Kitabı oku: «Kafir», sayfa 3
DER URIN
»Meine alte Heimat riecht nach Benzin, meine neue nach Urin«, sage ich und reiche meinem Freund, dem Computerfachmann, und meiner Freundin jeweils ein Bier.
Das Kneipenkollektiv hat die Schicht ausfallen lassen. Deshalb haben wir unser Bier im Kiosk gegenüber gekauft und stehen damit nun vor einem leerstehenden Supermarkt.
»Wir sind in der Gosse gelandet«, stellt der Computerfachmann fest und legt einen kleinen Stepptanz hin.
»Das ist ein Zeichen«, sagt meine Freundin. Er fragt sie, wofür das ein Zeichen sein soll.
»Dafür, dass wir es uns lieber auf dem Sofa bequem machen sollten.«
Es stinkt wirklich erbärmlich hier. Aber so ist es halt, wenn weit und breit keine öffentliche Toilette in Sicht ist. In Irakisch-Kurdistan ist an jeder Ecke eine Moschee mit Waschgelegenheit und Klo. Aber vermutlich gibt es in jedem anderen Land mehr öffentliche Toiletten als in Deutschland.
»Ob die Überwachungskamera wohl noch aufzeichnet?«, fragt der Computerfachmann und zeigt auf ein Gerät oben am verrammelten Eingang.
»Das ist mir wurscht«, entgegne ich und baue einen Joint direkt vor der Kamera.
»Du hast echt einen Sockenschuss«, meckert meine Freundin.
Mein deutscher Wortschatz besteht aus einer eigentümlichen Mischung aus komplizierten Fachbegriffen und seltsamen Schimpfwörtern. Das passiert, wenn man sein Deutsch von angetrunkenen Linksintellektuellen lernt.
»Sockenschuss ist kein schönes Wort«, entgegne ich und reiche dem Computerfachmann den Joint.
Meine Freundin stapft derweil missmutig in Richtung Innenstadt. Wir gehen ihr nach und stehen in wenigen Minuten in der Fußgängerzone. Hewlêr hat etwa zehn Mal so viele Einwohner wie das Provinzkaff, in dem ich am Ende meiner Flucht gelandet bin. Man ist hier irgendwie immer im Zentrum.
»Ich gehe nach Hause«, meine Freundin dreht sich um und schaut mich an. »Kommst du mit?«
»Hey, so kenne ich dich ja gar nicht!« Wie so oft rettet der Computerfachmann die Situation. »Lass uns tanzen gehen.« Er hakt sie unter und schleift sie durch eine kleine Seitenstraße in Richtung unserer Lieblingsbar.
Wir manövrieren uns durch den überfüllten Eingangsbereich vor der Theke nach hinten. Unterwegs bleiben die beiden auf der Tanzfläche hängen und hüpfen begeistert los.
Ich schlendere weiter zum Kicker und plaudere auf Arabisch mit einigen der Jungs, die zum festen Inventar gehören.
»Was machst du denn noch hier, Habibi?«, frage ich meinen Kumpel, den Spieler, der seit Wochen davon redet, dass er Deutschland verlassen will.
»Ich gehe nächsten Monat in die Türkei zu meinen Eltern«, sagt er. »Hast du was zu kiffen?«
»Nein, aber willst du ein Bier?«, biete ich ihm an.
»Nein, ich trinke nicht mehr. Das ist harām.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst. Wolltest du nicht gerade kiffen?«
»Von Cannabis hat der Prophet nicht gesprochen«, sagt er ernst.
»Seit wann interessierst du dich für den Koran? Außerdem sind alle Drogen harām«, ich klopfe ihm auf die Schulter. »Glücksspiel übrigens auch, Habibi!«
Früher ist Basketball seine große Leidenschaft gewesen, nun sucht er offensichtlich Halt in der Religion. Das werde ich nicht mit ihm diskutieren. Ich gehe zurück zur Tanzfläche und geselle mich zu meiner Freundin und dem Computerfachmann. Sie singen lautstark ein Lied mit, das ich noch nie gehört habe.
»Ich gehe mal ein bisschen vor die Tür, oder wollen wir nach Hause?«, frage ich meine Freundin.
»Du bist gut«, sie lacht. »Nun bleibe ich erst mal hier.«
Ich stehe vor der Bar. Drei blonde Typen mit zerzausten Bärten taumeln an mir vorbei, klettern in ein schrottreifes Auto, fahren los und hinterlassen eine Fahne Dieselgeruch.
DIE BERGE
Der Ölgeruch war allgegenwärtig. Ich nahm ihn nicht bewusst wahr, genauso wenig wie das Rauschen der Autos oder das Rattern der dieselbetriebenen Stromgeneratoren. Mir fiel nur auf, wenn etwas davon fehlte. Wenn wir zum Beispiel einen der seltenen Ausflüge in die Berge von Şeqlawe machten.
Meine Eltern hatten Freunde in den Bergen. Auf ihren Feldern wuchsen Bäume – Granatäpfel, Maulbeeren, Birnen, Pflaumen und Oliven. Meine Geschwister und ich kletterten in den Bäumen oder gingen in die Felder. Wir pflückten Tomaten zum Kochen und naschten Kichererbsen und Weintrauben. Wir ernteten Tirozî, lange gurkenähnliche Melonen, und dippten sie in Sumach, die gemahlenen Früchte der Essigbäume, die überall wild wuchsen. Genau so stellte ich mir das Paradies vor.
Auch die kleine Stadt in den Bergen erschien mir ganz magisch mit dem kleinen Basar mit ganz anderen Spezialitäten als in unserer großen Stadt. Wir Kinder bekamen Eis in kleinen Schalen und spazierten damit mit unseren Eltern durch die Straße.
Der Weg in die Berge führte über kleine, gewundene Straßen. Und ich weiß noch genau, dass wir einmal unterwegs zum Essen anhielten. Mein ältester Bruder saß schon mit meinem Vater auf der Decke, meine Schwester erkundete mit unserem kleinen Bruder die Gegend, während ich mit meiner Mutter das Essen aus dem Auto holte. Wir legten eine lange Plastikdecke auf den Boden und verteilten darauf Schüsseln mit Reis, Dolma und Salat.
»Bismillah, im Namen Gottes!« Das Essen duftete und die Luft um uns war frisch und wunderbar.
Der Kopf ist bescheuert und merkt sich die Ausnahmen am besten, wahrscheinlich erinnere ich mich deshalb so glasklar an die Ausflüge. Vielleicht erinnere ich mich auch nur deshalb an diese Fahrten, weil es davon viele Fotos gibt. Darauf sind wir aber selbstverständlich nicht beim Essen, sondern stehen meistens aufgereiht nebeneinander und starren feierlich in die Kamera. Es gibt aber auch ein Bild, auf dem ich barfuß in einem Fluss stehe und schmollend in die Kamera schaue. Und ich liebe ein Familienfoto, auf dem alle brav posieren, während ich in der Mitte eine Grimasse in Richtung Kamera mache, die offensichtlich mein Vater hält, weil er auf dem Foto fehlt.
DAS KIND
»Ist das deine Familie?«, fragt mich der Spieler, während er sich die Fotos anguckt, die ich hinter meinem Sofa an die Wand geklebt habe.
Mein großer Bruder mit ernstem Gesicht, meine Schwester lächelnd, mal mit Zopf, mal verschleiert, meine Mutter mit großen braunen Augen vom Kopftuch umrandet und immer in langem Mantel, mein kleiner Bruder und ich oft mit den gleichen T-Shirts, wie Zwillinge. Manchmal fehlt mein Vater auf den Bildern, manchmal steht er neben uns mit zerzausten schwarzen Haaren und dunklen Augenbrauen. Auf dem letzten gemeinsamen Bild sehen wir alle so aus, als sei gerade jemand gestorben.
»Ich vermisse meine Familie so sehr«, sagt der Spieler. Seitdem seine Familienzusammenführung gescheitert ist, verspielt er jeden Monatsanfang all sein Geld in der Hoffnung, plötzlich reich zu werden und damit alle seine Probleme lösen zu können. Manchmal arbeitet er auch als Drogenkurier, doch viel häufiger dröhnt er sich selber zu, um zu vergessen. Zurückgehen kann er nicht, ankommen auch nicht.
Gelegentlich fragt er mich, ob er bei mir übernachten kann. Dann duscht er, während ich etwas für ihn koche. Während des Essens erzählt er mir von seiner Familie. Danach rollt er sich auf meinem Bett zusammen und schläft wie ein kleines Kind. Er wohnt in einem Zimmer mit drei Leuten, die eine andere Sprache sprechen. Er vermisst sein altes Leben, das Essen seiner Mutter und die Familie.
Aber er hat sie enttäuscht. Sie werfen ihm vor, dass er sich nicht genug bemüht hat, sie nach Deutschland zu holen. Dabei hat er alles versucht. Aber er ist erst als Volljähriger als Flüchtling anerkannt worden, und nun hängt seine Familie in der Türkei fest und hofft, dass ihr Sohn es hier in Deutschland zu etwas bringt und ihnen zumindest regelmäßig Geld schicken kann. Er kann sich nicht mal um sich selber kümmern.
»Vermisst du deine Familie gar nicht?«, fragt er mich am nächsten Morgen, als wir zusammen zum Bus gehen. »Hättest du sie nicht holen können?«
»Nein, ich hätte sie nicht holen können. Aber das hätten sie ohnehin nicht gewollt.«
Wir stellen uns an die Bushaltestelle und warten auf den Bus. Im Wartehäuschen sitzen zwei Frauen mit einem kleinen Kind. Das Kind stellt eine Frage nach der anderen. Die beiden Frauen unterbrechen jedes Mal ihr Gespräch und beantworten jede Frage freundlich und ruhig.
Der Spieler und ich gucken uns an und kichern.
»Das war bei mir nie so«, sage ich.
»Bei mir auch nicht. Kinder sollen zuhören und leise sein.«
»Ja. Aber ich habe trotzdem immer dazwischengequatscht.«
DIE PINGELIGKEIT
Ich vergötterte meinen Vater, und obwohl er wie alle Väter, die ich kannte, oft streng war und selbstverständlich auch mal schlug, hatte ich immer das Gefühl, dass er mich genau so liebte, wie ich war. Ich erinnere mich gut daran, wie er roch, wenn er mich morgens weckte, damit wir zusammen zum Morgengebet gehen konnten.
Wir schlichen uns aus dem Haus, setzten uns ins Auto und fuhren schweigend durch die Stadt zur Moschee, um uns dort unter die wenigen Leute zu mischen, die so früh da waren. Nach zwei Gebetsdurchgängen, ein bisschen ruhigem Beisammensein und dem Lesen einiger Suren kehrten wir wieder zurück. Wenn wir ins Haus kamen, war meine Mutter meist dabei, die Betten fein säuberlich aufzurollen und wegzuräumen.
Wenn mein Bruder es noch nicht geschafft hatte, lief ich schnell zum Bäcker und holte frisches Brot. Ich schaute zu, wie die Männer die Teigkugeln an die Innenwände des hohen, nach oben enger werdenden Tandurofens warfen und wieder rausholten, und naschte auf dem Weg zurück oftmals ein Stück des warmen, duftenden Brotes, bevor ich mich zu meinen Geschwistern zum Frühstücken auf den Boden setzte.
Im Sommer war es tagsüber brütend heiß in unserem Haus. Der Ventilator an der Decke lief ständig, und ein Klimagerät vor dem Fenster pustete heftig in den Raum. Wir stellten uns davor und ließen unsere Haare im Wind wehen und uns das Gesicht kühlen. Im Winter war es kalt und wir hockten nahe am Ölofen, wärmten unseren Tee oder legten ein Fladenbrot darauf.
Vor den Mahlzeiten achtete meine Mutter pingelig auf unsere Sauberkeit. Wir mussten die Hände waschen und vor allen Dingen darauf achten, dass kein Dreck unter den Fingernägeln steckte. Denn wenn die Fingernägel dreckig waren, konnte Satan sich darin verstecken.
Satan nutzte jede Gelegenheit, sich anzuschleichen. Wenn ich morgens mit Speichel auf den Lippen aufwachte, hatte Satan sie nachts angepinkelt und ich musste sie schnell sauber waschen. Die Zähne waren aber offensichtlich nicht sein Revier, ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir als kleine Kinder jemals Zähne geputzt hätten.
Aber ich weiß noch sehr genau, als uns die Familie meines Onkels aus Deutschland besuchte und meine kleine Cousine abends eine Zahnbürste und einen Zahnputzbecher rausholte. Sie befüllte ihn mit Wasser und spülte sich damit den Mund.
»Warum trinkst du nicht aus dem Hahn?«, fragte ich sie.
»Weil man Wasser sparen muss«, sagte sie. Ich lachte, weil ich sowas Komisches noch nie gehört hatte. Wenn unser Wassertank voll war, lief es aus dem Hahn, und wir mussten es nicht sparen. Und wenn Wassermangel herrschte oder das Wasser dreckig war, blieb der Hahn zu. Dann kauften wir große Container mit Wasser und sparten es zum Trinken auf und bestimmt nicht, um uns damit nur den Mund auszuspülen.
Meine Cousine trug schon als kleines Kind eine Armbanduhr. Sie sprach kein gutes Sorani, konnte aber trotzdem die Namen aller Monate und redete viel über Zeit.
Wenn wir Zeit hatten, teilten wir sie gern. Doch Zeit schien bei ihr genau wie das Wasser etwas zu sein, das man nicht verschwenden durfte.
Selbst ihre Süßigkeiten teilte sie sich ein. Sie guckte sauer, wenn man sich welche davon nahm, so als ob sie sich keine nachkaufen könnte.
Dabei redete ihr Vater ständig davon, wie reich sie in Deutschland waren, und zeigte Fotos von seinem großen schwarzen BMW. In Deutschland war alles größer, schneller und besser als im Irak, erzählte er stolz von seinem Besitz. Vielleicht bekam man mehr Angst davor, etwas zu verlieren, je mehr man davon hatte.
DAS GRAUEN
Meine Freundin hat es eilig und stürzt ohne Frühstück aus ihrer Wohnung.
Ich mache das Bett und einen Tee, setze mich damit an den Tisch und scrolle auf meinem Mobiltelefon durch meinen Newsfeed.
Neben Katzenfotos und Werbung für Flugreisen und Turnschuhe taucht plötzlich ein Begriff auf: Earth Overshoot Day.
Ich google den Begriff und lese, dass wir als Menschheit heute die Ressourcen, die uns die Erde in diesem Jahr zur Verfügung stellt, verbraucht haben. Dabei ist erst das halbe Jahr vergangen.
Mich packt ein inneres Grauen.
Ich lege das Telefon weg und ziehe mich an. Ich mache mich auf den Weg in die Psychiatrie, um den Spieler zu besuchen. Das muntert mich bestimmt auf.
Inzwischen wohne ich schon so lange in der Grenzstadt, dass ich nicht nur norddeutsch klinge, ich denke auch so. Müsste ich zurück nach Kurdistan, würde ich vermutlich innerhalb weniger Tage wieder im Knast landen, weil dort niemand meinen Humor versteht.
Die Psychiatrie ist ein trauriger Ort, aber der Spieler lacht mich an. Er freut sich, dass überhaupt mal jemand reinguckt. Als unbegleiteter Minderjähriger eingereist, hat er keine Familie, die ganz selbstverständlich Krankenbesuche macht.
»Habibi, wie geht es dir«, frage ich ihn.
»Besser, ja, besser. Allah gibt mir die Kraft. Ich werde nie mehr Drogen nehmen. Ich spiele nicht mehr. Ich werde jetzt gut leben.«
Er glaubt es wirklich und guckt ganz selig, als sei er selbst der Prophet.
Seitdem er nicht mehr auf dem Basketballplatz, sondern in der Spielhalle spielt, geht es ihm stetig schlechter. Vor einigen Wochen hat er so viele chemische Drogen genommen, dass er in der Psychiatrie gelandet ist. Und nun spricht Gott zu ihm.
Wir rauchen am Fenster im Raucherzimmer.
»Kommst du bald wieder?« Er guckt wie ein verlassener Welpe. Ich verspreche ihm, dass ich bald wieder reinschauen werde.
Einer meiner deutschen Facebookfreunde schreibt, dass Ex-Muslime wie ich die einzigen Flüchtlinge sind, die es verdient haben, hier zu sein. »Kriminelle Ausländer abschieben«, beendet er seinen wütenden Post.
»Du verwöhnter Idiot«, denke ich mir, blockiere ihn und renne zum Bus. Ich setze mich ganz nach hinten und lasse die Kleinstadt an mir vorbeiziehen. Mehrfamilienhäuser werden zu Einfamilienhäusern, dazwischen ein bisschen Grün.
DAS LEBEN
Als ich neun Jahre alt war, zogen wir um in ein neues Viertel. Reihe an Reihe moderner neuer Häuser für Familien, die es zu etwas gebracht hatten. Und wir gehörten dazu.
Früher hatte meine Mutter manchmal Kuchen, Saft oder Eiscreme hergestellt und an die Läden rund um den Basar verkauft. Nun musste sie das nicht mehr. Ein erfolgreicher Mann musste seine Frau nicht arbeiten lassen.
Mein Vater hatte das Grundstück gekauft, die Bauarbeiten persönlich überwacht und vieles selber gemacht. Ich fand die Baustelle furchtbar aufregend. An den Tagen, an denen ich nachmittags schulfrei hatte, flehte ich meinen Vater deshalb an, mich mitzunehmen.
Und obwohl mein Vater erst skeptisch war, belehrte ich ihn eines Besseren. Ich räumte Schutt weg, putzte Fenster und Räume, strich die Wände und malte mir dabei in Gedanken unsere schöne Zukunft in dem wunderbaren neuen Haus aus, so schön wie das neue Viertel mit dem verheißungsvollen Namen Jian, Leben.
Bismillah, ein neues Leben lag vor uns.
Die ersten Stunden im neuen Haus verbrachten mein Bruder und ich allein. Mein Vater hatte uns vorab abgesetzt und war dann zurückgefahren, um den Rest der Familie abzuholen. Wir standen am Herd in der neuen modernen Küche, machten uns ein Mittagessen aus Instantnudeln und waren glücklich.
Es gab zwei Badezimmer im Haus. Im oberen Bad befand sich eine Toilette im marokkanischen Stil, auf die man sich setzen und mit Wasser aus einem Schlauch säubern konnte. Unsere Kinderzimmer hatten flauschige Teppiche, moderne Betten und Kleiderschränke. Ich teilte das Zimmer mit meinem großen Bruder, hatte aber einen eigenen Schreibtisch und durfte mir zum Einzug einen kleinen Goldfisch kaufen, der in seinem hübschen neuen und glänzenden Glas auf meinem Tisch seine Runden zog und mich begeisterte.
Alle unsere Nachbarn waren ebenfalls gerade eingezogen. Neben uns wohnte eine nette Familie vom Land. Sie legten einen großen Rasen und Blumenbeete um das Haus an. Als ihnen die Pflanzen nicht schnell genug wuchsen, holten sie eine Wagenladung Dung. Der Geruch hing tagelang in der ganzen Straße und zog in unser schönes neues Zuhause. Wir mussten für eine Woche zu meinen Großeltern ziehen, um nicht stinkend in der Schule aufzutauchen.
In der neuen Schule kannte mich niemand. Wenn ich versehentlich etwas umstieß, lachte ich frech. Ich entschuldigte mich nicht mehr, wenn mir die Antwort auf eine Frage laut rausplatzte, ohne dass ich mich vorher gemeldet hatte. Und wenn ich den Faden verlor, tat ich so, als sei mir die Schule einfach egal. Ich wurde vom Klassentrottel zum Klassenclown und fand dadurch endlich Freunde.
Ich war nicht stark und sportlich, aber Konfrontationen gewohnt. Wenn Lehrkräfte ungerecht waren und zu streng straften, war ich der Einzige, der sich traute, den Mund aufzumachen. Und als wir Arabisch als Fremdsprache in der Schule bekamen, wollten alle plötzlich gerne neben mir sitzen. Ich hatte so viel im Koran gelesen, dass die leichten arabischen Anfängertexte lächerlich einfach für mich waren. Ein neues Leben hatte begonnen.
DAS GESCHÄFT
»Die Flüchtlinge nehmen mir meine Arbeit weg!«, flucht er. Er habe sich ein Geschäft aufgebaut, einen guten Ruf und fast ein Monopol gehabt. Und nun kämen diese Flüchtlinge und machten ihm Konkurrenz.
Er ist als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Das Herkunftsland seiner Familie hat er seitdem nur zwei Mal besucht. Sein Deutsch ist gut, er sieht freundlich aus. Aber er ist wütend und frustriert.
»Merkel ist schuld«, sagt er. Sie habe diese ganzen Leute ins Land geholt, und seitdem sie da seien, habe niemand mehr Respekt vor ihm.
»Hm«, antworte ich und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich nehme das Weed, gebe ihm einen Zehner und verabschiede mich in Richtung Bus.
Am Busbahnhof treffe ich meinen besten Freund, den kleinen Gangster, im Gespräch mit einem Kumpel.
»Schlounak, wie geht’s, Habibi?«, fragt er und umarmt mich herzlich.
»'ana bikhayr, alhamdulillah, mir geht es gut, wie läuft das Geschäft?« Sein Freund gibt mir die Hand, wir küssen uns flüchtig auf die Wange, dann verabschiedet er sich von uns und wünscht uns Eid Mubarak zum Opferfest. Der kleine Gangster erwidert den Wunsch fröhlich, ich verkneife mir einen aggressiven Kommentar.
»Was ist denn mit dir los?«, fragt der kleine Gangster. »Darf man dir nicht mal mehr ein frohes Fest wünschen, nur weil du nicht glaubst?«
»Ich habe kein Problem damit, wenn mir jemand frohe Weihnachten oder gesegneten Ramadan wünscht. Aber das Opferfest ist nicht mein Fest. Ich esse keine Tiere. Ich erinnere mich noch genau an das Schreien der Schafe und das Spritzen des Blutes, furchtbar.«
»Das verstehe ich sogar«, sagt er und lädt mich zu sich ein. »Ich habe Feierabend, kommst du mit zu mir?«
Wir steigen in den Bus und fahren auf die andere Hafenseite.
»Hast du gehört, dass der Spieler im Krankenhaus ist?«, frage ich.
»Ja, Scheiße. Man soll nicht so viel von den eigenen Waren naschen.«
»Arbeitest du noch in der Fabrik?«
»Nee, ich jobbe jetzt in einem Imbiss. Es ging echt nicht mehr. Ich musste immer um fünf Uhr aufstehen, um rechtzeitig da zu sein. Meine Mutter hat mich dafür jeden Morgen aus Syrien angerufen, damit ich nicht verschlafe.«
Der kleine Gangster ist ein geliebter Mensch. Seine Mutter wohnt in einer zerbombten Stadt, sorgt sich aber um ihren jüngsten Sohn, der ganz allein ist in der Fremde. Mit seinen legalen Jobs verdient er kaum seinen Lebensunterhalt, deshalb versucht er, sich parallel anderweitig Geld zu verschaffen, um seiner Mutter damit über die Runden zu helfen.
Ich weiß inzwischen, dass ich ohne meine Familie leben kann, und meine Familie überlebt auch ohne mich. Den meisten meiner Freunde geht es anders. Sie müssen ihren Eltern etwas beweisen. Oder ihnen einfach das Leben retten.