialen Absicherung und den niedrigen Preisen profitieren, aber im Westen Geld scheffeln, den Kapitalisten markieren und die Ami-Weiber flachlegen.« Er spuckte vor mir aus.

Zugegeben, ich verdiente im Westen wesentlich besser und der Wechselkurs war günstig, aber mich deshalb einen Profiteur zu nennen …

Ich war versucht, ihn am Uniformkragen zu packen und zu schreien, es gehe ihnen einen feuchten Kehricht an, wo ich mein Geld verdiente und ausgab. Aber ich tat es nicht. Schließlich war er im Dienst, und ich wollte keine Scherereien. Grenzgänger wie ich waren im Osten ohnehin nicht sonderlich beliebt. Die Leute hielten uns für Verräter am Staat – einem Staat, für den sie selbst kein gutes Wort übrighatten. Und wenn sich eine Chance ergäbe, würden sie es nicht anders machen als ich.

»Was ist in der Tasche?«

»Drei Millionen Dollar in kleinen Scheinen.«

Er riss mir die Tasche weg und zog den Reißverschluss auf.

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und blinzelte, weil mir das Wasser von den Brauen in die Augen rann.

Wolfgang kramte in meinen Sachen herum, nahm etwas heraus und ließ unvermittelt die Tasche fallen. Sie landete in einer Pfütze. Ich bemühte mich, den Ärger hinunterzuschlucken.

Er hielt mir die Strumpfhose hin. »Und was ist das? Westprodukte schmuggeln, was? Weißt du, welche Strafe darauf steht?« Er beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht kaum fünf Zentimeter vor meinem war.

Ich wich zurück und bückte mich nach der Tasche, die an der Unterseite klatschnass war. Mit einem wütenden Ruck zog ich den Reißverschluss zu und biss die Zähne zusammen.

»Das muss ich beschlagnahmen.« Er wollte die Strumpfhose einstecken, was nicht so recht gelang, weil er in der anderen Hand immer noch meinen Ausweis hielt. »Und Meldung erstatten, versteht sich.«

»Das lässt du schön bleiben. Sonst kannst du die Strumpfhose nämlich nicht selber behalten!« Ich riss ihm meinen Ausweis weg und ging weiter.

»Und ob ich das melde!«, schrie er mir nach. »Darauf kannst du Gift nehmen, Niemöller!« Seine Stimme überschlug sich.

Ich zwang mich, nicht zu rennen. Er wird mich schon nicht verfolgen, dachte ich und bog in die nächste Seitenstraße ein. Dort trat ich mit Wucht gegen eine Mülltonne, die umfiel und aufs Pflaster krachte. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und das Arschloch in seiner adretten Uniform in den nassen Straßendreck gestoßen. Was fiel ihm ein, mir Schmuggel zu unterstellen? Das war doch reine Schikane. Beim nächsten Mal, nahm ich mir vor, lasse ich mir so etwas nicht mehr gefallen. Und dann rannte ich doch los, rannte mir den ganzen Ärger aus dem Leib … auch darüber, dass er meine Erinnerung an Heike getrübt hatte.

ZWEI

Die ganze Woche ging mir Heike nicht aus dem Sinn. Als Walter fragte, ob ich am Sonntag mit zum Wannsee wolle, und augenzwinkernd meinte, Paula sei auch mit von der Partie, traute ich mich nicht zu fragen, ob Heike ebenfalls dabei wäre.

Das Knattern von Walters Moped weckte vermutlich die ganze Nachbarschaft auf und entlockte meinem Vater ein unwilliges Knurren. Rasch packte ich mein Handtuch ein, verabschiedete mich und ging nach unten.

Walter sah in seiner kurzen weißen Hose, den weißen Turnschuhen und dem gestreiften Hemd wie ein Hollywoodstar aus.

»Morgen!«, rief er mir munter zu.

Ich schwang mich auf den Sozius. Es war herrliches Wetter, und die Fahrt zum Wannsee – gut fünfundzwanzig Kilometer durch ganz Westberlin – würde ein Genuss.

Die Grenzer musterten uns abfällig – wir machten wohl den Eindruck von dekadenten Amerikanern –, ließen uns aber ohne Probleme passieren.

Wir sausten an geschlossenen Geschäften und schlafenden Wohnhäusern vorbei, während die Sonne hinter uns höher stieg. Dass es wegen des Mopedlärms unmöglich war, sich zu unterhalten, störte mich nicht. Ich schloss die Augen und spürte den Fahrtwind in den Haaren. Irgendwann würde ich mir auch so ein Ding zulegen … wenn ich eine eigene Wohnung zugewiesen bekam, wie mein älterer Bruder Rolf. Solange ich noch zu Hause wohnte, würde mein Vater es nicht erlauben. Weil er es für unnütz hielt: Ich hätte doch ein Fahrrad, meinte er immer, das reiche ja wohl.

Wir waren nicht die Einzigen, die den Sonntag am Wannsee verbringen wollten. Von der Bushaltestelle aus strebten Dutzende mit Picknickkörben, Klappstühlen, Wasserbällen und Luftmatratzen dem Strandbad zu, das für ganz Berlin ein Anziehungspunkt war. Wir jedoch fuhren vorbei, denn nicht nur mir graute vor den Menschenmassen – Walter und den anderen zum Glück auch. Von unserem Stammplatz, einem Stück Strand hinter den Bäumen, schien sonst niemand zu wissen.

Walter stellte das Moped ab. Heini, Ernst, Charlotte, Max und zwei Mädchen, die ich nicht kannte, waren bereits da. Sie hatten ihre Taschen auf einen Haufen geworfen, und die Mädchen zogen sich gerade um. Walter hatte mich zwar in seine Clique eingeführt, aber im Grunde war ich nur dann dabei, wenn er mich einlud. Andere Freunde als ihn und seine Leute hatte ich nicht. Die Schulkameraden von früher meldeten sich nicht mehr, seit ich im Westen arbeitete. Was mich wenig kümmerte, denn in Walters Clique fühlte ich mich wohl, weil keiner mich schief ansah.

Während er unsere Sachen vom Moped nahm, stießen noch drei weitere Mädchen zur Gruppe. Alle in kurzen Hosen und mit großen Sonnenbrillen und Strohhüten, sodass sie wie Drillinge wirkten.

Ich breitete mein Handtuch aus, und als ich mein Hemd aufknöpfte, stand plötzlich eines der Drillingsmädchen vor mir.

»He, warum hast du mich nicht angerufen?«, sagte sie, machte einen Schmollmund und ließ ihre Finger über meine Brust wandern.

Paula. Es war Paula …

»Wir haben zu Hause kein Telefon.«

Mit schief gelegtem Kopf sah sie mich an. Haben die im Osten wirklich kein Telefon?, sah ich sie denken.

Sie beschloss, die Entschuldigung gelten zu lassen. »Ich freu mich jedenfalls, dass du da bist!«

Sie holte ihr Handtuch hervor und legte es neben meines in den Sand.

Noch immer konnte ich mich nicht erinnern, was letzte Sonnabendnacht gewesen war. Nichts, vermutete ich, aber Paulas Verhalten nach zu urteilen, wohl doch etwas …

Den ganzen Tag über tat sie, als wären wir ein Pärchen. Wir schwammen, spielten Fußball, sonnten uns … und Paula wich nie von meiner Seite und hatte ständig irgendwelche Anliegen. Ich sollte ihr den Rücken eincremen, die Tasche rübergeben, mit ihr in den See hinausschwimmen, von den Keksen nehmen, die sie mitgebracht hatte. Allmählich wurde mir unbehaglich. Besonders beim Rückeneincremen und als sie im Wasser die Arme um mich schlang.

Erst als ich Heike sah, verstand ich, warum.

Am späten Nachmittag – ich spielte gerade mit Walter, Max und Paula Karten – tauchte sie mit einem halben Ölfass und einer großen Tasche voller Essen auf.

»Jetzt wird gegrillt!«, rief Max. Er und Walter füllten Sand in das Fass, schichteten Reisig und Papier darauf und hielten ein Streichholz daran. Rasch noch einen Rost darüber, und kaum eine Viertelstunde später stieg mir der Duft gebratener Frikadellen in die Nase und erinnerte mich daran, dass ich, abgesehen von ein paar Keksen, seit dem Morgen nichts gegessen hatte.

Die letzten Schwimmer kamen aus dem Wasser, die Handtücher wurden im Kreis um das Grillfass gelegt, und Heike stellte Schüsseln mit Salat, Tomaten und Mais bereit – alles ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen. Walter hatte inzwischen einen Eimer Bierflaschen besorgt.

Wir aßen, rissen Witze, lachten. Heike saß mir im Kreis gegenüber, und ich schaute durch die flirrende Hitze zu ihr hin. Plötzlich lächelte sie mich an, und ich wünschte mir nichts mehr, als neben ihr zu sitzen statt neben Paula.

Als alle satt waren, wurde der Ölfassgrill zum Lagerfeuer umfunktioniert. Es dämmerte bereits, war aber noch angenehm warm. Max nahm seine Gitarre zur Hand und spielte ein paar bekannte Titel von Chuck Berry und Elvis. Als er eine langsame Ballade intonierte, die einige mitsangen, schmiegte Paula sich an mich. Ich murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Ihr penetrantes Gehabe ging mir auf die Nerven. Ich lief zum Ufer. Das Wasser war ebenso schwarz wie die Silhouetten der Bäume, die unser Strandstück säumten. Irgendwo auf dem See flog ein Wasservogel auf. Ich setzte mich in den Sand, und die Gitarrenklänge und Stimmen wurden zu einer Art Hintergrundrauschen. »Keine Lust mitzusingen?« Heike stand neben mir. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen hören.

»Oder keine Lust auf Paula?«

»Oje, war das so deutlich?«, fragte ich halb schuldbewusst.

»Für mich schon, für sie eher nicht.« Sie lachte verhalten.

»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was letzte Sonnabendnacht passiert ist«, gab ich zu. »Aber es sieht ganz so aus, als würde Paula daraus irgendwelche Rechte ableiten.« Ich drückte mich bewusst vage aus, um Heike nicht vor den Kopf zu stoßen.

»Keine Bange, es ist nichts passiert. Das hat Paula mir erzählt.«

»Erzählt?«

»Frauen reden nun mal über solche Dinge.« Wieder lachte sie. »Paula hat die Tendenz, sich an Männer ranzuschmeißen. Mach dir nichts draus …« Sie setzte sich neben mich und legte ihre Hand, die mir noch viel wärmer vorkam als der Sand, auf meine. »Was hat deine Mutter zu der Strumpfhose gesagt?«

Ein paar Enten flogen über das Wasser.

»Sie war begeistert«, log ich. »Danke noch mal.« Verdammt. Ich hätte mich damals überzeugender bedanken sollen.

Hinter uns stimmte Max All I have to do is dream von den Everly Brothers an. Diesmal sang keiner mit, alle lauschten der Melodie. Heike rückte näher, legte den Kopf an meine Schulter und summte leise mit. Ich schlang meinen Arm um sie, und so saßen wir da, bis das Lied zu Ende war. Auch als Max ein schnelleres Stück zu spielen begann und die anderen wieder mitsangen, machte sie keine Anstalten aufzustehen. Nur der Zeigefinger ihrer rechten Hand bewegte sich – sie malte damit kleine Kreise auf meinen Schenkel. Ich erwiderte die Zärtlichkeit, indem ich mit dem Daumen über ihren Oberarm strich.

Und als sie mir das Gesicht zuwandte, küsste ich sie.

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